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2 Seiten

Nicht an morgen denken

Trauriges · Kurzgeschichten
Ihr Blick schweifte durch den so ungewöhnlich ordentlichen Raum. Sie überlegte, was sie vergessen haben könnte.

Schon vor einigen Wochen hatte sie begonnen sich auf den heutigen Tag vorzubereiten.
Sie hatte zu persönliche Dinge schon vernichtet oder an andere Orte gebracht.
Ihr Tagebuch lag aufgeschlagen auf dem kleinen Tisch neben dem Bett. Der letzte Eintrag war noch nicht vollendet. Man sah es, denn sie hatte mitten im Wort aufgehört zu schreiben, so wie sie auch mitten im Leben aufgehört hatte wirklich zu leben.

Sie fühlte sich seit einigen Monaten leer und ausgebrannt. Sie kannte das Gefühl von früher, doch in letzter Zeit war es immer häufiger und heftiger gewesen.
Niemand wusste davon, nicht mal ihre Psychotherapeutin, zu der sie wegen ihrer Prüfungsangst ging. Weder ihre Mutter, noch Freunde, noch sonst wer wusste davon.
Sie fuhr mit der Fingerkuppe über ihren linken Unterarm. Man konnte die zartrosa Linien kaum noch spüren, aber sie werden nie verschwinden. Die frische Wunde in der Armbeuge und eine Narbe am Handgelenk erinnerten sie daran, dass es nie aufhören würde.
Seit einigen Jahren schon griff sie bei Problemen zur Klinge.
Der Einzige, dem sie es jemals erzählt hatte, interessierte sich nicht für ihr Problem.
Er fand sie einfach nur seltsam und anstrengend, zumindest dachte sie so.

Aus einer rosa Schatulle auf ihrem Schreibtisch holte sie ein altes Skalpell hervor, wie sie es schon so oft getan hatte. Sie legte die Klinge an ihrem Schenkel an, drückte es tief in die Haut und sorgte mit einem kurzen, schnellen Zug für eine Art Rauschgefühl in ihrem mit Kummer gefüllten Kopf.
Es war ein Moment der Zufriedenheit und der Inneren Ruhe, wenn sie ihr eigenes Blut über die Haut strömen sah. Stolz war sie. Sie war stolz, sich zu spüren, zu merken, dass da noch ein Funke Leben in diesem Körper steckte.

Nachdem sie eine Weile ihr Werk betrachtet hatte, schob sie die Ärmel ihres Pullovers wieder zurück, nahm das schöne Briefpapier aus dem Schrank und fertigte noch den letzten Gruß an ihre Freunde.
Sechs. Sechs Mal dachte sie darüber nach, ob das alles richtig war. Sechs Mal konnte sie den Gedanken nicht ertragen wie derjenige, der ihn liest sich fühlen würde.
Sechs Mal verabschiedete sie sich für immer.

Sie legte die Briefe in ihre Erinnerungsbox. Postkarten, Urlaubsbilder, Partyfotos, Broschüren und viele Dinge die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben lagen darin.
Nun auch ihre letzten Worte und Gedanken.

Sie schaute auf die Uhr. Noch zirka zwei Stunden bis die Sonne untergehen würde.
Sie wollte noch einmal den roten Sonnenball mit dem Horizont verschmelzen sehen.
Was sollte sie nun noch tun?
Alles war erledigt. Wie oft war sie das im Kopf durchgegangen?
Monate lang hatte sie darüber nachgedacht, vor Trauer gelacht und vor Freude geweint. Nichts war normal.

Sie setzte sich an ihr Fenster und genoss die warmen Farben der Sonne, die hinter der Ruine versank. Die Katze saß schnurrend auf ihren Beinen. Sie waren feucht vom Blut.
Es hatte dieselbe Farbe, wie der glühende Horizont.
Vielleicht geht für sie auch nicht alles zu Ende, sondern beginnt neu. Niemand weiß das so genau. Überall würde es besser sein als hier. Dort würde sie frei sein, nicht eingeengt von Eltern, Freunden und Lehrern. Sie müsste sich nicht mehr dafür schämen, dass sie mit ihrem Versagen alle enttäuscht hatte. Sie könnte aufhörten mit ihrem autoaggressivem
Verhalten, ihrer sexuellen Ambivalenz und dem Betäuben ihrer Gefühle.
Die Schlaftabletten und der Whiskey ließen sie das Brennen in den Handgelenken kaum spüren und der Blick auf den blutroten Himmel wurde immer verschwommener, bis sie mit einem Lächeln auf dem Mund einschlief.

Nun war sie frei. Sie muss sich nun keine Gedanken mehr über morgen machen.
Die Sonne wird wieder erwachen. Sie nicht mehr.
 
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Kommentare  

Eine wirklich gut durchdachte Geschichte über Selbsttötung, Selbstverstümmelung und die Gefühle der Menschen dahinter.
Die Bilder sind klar und ruhig und ohne Hektik. Es gibt kein zurück. Sie bekommt keine Hilfe, sie will keine Hilfe. Ihr eigens erschaffenes Weltbild lässt keinen anderen Ausweg zu - und somit hat sie ihren persönlichen Frieden in der Welt gefunden.


Jingizu (16.03.2012)

Ich kann mich Francis Dille nur anschließen:
perfekter Schlusssatz.
Insgesamt eine schöne traurige Geschichte


Autumndreamer (12.03.2012)

Wirklich schaurig. Es ist schlimm, dass es immer wieder Menschen gibt, die keinen anderen Ausweg sehen. Du hast diese Problematik treffend beschrieben und sie sehr anschaulich gemacht. Vielen Dank dafür. Wir Menschen dürfen das nicht vergessen!

Andreas Tröbs (10.03.2012)

Eine tieftraurige short story super geschrieben.

Else08 (30.01.2012)

Die Sonne wird wieder erwachen. Sie nicht mehr.
Der perfekte Schlußsatz deiner Story.


Francis Dille (30.01.2012)

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