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Den Bus verpassen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Wenn man das Ticken der Uhr nicht mehr hört, bleibt dann auch die Zeit stehen?
Für mich ist die Zeit vor drei Monaten stehen geblieben.
Ich stieg aus dem Bus des Lebens aus, setzte mich an die Haltestelle und schaute den anderen beim weiterfahren zu.
Ich sitze immer noch an der Haltestelle, die in Wirklichkeit eine Nervenklinik ist und schaue dabei zu, wie der Bus mit meinen Freunden und Bekannten an mir vorbei fährt.
Als ich eingeliefert wurde war es draußen kalt und grau.
Es war kurz vor Weihnachten und die Welt um mich war dabei vor Vorfreude zu platzen. In den Kaufhäusern drangen Weihnachtslieder aus den Lautsprechern und die Menschen kauften kiloweise Geschenke und Plätzchen. Für mich war es allerdings keine Zeit der Freude. Wenn alle um einen herum das Fest der Liebe und Familie vorbereiten, merkt man selbst eigentlich wie einsam man wirklich ist.
Aber es gibt immer welche, denen es genauso geht. Also habe ich meinen kleinen Notvorrat Gras ein meine Tasche gepackt und bin los. Ich wusste nicht einmal wohin ich ging, als ich an diesem Tag meine Wohnung verließ. Ich ließ mich vom Treiben der Menschenmenge auf den Straßen mitreisen. Irgendwann setzte die Dämmerung ein. Ich setzte mich in den Park auf ein Klettergerüst und drehte mir einen Joint. Aus der Ferne bewegte sich eine dunkle Gestalt auf mich zu. Der gebückte trottende Gang verriet mir, dass es Moe sein musste. Ich schaute auf die Uhr. Ja, es war genau seine Zeit. Ich hatte gehofft, er würde heute kommen und tatsächlich, da war er. Wie üblich setzte er sich neben mich, nahm ohne ein Wort zusagen die Zigarette und zog daran. Beim ausatmen der blauen Ringe, atmete ich auch den ganzen Stress und Kummer der letzten Zeit aus. Wir saßen dort oft zusammen. Verabreden mussten wir uns nicht. Wir wussten, dass der andere auch kommen würde.
Wenn es uns gut ging, saßen wir da, redeten und lachten. Wenn es uns schlecht ging, bauten wir uns einen Johny. Wir waren keine Kiffer, nein, es half nur manchmal zu gut um die Welt für einen Moment zu vergessen. wir hatten beide unsere eigenen Probleme. Beim Übergeben des Joints, drehte er sich zu mir, schaute mir tief in die Augen und fragte „Was ist los mein kleines Äffchen?“. Ich hasste es, wenn er mich so nannte, aber in dem Moment war es mir egal. Ich erzählte ihm, dass ich mich so leer und alleine fühlte und am liebsten den ganzen Weihnachtstrubel vergessen würde. Und da entdeckte ich das Funkeln in seinen Augen, das immer zum Vorschein kam, wenn er einen Plan schmiedete. Er griff in die Tasche seiner Jeans, holte mehrere zerknautschte Geldscheine hervor, zählte sie und grinste mich an, wie ein Kind im Süßwarenladen.
„Äffchen“, verkündete er „heute Abend habe ich eine Überraschung für dich. Zieh dir dein schickstes Outfit an und ich hol dich um elf ab.“
Während ich mich fertigmachte und schminkte, überlegte ich, was es wohl für eine Überraschung war. Ich kenne Moe schon sehr lange, aber seine Ideen und Gedanken konnte ich nur selten nachvollziehen.
Als meine Türklingel schellte, schaute ich noch einmal kurz in den Spiegel, riss meine Jacke von der Garderobe und stand mit klopfendem Herzen vor Moe. „Na, mein Äffchen, bereit für die Nacht deines Lebens?“, flüsterte er mir in mein Ohr, während er mir in meine Jacke half.
Ich war zu allem bereit, was mich von meinem einsamen Leben zuhause ablenkte.
Wir gingen zur U-Bahn. Er sagte mir weder wohin wir fuhren, noch was wir dort machen würden. Während wir fuhren achtete ich kaum auf die Stationen. Ich versuchte nur Tränen zurück zuhalten. Gegenüber saß eine Frau mit Kind, die mich so sehr an meine Mutter erinnerte. Selbst jetzt kurz vor Weihnachten hatte sie sich nicht gemeldet. Sie reagierte nicht einmal auf die Karten und Briefe, die ich von zeit zu zeit in ihren Briefkasten warf. In ihrem neuen Leben war einfach kein Platz mehr für mich, aber ich habe ja Moe.
Moe zerrte an meinem Ärmel „Äffchen, wir müssen aussteigen.“
Als wir kurz darauf in den Club gingen, rückte er mit der Sprache raus. „Äffchen, heute Abend bekommst du von mir ein frühes Weihnachtsgeschenk….Hm, ne, das bringt Unglück…Sagen wir ein verspätetes Geburtstagsgeschenk. Ich hab mit einem alten Kumpel gesprochen und der hat uns ein ganz feines Päckchen zukommen lassen.“ Ich schluckte.
„Erstens nenn mich nicht immer Äffchen und zweitens hast du gesagt du hörst auf mit dem Scheiß.“, sagte ich leicht ärgerlich. Eigentlich war ich nicht wirklich böse, denn es war genau das was ich heute brauchte. Dennoch machte ich mir sorgen um Moe. Ich meine, ein paar bunte Pillen okay, eine Line, sag ich auch noch nichts dagegen, aber ich würde alles darum geben, wenn er die Finger endlich vom H. lassen würde. Wie oft stand etwas in der Zeitung von neuen Heroinopfern, die sich den goldenen Schuss gegeben haben?
„Heute ist es das letzte Mal. Das verspreche ich dir.“, entgegnete er mir.
Ich glaubte ihm nicht, aber wollte keine weitere Diskussionen, sondern einen unvergesslichen Abend. Er drückte mir ein Plastiktütchen in die Hand und einen Kuss auf die Stirn.
„Danke!“, sagte er und verschwand in der Menge.
Im Tütchen waren vier rosa Pillen mit Smilies drauf. Ich nahm eine und steckte den Rest in meine Jackentasche.
Nach einer halben Stunde spürte ich die Wirkung. Die Nacht gehörte mir und mein Herz klopfte zum Beat des DJs. Es war ein perfekter Rausch. Ich bekam noch genug mit um zu feiern, aber meine Sorgen waren vergessen.
„Goldener Schuss auf der Herrentoilette, Hauptstraße 12“, eine raue emotionslose Sanitäterstimme riss mich aus meinem exzessiven Tanzen. Ein Gefühl sagte mir, dass das nicht irgendwer war. Es war Moe. Moe, den ich seit Kindertagen kannte und der mein bester Freund war. Als sein lebloser Körper aus dem Club getragen wurde, wurde mir klar, dass er vorhin wirklich die Wahrheit gesagt hat. Er hat es zum letzten Mal getan.
Es war kurz nach zwölf. 24.Dezember. Heilig Abend.
Ich griff in meine Jackentasche, nahm das Tütchen, schmiss den Rest von Moes Geschenk in meinen Mund und schluckte sie herunter. Mir war es egal, was passieren würde. Ich wollte nur vergessen und meine Gedanken betäuben. Frohe Weihnachten.
Das nächste an das ich mich erinnern kann, war dieser trockene Schmerz in meiner Kehle.
Und an die Lichter, die in meine Augen schossen. Ich schlief wieder ein.
Eine Woche behielten sie mich im Krankenhaus. Dann wurde ich hierher gebracht.
Zu meiner eigenen Sicherheit hieß es. Ich durfte mich nicht mal von meinem Moe verabschieden.
Aber ich weiß ganz sicher, wenn ich hier raus darf, werde ich Moe besuchen gehen.
Ich lasse den Bus weiterfahren – ohne mich.
 
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Kommentare  

Dein Text beginnt unheimlich stark.
Buddhistisch philosophisch und mit grandiosen Metaphern gespickt.

Dann kommt die Rückblende im Mittelteil und der Text schwenkt wieder in die komplett dunkle und depressive Stimmung, die du sehr gut einzufangen vermagst. Der Satz: "Wir waren keine Kiffer [...] es half uns nur manchmal zu gut um die Welt zu vergessen." ist gut gewählt, denn er lässt früh durchblicken wie weltfremd die Charaktere bereits sind.
Geschminkt, bunte Pillen eingeworfen, abgetanz und dennoch liegt diese dicke, graue Matte der Schwermut beständig über dem Text.

Nun ja nach dem starken Anfang hatte ich mir einen ähnlich herausragenden Schluss erhofft, aber der bleibt dann auf einen einzigen Satz reduziert etwas dahinter zurück.

Sprachlich könnte hier und da noch einiges verbessert werden und auch der Aufbau des Textes ließ mich etwas Struktur vermissen.
Zu ordentlich um einen konstanten Medikamenten oder Drogentrip wiederzuspiegeln, aber auch zu chaotisch um ihm gut folgen zu können.

Ansonsten ist das hier wieder eine für dich typische Kurzgeschichte in sehr schwarzen Farben und ohne Lichtstrahl - weder am Anfang noch am Horizont erkennbar - die uns für einen kurzen Moment in eine hässlich zukunftslose Welt einläd, die direkt neben unserer liegt und doch meist unsichtbar bleibt.


Jingizu (21.03.2012)

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