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Die Mutter. Oder: Das schlechte Gewissen eines Dorfes

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Es brodelte schon seit Jahren und wir wussten es alle. Die Explosion war nur noch eine Frage der Zeit. Georg hatte den Kindern auf dem Schulweg aufgelauert und sich mit ihnen in der Mansarde verschanzt, die ihm das Sozialamt nach der Trennung von Anna zugewiesen hatte. Als wir mit dem Streifenwagen kamen, hatte er wahllos in die Gegend geschossen. Ich ließ die Straße absperren und scheuchte die Gaffer auf Distanz. Das Landespräsidium würde Scharfschützen und Psychologen schicken. Bis zu deren Eintreffen musste ich versuchen, den Mann hinzuhalten. Aber ich bin nur einfacher Dorfpolizist. Solche Dramen sind mir fremd.
„Georg! Lass‘ uns darüber reden!“ rief ich durch die Flüstertüte nach oben. Ich kannte Georg schon, da ging der noch in den Kindergarten und ich war schon Polizist.
"Es gibt nichts mehr zu reden!" schrie Georg zurück. "Von euch Bullen und Bürokraten hab' ich genug! Ihr habt mein Ultimatum!" Mit einer Hand hatte er den Hals des Mädchens umklammert, mit der anderen hielt er den Karabiner an Marions Schläfe. Dahinter stand der Junge mit weit aufgerissenen Augen. Sein Mund war mit Heftpflaster verklebt.
Wir hatten die Mutter von der Arbeitsstelle geholt. Anna war dreißig und die beste Freundin meiner Tochter. "Anna!" beschwor ich sie. "Er will, dass du zu ihm zurückkommst! Oder ihm die Kinder überlässt!"
Anna stammelte. "Ich kann nicht mehr! Er ändert sich nie!" Mund und Hände zitterten. Ihre Augen flatterten wie bei einer Irren.
"Denk' an die Kinder!" sagte ich.
"Die Kinder? Die wären besser tot, als bei ihm ...!"
"Anna! Was redest du da ...!?" Ich tat entsetzt.
"Was ich da rede?" Sie begann zu schluchzen. "Gerade die Polizei muss mich so etwas fragen!? Als ich euch früher um Hilfe angerufen habe, da hieß es, Streit zwischen Eheleuten geht die Polizei nichts an! Später habe ich am ganzen Körper geblutet, die Kleine hatte blaue Flecken, und ihr habt mich zum Jugendamt geschickt, statt Georg festzunehmen! Und das Jugendamt hat Akten verwaltet, statt einzugreifen! Das ganze Dorf weiß, was er mit Marion getrieben hat! Aber eure Scheiß-Behörden ...?! Nichts! Hier im Ort stecken alle unter einer Decke! Skatbrüder und Fußballfans, Säufer und Polizisten! Alles Heuchler!"
"Behörden können ohne gerichtliche Entscheidung nichts unternehmen..!" Ich ignorierte ihre Anklage und versuchte das Gespräch zu wenden.
"Und unterdessen säuft er weiter und prügelt uns zu Tode oder vergreift sich an Marion!" Annas Stimme überschlug sich. "Er hat es auf keiner Arbeitsstelle ausgehalten! Nichts war ihm gut genug! Er hat nur genommen! Nie gelernt, etwas zu geben oder Schwierigkeiten zu bewältigen! Ein verwöhntes Muttersöhnchen! Alles blieb an mir hängen! Bis ich nicht mehr konnte!" Sie schluchzte. Ihr Körper schüttelte sich.
Plötzlich ein Schuss!
Georg fuchtelte oben im Fensterrahmen mit dem Gewehr und schrie: "Anna! Wenn du in einer Minute nicht hier oben bist, gehen die Kinder hops! Ist das endlich klar?! Ich zähle ..., eins -, zwei ...!"
Totenstille!
Sogar die Dorfgaffer hielten den Atem ab.
Anna erstarrte und wurde bleich.
"... Zwölf, ...Dreizehn!"
Plötzlich rannte sie ohne Deckung auf das Haus zu.
"Bleib' hier ...!“ rief ich.
"Georg! Bitte warte! Ich komme zu dir zurück! Mit den Kindern! Es wird alles gut werden! Ich schwöre es! Hier vor allen Leuten!" Wie eine Irre war sie nach oben gehetzt.
Ich erkannte beide schemenhaft hinter dem Fenster. Anna hatte ihre Arme um ihren Mann geschlungen. Ich begann aufzuatmen.
In der nächsten Sekunde wurde die Stille von einem Schuss zerrissen. Mit gezogener Dienstwaffe rannte ich ins Haus. Georg lag tot am Boden. Anna stand daneben. In ihrer Hand das Gewehr. Neben ihr standen die Kinder und klammerten sich an sie. Unten bogen die Polizeiwagen aus der Kreisstadt mit Sirenen, Scharfschützen und Psychologin in die Straße ein.
Heute war dritter Verhandlungstag. Ich war als Zeuge geladen. Sachverständige haben ihr Gutachten abgegeben. Morgen ist Urteilsverkündung. Ich hoffe für Anna und die beiden Gören. Und auch ein bisschen wegen dem schlechten Gewissen, das uns im Ort befallen hat.
 
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Kommentare  

Hat mir gefallen, obwohl der Text mir ein wenig zu
"lapidar" war. Damit hat er für mich die Grenze vom
Schulterzucken zur Auseinandersetzung nicht
überschritten. Aber ich denke, das muss er auch
nicht. So bleibt er "alltäglich" ...


Robert Kühl (18.09.2013)

Ich bedanke mich bei
@ jingizu

nicht nur für seine/ihre kritischen und hilfreichen Anmerkungen, sondern auch für die Ausführlichkeit, mit der er/sie meine Geschichte gelesen und kommentiert und sich intensiv damit befasst hat.

Das mit dem Genitiv muss ich beschämt schlucken; auch das Klischee mit dem "rauchenden Gewehr" ist mehr als ein peinlicher Lapsus.

Allerdings finde ich schon, dass die Mutter dem Dorfpolizisten noch einmal alles vorwerfen und ihn an Vergangenes erinnern musste, denn es kann eine Betroffene gewaltig aufregen, wenn Polizei und Verwaltungsstellen offensichtliche Verbrechen (wie Kindesmissbrauch) über einen langen Zeitraum ignorieren und sich sogar noch dann hinter bürokratischen Regeln verschanzen, wenn die Gefahr für die Kinder offensichtlich ist. Dazu haben wir in letzter Zeit in Deutschland ja X-Beispiele.

Auch wenn Polizist und Dorf-Nachbarschaft die Scheiße der anderen kennen (und hinter vorgehaltener Hand darüber reden), so wird diese Scheiße doch offiziell ignoriert und untern Teppich gekehrt. Erst ein Vorfall wie Mord oder Entführung spült die Scheiße an die Oberfläche und entlarvt die Schweiger und Heuchler. Es ging mir nämlich auch um den Widerspruch zwischen "bekannter Aktenlage" einerseits und gesellschaftlicher Lebensrealität andererseits. Ob die Mutter den Bullen dann in der Aufregung duzt (oder nur generell von der "Polizei" spricht), oder ob ihre Worte gespreizt, hölzern, aufgesetzt oder autentisch wirken, darüber kann man diskutieren; wenigstens werde ich darüber nachdenken und ich danke dir für deine Nachdenklichkeit.


Michael Kuss (02.10.2012)

Die Geschichte ist... nicht schlecht. Ganz und gar nicht. Sie reiht sich in deine kleinen Begebenheiten von Nebenan still und leise ein, doch gibt es ein paar Kleinigkeiten, die mir hier aufstoßen, weil sie so gekünstelt in der sonst so sachlichen Darstellung sind. Insbesondere mein ich hier das Gespräch zwischen Anna und dem Dorfpolizisten.
Du vermeidest es im Vorfeld Fakten zur Tragödie zu nennen und lässt diese dann durch Anna aufklären, aber ihre Rede wirkt so aufgesetzt, so unnatürlich, als ob du da um jeden Preis Infos und Anklagen hineinstopfen wolltest, als ob die Geiselnahme an sich nicht Stoff genug hergibt jetzt müssen noch Gewalt in der Ehe, Kindesmisshandlung und Behördenversagen mit hinein. Die Geschichte hätte genausogut ohne diese ganzen Informationen funktioniert und dem Leser sogar noch grübeln lassen, was da wohl im Argen lag.
Außerdem... warum muss sie das dem Polizisten erklären? Er weiß das doch sicher schon alles aus den besagten Akten und dem Droftratsch.

Sie duzt ihn in ihrer Rede auch nicht, obwohl sie ja die beste Freundin seiner Tochter sein soll (also ich dutze die Elter meines besten Freundes noch dazu soll das Ganze ja auf dem Dorf spielen, wo normalerweise jeder die Scheiße des Nachbarsnachbarn auswendig kennt) und nennt ihn stattdessen "die Polizei" und auch alles Folgende ist so unspezifisch, so allgemein, dass man es nicht abnimmt, dass das die Rede einer aufgelösten Frau sein soll, die ihre Kinder bedroht sieht und mit Anschuldigungen um sich wirft.

"In ihrer Hand das rauchende Gewehr." Hier brichst du wieder mit deinen sachlichen Schilderungen zugunsten Lyrik, indem du "rauchende Colts" bzw. ein Gewehr hier bemühst. Eine Waffe raucht jedoch nicht nach dem Schuss. Erst recht nicht, wenn dazwischen noch so viel Zeit vergeht.

Das das was jetzt kommt nehm ich dir als erfahrenem Autor richtig übel ^^
"Und auch ein bisschen wegen dem schlechten Gewissen" - wegen DES schlechten GEWISSENS! Genitiv!

***********************

Das war jetzt n ganzer Haufen Gemecker, dabei find ich das Thema und die Umsetzung recht gut gelungen und auch der reservierte, wohl resignierte Polizeibeamte kurz vor der Pension hat einen gewissen Charme, der in der Geschichte leider nicht ganz zur Geltung kommt, da sie ja so wahnsinnig kurz und wohl auch alleinstehend ist.


Jingizu (02.10.2012)

@ Marco Polo:
Stimmt, du hast Recht: Vieles in dieser Geschichte ist nur "angedeutet", und das MIT ABSICHT. Mein Credo ist nämlich: Wir Autoren müssen nicht unbedingt den Lesern alles erklären, alles bis in die letzten Einzelheiten erläutern, nicht aus jeder Begebenheit einen Roman machen, nicht alles mit Blumen oder emotionsgeladenen Beschreibungen auszuschmücken; ich arbeite absichtlich mit "Andeutungen" (und Verknappungen), die aber - wenn man ein bisschen näher sich mit der Andeutung und deren Hintergrund befasst - einen weiten sozialen und/oder psychologischen und/oder gesellschaftlichen Komplex beinhalten. Es ist dann den Lesern überlassen, darüber nachzudenken und Zusammenhänge und Hintergründe zu erfassen. Es ist nicht an mir als Autor, den Lesern das Denken abzunehmen.

Auch der angedeutete Zynismus in den beiden letzten Sätzen zeigt nur die Hilflosigkeit und Widersprüchlichkeit, in der der Dorfpolizist steckt; denn einerseits ist er Vertreter einer ignoranten Bürokratie, andererseits weiß er genau, dass die Mutter mit ihren verbalen Anschuldigungen Recht hatte. (Aber auch das muss der Autor nicht unbedingt seinem Publikum erklären; - er könnte auch davon ausgehen, dass das Publikum solche Andeutungen und Verknappungen versteht).


Michael Kuss (02.10.2012)

Das ist natürlich alles eine Geschmacksfrage. Ich zum Beispiel finde diese Story geradezu brillant geschrieben. Eben wegen dieses sachlichen Stils. Das kommt bei mir vielmehr an, als wenn sich alles in Tränen aufgelöst hätte. Die Story kommt mit großer Gewalt und endet so abrupt, dass sie den Leser sprachlos zurück lässt. So ist man gezwungen darüber nachzudenken.

Marco Polo (02.10.2012)

Die Idee ist wirklich gut und die Geschichte auch nicht schlecht geschrieben aber um wirklich zu berühren oder das schlechte Gewissen des Dorfes nachvollziehen zu können, bleibt mir auch vieles einfach nur zu angedeutet und oberflächlich. Vorallem die letzten beiden Sätze klingen hier schon fast zynisch.

Daniel Freedom (02.10.2012)

@ darkwitch:
Liebe(r) darkwich, da wir wohl alle nicht nur zum Veröffentlichen hier bei Webstories sind, sondern auch um aus der Kritik der anderen Schreiberlinge zu lernen, gehöre auch ich zu den Lernwilligen, der kritische Kommentare sehr ernst nimmt und sich Gedanken darüber macht.

In diesem Fall stehe ich allerdings auf dem Standpunkt, dass es nicht meine Absicht war, ein "hochemotionales Drama" zu schreiben. Die Geschichte ist von Beginn an darauf angelegt, undramatisch und ohne Emotionen eine aufs Minimum verknappte Prosa zu schreiben, die ohne Blumen und ohne emotionale Girlanden auskommt. Dabei kommt es mir nicht darauf an, was ANDERE aus diesem Thema gemacht hätten, sondern es kommt mir einzig und alleine darauf an, bei meinem Stil zu bleiben und in diesem VERKNAPPTEN PROSA-STIL eine Begebnheit zu verarbeiten. Diesen Stil der "verknappten Prosa" wirst du auch in allen meinen anderen Arbeiten finden. Daran wird sich auch nichts ändern. Hätte ich ein "hochemotionales Drama" daraus machen wollen, so hätte ich auf epische oder emotionale Stilmittel und Ausschmückungen zurückgegriffen. Aber es bleibt natürlich jedem überlassen, ein solches Thema mit seinen eigenen Stilmitteln zu bearbeiten, zu erweitern, einen Roman oder ein episches Drama daraus zu machen. Mein Stilmittel ist die VERKNAPPTE PROSA!

Im Übrigen halte ich deinen Ausdruck "lieblos dahingeklatscht" für leichtsinnig und oberflächlich. Denn in meiner Geschichte wurde nichts "lieblos dahingeklatscht", sondern an jedem Wort, jedem Satz, jedem Satzzeichen und jeder Verknappung wurde gefeilt und getüftelt. Das mag zwar dem oberflächlichen Leser nicht auffallen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich meine Arbeiten nicht "lieblos hinklatsche", sondern lange und ersthaft daran arbeite.


Michael Kuss (02.10.2012)

Hmm.... ich bin nicht so begeistert.
Aus dem Stoff hätte man ein hochemotionales Drama machen können,aber bei dir wirkt er eher wie ein nüchterner, lieblos hingeklatschter Bericht.
Wenn das deine Absicht war, gut...aber ansonsten geht das auch besser.


darkwitch (02.10.2012)

Einfach spitze geschrieben. Packend bis zur letzten Zeile. Bin ganz begeistert.

doska (30.09.2012)

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