199


4 Seiten

Letzte Grenzüberschreitung. Kritische Betrachtung zum Tag der deutschen Einheit.

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Wie viele Jahre sind es bereits her? Zeit vergeht und Erinnerung verblasst! Diese Reise, diese Grenzüberschreitung mit ihren frühen Tendenzen, wenige Tage nach der Grenzöffnung.
Endlich war auch für uns Wessis die Grenze in Richtung Osten offen. Matthias musste wohl so um die Vierzig auf dem Buckel haben; sein Sohn war jetzt so alt wie Matthias damals, als wir Einundsechzig, ein paar Wochen vor dem Mauerbau, bei einem Ost-West-Fußballturnier noch miteinander gegeneinander spielten und dann war Sendepause; bis auf die Weihnachts- und Osterkarten und die Westpäckchen mit Bohnenkaffee für die armen Brüder und Schwestern im Osten und die Gewürze für die Schwarzschlachtung in der LPG, wofür sie mir Erzgebirg’sche Nussknacker oder Räuchermännchen schickten, die bei mir verstaubten.
Die Grenzstation sieht noch aus, wie sie seit achtundzwanzig Jahren ausschaut: Noch durchschneidet eine hohe Trennwand den Bahnsteig; hier die Züge in die DDR, drüben die nach Westen. Immer noch schnüffelnde Hunde und bewaffnete Grenzer. Was soll das alles noch? Wird hier Schmierentheater gespielt, weil man noch nicht weiß, wohin mit Kulissen und Akteuren?
Ich drücke die Nase an die vereisten Scheiben, neugierig, aufgeregt, in dem Bewusstsein, hier spielt sich Weltgeschichte ab, und dann doch mit dem widersprüchlichen Gedanken, es handele sich um einen normalen Grenzübertritt, wie ich ihn Jahre vorher x-mal an anderen Grenzen Europas erlebt hatte, als Europa noch nicht das Europa von heute war.
Türen werden zugeschlagen, andere aufgerissen. „Passkontrolle der DDR!“ Der alte Grenzer studiert meinen Pass: „Sie sind Bürger der BRD, aber Sie wohnen in London?!“ Die vielen Stempel in meinem Pass machen ihn noch skeptischer. „Was ist Zweck und Ziel Ihrer Reise in die DDR?“ Noch immer leiere ich den seit Jahren gängigen Spruch herunter: „Der Zweck ist privat und mein Reiseziel ist Westberlin!“ Fast habe ich Mitleid mit ihm; was kann er dafür, dass jetzt alles über ihm zusammenbricht, dass er sich an ein Ritual klammert, um nicht den letzten Halt zu verlieren?!
Ein sehr junger Grenzer mit Milchbubengesicht und wohl kaum mit der Ausbildung fertig, fragt interessiert „Sie leben in London!“ und fügt nach einer Weile hinzu „Was es alles gibt!“ Wohlwollend und neugierig schaut er mich an. Eine robuste, dralle Zöllnerin mit sächsischem Dialekt streift den Jungen mit missbilligendem Blick, aber der Tadel bleibt aus. Die Frau ahnt, wie Deutschland morgen aussehen wird.
Akribisch durchsucht sie mein Köfferchen. „Haben sie etwas zu verzollen? Führen Sie pornografische oder andere unzulässige Schriften mit?“ Ich frage „Was sind unzulässige Schriften?“ Statt einer Antwort drückt sie mir wortlos meinen letzten Stempel mit DDR-Hoheitszeichen in meinen Pass. Was wird die Frau in ein paar Monaten machen? Abgewickelt arbeitslos oder beim Staats- und Klassenfeind integriert und dann das vereinte Land an der polnischen oder tschechoslowakischen Grenze schützend?
„Leipzig Hauptbahnhof! Hier Leipzig Hauptbahnhof!“ Am Ende des Kopfbahnsteigs steht ein weiß gekleideter Mann und verkauft Bild-Zeitungen. „Genscher am Zwei-Plus-Vier-Verhandlungstisch“ ruft er. „Kommt bald die Einheit?“ Dieses weiß-rote Bildzeitungsmännchen auf dem Leipziger Hauptbahnhof ist eine Beleidigung, denke ich, das haben die Ossis nicht verdient, egal wie man über Sozialismus denkt, aber wieso gleich BILD als Alternative?
Im Bahnhofsrestaurant gibt es als Salatbeilage noch immer geriebenes Weiß- und Rotkraut in Essig und Öl zu den Klößen mit Sauerbraten.
„Fünfmarkachtunddreißig!“ sagt die Bedienung weder freundlich noch unfreundlich, einfach gleichgültig. Ich wundere mich über die Pfennigabrechnung sogar beim Kaffee und runde auf. Die Kellnerin steckt mein Westgeld wortlos ein; bei diesen Preisen kann man großzügig sein.
Am Tresen ein Mann um die Dreißig in einer Windjacke; er torkelt und gestikuliert „Wir war’n doch geene Verbrecher nich! Wir ham doch für die DDR gearbeetet! Für unser Land! Unn jetze? Nu sinn wer wie der letzte Arsch!“ Fragend schaut er mich mit glasigem Blick an. Was soll ich ihm antworten?
Im Bummelzug nach Annaberg zwei sehr junge Glatzköpfe in Springerstiefel und mit Bierflaschen. Wo kommen die denn schon her? Ist das West-Import oder gab’s die schon in der DDR? Ich bin ratlos mit stillem Entsetzen. Sie klopfen sich auf die Schulter, lachen laut, einer sagt „Kamerad! Jetzt geht‘s los!“ Der andere grölt „Deutschland einig Vaterland! Prost!“
Für Matthias’ Sohn habe ich ein einfaches Transistorradio als Geschenk. Er wird sich freuen, dachte ich. Aber achtlos und beleidigt legt er es in die Ecke und drückt demonstrativ und mit flimmerndem Blick auf seinen Gameboy, den ihm Matthias vom Begrüßungsgeld in Westberlin gekauft hatte.
„Es wird gesamtdeutsche Wahlen geben!“ sage ich zu Matthias, um nach den vielen Trennungsjahren das Gespräch in Gang zu bringen. Er antwortet grinsend: „Ich werde mich erst mal bei der CDU reinschmuggeln und mich dort als Kandidat aufstellen lassen! Unsere nationale Bewegung ist noch im Aufbau begriffen, aber in ein paar Jahren werden wir Tacheles reden! Die Tschechen warten schon darauf, wieder heim ins Reich zu kommen! Großdeutschland ist noch nicht gestorben!“ Er lacht zuversichtlich. Träume ich?
Noch am gleichen Abend fahre ich zurück in die Stadt die noch Karl-Marx-Stadt hieß und suche ein Hotel. An der Bar sitzen ein Holländer und ein Westdeutscher. Einer von ihnen ist Antiquitätenaufkäufer alter Bauernmöbel, der andere Versicherungsvertreter; beide wollen das Erzgebirge abgrasen. „Da ist was zu holen!“ sagt der Holländer und prostet dem Westdeutschen zu. „Die warten nur darauf, ihre alten Bauernmöbel gegen neue Ikea-Schränke einzutauschen!“ Er zeigt auf den Möbelkatalog.
Neben dem Hotel liegt eine Kneipe. Drinnen diskutierende Jugendliche. An der Wand eine DDR- und eine FDJ-Fahne und ein Plakat mit einer Karikatur. Sie zeigt Helmuth Kohl als Birne; darunter der Text: „Alles ein Irrtum! Kohl war gedopt!“
In einer anderen Kneipe tönt die Musikbox westdeutsche Schlager aus den Siebzigern. Die Frau hinterm Tresen sagt zu mir „Sie sind aus’m Westen!“ Ich nicke und sie sagt „Das sieht man gleich!“ Dann fügt sie mit einem abschätzenden Blick hinzu: „An der Kleidung! Das ist doch Qualität! So was gab‘s bei uns nicht!“
Ich bestelle eine Runde und die Frau sagt: „Die Einheit und die D-Mark müssen kommen! Sonst mach’ ich rüber!“ Nach einer Weile himmelt sie mich an: „Was es da alles zu kaufen gibt! Ich könnt mich verlaufen in so’nem Kaufhaus. Wollen’se mich nich mit rüber nehmen? So alleene trau ich mir nich…!“
Ich erzähle ihr von der anderen Frau, mit der ich am Nachmittag ins Gespräch gekommen war; sie hatte sogar die Einladung zu einer Tasse Kaffee abgelehnt, hatte mich mit den Worten abgefertigt: „Wer braucht denn diesen ganzen überflüssigen Kram, mit dem ihr Wessis uns jetzt die Augen zuschmieren wollt? Da wird einem ja ganz schwindelig! Außerdem werden wir’s uns bald sowieso nicht mehr leisten können, denn bald werden wir arbeitslos sein! Sie werden’s erleben!“
„Das war bestimmt die Olle von einem Parteibonzen!“ Abfällige Einschätzung der Frau hinter dem Tresen. „Die hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt! Aber ich würde meine Chance wahrnehmen…!“ Lächelnd legt sie eine Hand auf meinen Arm.
Später im Hotel liege ich wach. Nachdenklich und ohne die Frau aus der Kneipe. Viel erlebt an einem einzigen Tag, am Tag meiner letzten Grenzüberschreitung. Frühe Tendenzen in einem Land, das bald nicht mehr das gleiche sein wird…
*
Geschrieben kurz nach dem 01. Januar 1990, als sich die Grenze der DDR auch für Westdeutsche öffnete, die ab diesem Tag ohne Visum und formlos in die DDR reisen durften. Es war die Übergangszeit als Vorbereitung auf die gesamtdeutschen Wahlen, die dann zur deutschen Einheit führten und das Land und die Menschen veränderten.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Sehr gelungen. All diese Beobachtungen die du damals gemacht hast. Hautnah und eindringlich dargestellt. Ein schönes Stück Geschichte

doska (20.10.2012)

Auch hier habe ich wieder mehr das Gefühl einen Bericht zu lesen.

darkwitch (02.10.2012)

@Else08:
Danke für das Lob und die Idee mit dem Fernsehen, aber soweit war ich noch nicht. Doch immerhin hat der SPIEGEL unter seiner Rubrik Zeitzeugen meine Geschichte veröffentlicht. Wenn ich sie heute wieder lese, dann will ich garnicht glauben, dass es schon über 20 Jahre zurückliegt, zumal sich viele der Tendenzen erfüllt haben.


Michael Kuss (01.10.2012)

Hat mir wieder die Zeit vor Augen geführt als die Mauer fiel. Hervorragend geschrieben. Da braucht man keinen Fernseher. Bei dir hat man alles bildhaft vor Augen.

Else08 (01.10.2012)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Schneller - Höher - Weiter  
Hüftgelenkprothesen und andere medizinische Ungereimtheiten  
Frau Müller und die online-Inserate  
Seniorenschwoof und seine Folgen  
Gute Nachbarschaft  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De