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11 Seiten

Der Tannenbaum Mann

Spannendes · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Vor sehr langer Zeit gab es irgendwo in den Wäldern Englands ein kleines Dorf, welches jährlich ihr Weihnachtsfest gemeinsam feierte. Für die Bewohner war es selbstverständlich, dass sie eines Morgens aufwachten und plötzlich ein geschmückter Christbaum in seiner Pracht strahlend auf dem Marktplatz stand. Dann war endlich die Adventszeit gekommen und der Weihnachtsmarkt war eröffnet. Oftmals schneite es sogar pünktlich zur Weihnachtszeit, wenn die Dorfbewohner die Kirche besuchten, sich danach vor dem beleuchteten Tannenbaum versammelten und Lieder sangen. Nachdem sie sich gegenseitig ihre Weihnachtsgrüße aussprachen, verbrachten sie ihr Familienfest gemütlich im eigenen Haus vor dem Kaminfeuer. Unter der geschmückten Tanne lagen, wie jedes Jahr, die Geschenke, worauf die Kinder tagelang gefiebert hatten. Der verschneite Wald rundherum verlieh insbesondere zur Weihnachtszeit der Landschaft ein märchenhaftes Flair. Auf den Straßen des idyllisch gelegenen Dorfes herrschte daraufhin eine einzigartige Stille, genauso wie zur Mitternachtsstunde, wobei lediglich der herunterrieselnde Schnee sowie das entfernte Heulen der Wölfe zu hören waren.

Das kleine Dorf lag abseits von den Großstädten und diese konnten nur mit dem Pferd und Fuhrwagen erreicht werden, denn es benötigte einige Tage, um die Wälder und die weiten Ackerfelder zu durchqueren. Da nun aber Räuber und Halunken in den Wäldern hausten, wagten sich nur die Wagemutigen hinaus in die Stadt zu ziehen. Notwendig war dies allerdings gar nicht, weil es den Dorfbewohnern an nichts mangelte. Es gab eine Bäckerei, einen hiesigen Fleischer und der Hufschmied wohnte direkt gegenüber der alten Molkerei. Außerdem konnte vielerlei beim Großhändler James Welsh käuflich erworben werden, der als einziger Dorfbewohner den Kontakt zu anderen fremden Händlern aus den Großstädten pflegte.
Wie es die Jahre zuvor schon immer war, verkaufte auch dieses Jahr der siebzigjährige James Welsh auf dem Weihnachtsmarkt ausschließlich Tannenbäume. Der betagte Herr mit dem ergrauten Bart hinkte und stützte sich mithilfe eines Stockes. Dies resultierte aus einer lebensgefährlichen Verletzung, als ihn in seinen jungen Jahren einst ein Wolfsrudel attackiert hatte. Damals war Mister Welsh kräftig und tapfer genug gewesen, den blutrünstigen Bestien die Stirn zu bieten, wehrte sich und schlug das Rudel in die Flucht.

Mister Welsh war ein angesehener Mann und jeder Dorfbewohner begegnete ihm stets respektvoll. Der alte Herr galt seit der heldenhaften Geschichte mit den Wölfen als der mutigste Mann im Dorf, zudem vermochte er geschickt verhandeln zu können und sorgte stets für die Bedürfnisse der Leute. Er zog mit dem Pferdegespann und seinem treuen Gehilfen regelmäßig in die Stadt hinaus, kaufte zu günstigen Konditionen ein und verkaufte seine Artikel stets zu fairen Preisen. Überdies verfügte er über ein handwerkliches Geschick und verrichtete allerlei Reparaturen. Funktionierte also das Mühlrad nicht mehr oder brach die Achse eines Fuhrwagens, wandte man sich an Mister Welsh. Benötigte jemand gewisses Werkzeug oder gar einen handwerklichen Ratschlag, so ging er ebenso ausschließlich zu Mister Welsh. Aber vor seinem treuen Gehilfen Gordon fürchteten sich die Leute.
Gordon war ein beachtlicher Hüne, dessen Augen tief in den Höhlen lagen und ständig grimmig drein schauten. Hässlich war dieser Mann allemal. Sein bulliges, von Grübchen vernarbtes Gesicht, genauso auch seine breite Knollennase sahen ebenso scheußlich aus, wie seine unförmigen großen Zähne, die ständig aus seinem wulstigen Mund hervorschienen. Sein Anblick gruselte die Dorfbewohner, weshalb sie nie ein Wort mit ihm wechselten und ihn stets mieden, wenn er ihnen begegnete. Die Leute tuschelten hinter seinem Rücken und erzählten sich gegenseitig schaurige Geschichten über ihn und vermuteten, dass er möglicherweise stumm und geisteskrank, gar von Satan besessen wäre und nur Mister Welsh konnte ihn gefügig halten.

Jeder im Dorf nannte ihn nur den Tannenbaum Mann, weil er sich immer Tage vor Weihnachten von früh bis spät in die Nacht im Wald aufhielt und Tannen fällte, damit Mister Welsh die Christbäume auf dem Weihnachtsmarkt verkaufen konnte. Der meterhohe Christbaum auf dem Marktplatz wurde jedes Jahr von Mister Welsh gespendet, welchen der Tannenbaum-Mann nachts, wenn die Bewohner schliefen, mühselig aufrichtete und diesen danach mit gebastelten Sternen, Engeln, Weihnachtskugeln und Kerzen schmückte.
Was auch immer die Leute über ihn dachten, aber Mister Welsh war auf seinen unansehnlichen Gehilfen angewiesen. Ohne seine Arbeitskraft konnte er unmöglich Weihnachtsbäume verkaufen und wer sollte jährlich den großen Christbaum auf dem Marktplatz aufrichten? Dies tat Mister Welsh zuvor in seinen jungen Jahren, gewiss, aber nun war er alt geworden, seine Augen trübe und sein steifes Bein hinderte ihn ohnehin in manchen Lebenslagen. Der Tannenbaum Mann begleitete ihn, wohin er auch ging, und wenn Mister Welsh mit einem beladenen Fuhrwagen voller Kostbarkeiten wieder aus den Großstädten zog, den weiten Heimweg anging, genügte der Anblick des Tannenbaum Mannes völlig aus, dass jeder Ganove, der im Walde hauste, seine heimtückischen Absichten gründlich überdachte.

Pünktlich zur Vorweihnachtszeit schwebten wieder flauschige Schneeflocken vom Himmel herab und verwandelte das Dorf, von einem prächtigen Waldgebiet umgeben, in eine traumhafte Märchenlandschaft. Der Tannenbaum-Mann stampfte mit einer Axt in seiner Hand und einem Schlitten, groß wie ein Fuhrwagen, den er wie ein Ochse hinter sich herzog, durch kniehohe Schneemasse in die Richtung des Waldes. Als er gerade das letzte Haus passierte, entdeckte ihn der zwölfjährige Tim, als er zufällig aus dem Fenster schaute. Aufgeregt rief er nach seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Jennifer.
„Jenny, Jenny, Jenny, komm mal ganz schnell her! Da draußen ist der böse Tannenbaum Mann!“
Die kleine Schwester ließ sofort von ihrem gebastelten Stern ab und eilte zum Fenster hinüber.
„Iiiih, was ist der so hässlich“, kicherte Jennifer, wobei sie sich sogleich entsetzt die Hände vor ihren Augen hielt.
„Bah, wahrhaftig potthässlich ist der“, raunte Tim. „Schau ihn dir nur an, welch ein wahres Monster er ist, Jenny!“
Angewidert schüttelten sich die Kinder aber blickten sofort wieder fasziniert aus dem Fenster und waren wirklich heilfroh darüber, jetzt nicht gerade draußen auf der verschneiten Straße zu spielen. Plötzlich blieb der Tannenbaum Mann einfach stehen, drehte seinen bulligen Kopf zum Haus hinüber und starrte das Geschwisterpaar mit leicht geöffnetem Mund an. Daraufhin verging ihnen sofort das Lachen, stießen vor Schreck einen kurzen Schrei heraus und duckten sich gleichzeitig rasch runter.
„Ha-hast du seine scheußlich großen Zähne gesehen?“, flüsterte Jennifer mit zittriger Stimme.
Tim nickte hektisch, während beide sich ängstlich ansahen.
„Damit kann der sogar Menschen verspeisen, sagen sie im Dorf. Jenny, der frisst wirklich Leute! Der würde uns beide wie einen Schenkel einer Weihnachtsgans abnagen“, hauchte er flüsternd zurück.
Jennifer schluckte und starrte ihren Bruder entsetzt an. Ihre Gesichtsfarbe verblasste sich und sogleich forderte sie Tim Fingernägel kauend auf, nachzuschauen, ob der Tannenbaum Mann nun endlich wieder verschwunden sei. Als Tim zögernd vorsichtig seinen Kopf über die Fensterbank wagte und auf die Straße lugte, war von dem abscheulichen Hünen, bis auf die tiefen Furchen des Schlittenzuges und seinen unübersehbaren Fußabdrücken im Schnee, nichts mehr zu sehen. Daraufhin atmeten die Kinder erleichtert auf.

Spät am Abend, nach einem Gutenachtkuss von ihrer Mutter, brachte der Vater die Kinder ins Bett, erzählte noch eine Gutenachtgeschichte und zupfte ihnen die Bettdecke zurecht.
„Du, Vati“, meldete sich Jennifer mit besorgter Stimme zu Wort, „stimmt das, dass der Tannenbaum Mann Menschen frisst? Der hat doch solch grässliche Zähne.“
Schmunzelnd streichelte der Vater über ihren Kopf.
„Nein, gewiss nicht“, beruhigte er seine kleine Tochter. „Der Tannenbaum Mann hilft Mister Welsh nur bei der Arbeit. Hört doch, wie er immer noch die Tannen im Wald schlägt.“
Der Vater hielt seinen Zeigefinger ausgestreckt nach oben. Gespannt hielten sie inne und lauschten. Ein gleichmäßiges, entferntes Klopfen einer Axt pochte durch die Nacht.
Tock … tock … tock … tock …
Plötzlich übertönte ein heulender Ruf eines Wolfes das sachte Axthämmern, woraufhin augenblicklich sehnsüchtiges Jaulen eines ganzen Wolfsrudels, wie ein gespenstiger Chor folgte und die sternenklare Nachtstille zerriss. Wieder erhob der Vater seinen Zeigefinger, diesmal mahnend, und sprach behutsam auf die Kinder ein.
„Ihr dürft auf gar keinen Fall alleine in den Wald gehen, erst recht nicht, wenn es dunkel wird. Hört ihr? Nur der Tannenbaum Mann darf es, denn vor ihm ängstigen sich selbst die Wölfe.“
Der Vater zwinkerte Tim zu und gab ihm einen letzten Gutenachtkuss auf die Stirn. Er blickte noch einmal zu seiner kleinen Tochter hinüber. Sie hatte ihren Daumen längst in den Mund gesteckt und war friedlich eingeschlafen.

Wer noch spät in der Nacht wach blieb und aus dem Fenster blickte, konnte einen großen Mann beobachten, wie er mühselig und einsam einen voll beladenen Schlitten mit Tannenbäumen durch die menschenleeren, verschneiten Gassen zog.

Der nächste Tag, der Tag vor Heiligabend, war wundervoll. Klirrende Kälte. Die Sonne schien grell am strahlend blauen Himmel. Der Neuschnee hatte das Dorf abermals meterhoch zugedeckt und die Kinder bauten Schneemänner oder tummelten sich auf dem Weihnachtsmarkt. Tim aber hatte eine ganz besondere Idee. Etwas Geheimnisvolles, etwas, wovon niemand erfahren durfte.
„Jenny, soeben ist der Tannenbaum Mann wieder in den Wald gegangen. Komm, wir folgen ihm und beobachten ihn heimlich bei der Arbeit.“
Ein leichter Schauer überfiel Jennifer, als sie die Absicht ihres Bruders anhörte.
„Aber Vati hat`s doch verboten“, erwiderte sie und hoffte insgeheim, diesmal Tims Überredungskünsten widerstehen zu können. Wohl war ihr bei diesem Gedanken gewiss nicht, dass beide alleine nur mit dem Tannenbaum Mann im Wald sein würden.
„Nein, Vati hat lediglich gesagt, wie dürfen nicht alleine, wenn es dunkel wird, in den Wald gehen. Es ist weder dunkel noch wären wir alleine. Der Tannenbaum Mann ist ja zurzeit dort“, grinste Tim.
Er genoss es immer wieder, wenn er bemerkte, dass seine Schwester in Gewissenskonflikten geriet.
„Oder haste wieder Schiss, du kleine Schissi?“, provozierte Tim.
„Hab ich gar nicht, du Blödi, hab ich gar nicht!“ konterte Jennifer energisch mit gekniffenen Augen. „Selber Schissi, selber! Von mir aus, dann gehen wir halt eben in den Wald zum Tannenbaum Mann. Macht mir nämlich gar nix aus!“
Jennifer war schließlich insgeheim ebenso von dem Unheimlichen fasziniert, wir ihr Bruder und auch sie wäre sehr stolz, wenn sie ihren Freundinnen erzählen könnte, dass sie den Tannenbaum Mann mitten im Wald ganz nahe gesehen hätte. Tim grinste schelmisch, denn er durchschaute seine Schwester und ahnte ihre Angst sowie die Gewissensbisse, die sie offensichtlich quälten, weil sie letztendlich Vaters Anordnung ignorieren würden.

Je tiefer sie in den Wald hineindrangen, desto klarer vernahmen sie das Hämmern einer Axt. Erstaunt begutachteten sie die riesigen Fußabdrücke im Schnee, die gut und gerne doppelt so groß maßen wie ihre eigenen.
„Schau nur Jenny, da ist er, der gemeine Tannenbaum Mann. Sei jetzt bloß ganz leise, wer weiß, was der mit uns sonst anstellt“, flüsterte Tim seiner sichtlich nervösen Schwester zu, die daraufhin hektisch nickte. „Du erinnerst dich, der nagt ansonsten deine Knochen wie eine Weihnachtsgans ab!“
Vorsichtig schlichen sich die Kinder zwischen den Bäumen und Sträuchern an den Tannenbaum Mann heran. Fasziniert lugten sie hinter dem Gestrüpp hervor, wie er mit der Axt gerade angestrengt eine Tanne fällte. Plötzlich hielt der Tannenbaum Mann inne, drehte sich herum und erblickte die zwei Kinder hinter dem Geäst. Erschrocken, mit offenem Mund und erstarrtem Blick, schauten sie in sein Gesicht. Sie standen ihm so nahe, dass beide sein von Grübchen vernarbtes Gesicht genau erkennen konnten. Seine Augen, die tief in den Augenhöhlen lagen, schauten sie finster an, wobei sein Atemhauch zügig ausstieß.
Das Geschwisterpaar, erstarrt vom Schreck, erwiderte nur einen kurzen Moment seinen Blick, bevor sie kurz entschlossen schreiend türmten. Sofort rannten Jennifer und Tim panisch zurück und eilten ihren eigenen Fußspuren nach. Immer wieder drehten Jennifer und Tim, währendem sie rannten, sich panisch um. Eilt ihnen der Tannenbaum Mann etwa keuchend hinterher? Griffen seine Monsterpranken bereits nach ihren Schultern? Doch ihre Angst war unbegründet, denn hinter ihnen war niemand zu sehen.
Endlich, als sie den Waldesrand erreichten und die rauchenden Schornsteine der Häuser erblickten, erst als sie begriffen, der Tannenbaum Mann jagt nicht hinter ihnen her, lachten sie erleichtert auf und freuten sich ungemein, ihren Freunden stolz berichten zu können, dass sie den Tannenbaum Mann im Wald ganz nahe gesehen hatten.

Genauso wie all die Jahre zuvor wurde auch diesmal der Weihnachtsbaum am Tag vor Heiligabend ausgesucht und gekauft. Tim und Jennifer durften mit ihren Eltern wieder über den Weihnachtsmarkt schlendern und einen Tannenbaum aussuchen. Der Duft von gebrannten Mandeln sowie der des Glühweins lagen in der Luft und der Weihnachtsbaum leuchtete in seiner ganzen Pracht. Neben dem Weihnachtsstand von Mister Welsh waren alle Tannenbäume aufgestellt und schnell hatten sich die Kinder für eine eins siebzig Meter hohe Tanne entschieden.
„Das ist aber wirklich ein ausgesprochener schöner Baum, den ihr euch ausgesucht habt“, lächelte der alte Mister Welsh und stupste beiden Kindern mit dem Finger auf die Nase.
„Gordon, schnür bitte diese Tanne für die Millers zusammen.“
Plötzlich trat der Tannenbaum Mann hervor. Tim und Jennifer weiteten erschrocken ihre Augen und starrten zu ihm hinauf. Nun stand er leibhaftig vor ihnen. Der Riese erschien ihnen gar etwas größer als zuvor.
Zusammengenähte Kartoffelsäcke schützten seinen kräftigen Körper und an seinen Handgelenken hafteten genietete Lederarmbänder. Beim Anblick des Goliaths wurde selbst den Eltern etwas mulmig zumute. Diskret traten sie einen Schritt zurück, als der Tannenbaum Mann an ihnen vorbei stampfte, mit seinen großen Pranken die Tanne packte und den Baum zusammenschnürte. Während die Millers sich mit Mister Welsh unterhielten, stieß Jennifer ihren Bruder leicht an.
„Hoffentlich verpetzt uns der Tannenbaum Mann nicht, weil wir doch alleine im Wald waren“, flüsterte sie ihrem Bruder ins Ohr.
„Keine Sorge, Jenny. Der kann doch gar nicht reden. Der ist doch stumm, sagen alle Leute“, antwortete Tim wispernd.
Die Kinder atmeten erleichtert auf, als der Tannenbaum Mann wieder wortlos verschwand und sie mit ihren Eltern den Weihnachtsmarkt verließen.

Die Vorfreude auf die Bescherung war für Tim und Jennifer schon bereits am Morgen des Heiligabends beinahe unerträglich. Ihre Eltern schickten sie nach draußen, zum Spielen, damit sie in aller Ruhe den Baum schmücken und die Geschenke einpacken konnten.
„Wie gemein“, moserten Tim und Jennifer. „Bis heut Abend ist es noch so lange hin. Was sollen wir denn die ganze Zeit tun?“
„Wir rufen euch, wenn das Christkind kommt“, versprach die Mutter, womit den Kindern aber keineswegs geholfen war.
Vor Langweile und Vorfreude geplagt schlenderten sie dem Wald entgegen und obwohl der Schneefall stärker und es langsam düster wurde, wagten sie sich noch einmal in den Wald hinein in der Hoffnung, den Tannenbaum Mann abermals heimlich bei der Arbeit beobachten zu können. Sie hatten ihn schließlich auf dem Weihnachtsmarkt getroffen und herausgefunden, dass er zwar gruselig ist aber scheinbar tatsächlich stumm und beide nicht verraten kann. Diesmal nahmen sie sich vor, den Tannenbaum Mann etwas zu ärgern und ihn mit Schneebällen zu bombardieren.
Der Neuschnee knirschte bei jedem Schritt und die Sicht wurde minütlich, aufgrund des aufkommenden Nebels, schlechter. Tim und Jennifer aber rätselten angeregt weiter, was ihnen das Christkind wohl bescheren würde und dabei bemerkten sie nicht, dass mitten im Wald gar kein Klopfen einer Axt zu hören war.

Plötzlich stand weit vor ihnen ein Wolf. Regungslos. Beider erstarrten. Ach du Schreck. Die Kinder drehten kurzerhand um und folgten behutsam ihren Fußspuren im Schnee.
„Vati hat einmal gesagt, man darf nur nicht rennen, dann tut der auch nix“, versuchte Tim seine Schwester zu beruhigen, weil bereits vor Angst die ersten Tränen über ihre Wangen rollten. Immer wieder blickten die Kinder ängstlich über ihre Schultern und stellten fest, dass der Wolf sie geduldig verfolgte. Seine scharfen Wolfsaugen fixierten das Geschwisterpaar und je zügiger die Kinder durch den knöchelhohen Schnee marschierten, desto näher wagte sich das Tier an seine Beute heran.
Der milchige Nebel beeinträchtigte erheblich ihre Sicht, als plötzlich weitere Wölfe, wie unheimliche Geister auftauchten, neben ihnen beharrlich Schritt hielten und sich ihnen bedrohlich näherten.
Tim fasste seinen Mut am Schopfe, blieb manchmal stehen, stampfte mit dem Fuß fest auf den Boden auf und schrie dem Rudel energisch entgegen, sodass sie kurzzeitig zurückwichen. Aber diese kluge Taktik verlor schon sehr bald seine Wirkung, denn die Wölfe behielten ihre Stellung hartnäckig bei und zwangen die Kinder von ihrem Weg abzukommen.
Anstatt nun aus dem Wald zu flüchten, gerieten sie immer tiefer hinein und als die Kinder von den Raubtieren schließlich umzingelt wurden, packte Tim seine Schwester, half ihr auf einen Baum hinauf und kletterte eilig hinterher. Zähnefletschend, die Nackenhaare hochgestellt, sprangen die Wölfe am Baumstamm hinauf und schnappten gierig nach ihnen. Der Hunger trieb die Wölfe dazu, dass sie sich sogar gegenseitig um die Herrschaft des vorteilhaftesten Sprungplatzes balgten. In ihrer Todesangst schrien Tim und Jennifer weinend um Hilfe, doch der dichte Nebel verschluckte ihre Rufe.

Unterdessen sorgten sich ihre Eltern. Tim und Jennifer waren nirgends aufzufinden und hätten längst zu Hause erscheinen sollen. Sie befragten die Nachbarn und suchten verzweifelt auf dem Weihnachtsmarkt nach ihnen, doch es war vergebens. Beinahe jeder Dorfbewohner hatte sich auf dem Marktplatz versammelt; die heilige Messe stand bevor und der Pfarrer öffnete bereits das Kirchentor. Die Leute gerieten in Aufruhr und beschlossen, nicht eher mit der Weihnachtsmesse und dem darauffolgenden traditionellen Singen vor dem Weihnachtsbaum zu beginnen, bevor die vermissten Geschwister wieder wohlauf aufgetaucht waren.
Rasch geriet der Tannenbaum Mann unter Verdacht, dass er mit dem Verschwinden der Kinder etwas zu tun haben müsse. Die Bewohner marschierten daraufhin mit Fackeln in ihren Händen zum Haus von Mister Welsh und forderten ihn lautstark auf, den Tannenbaum Mann ihnen augenblicklich auszuhändigen.
Humpelnd stellte er sich vor die Menschenmenge und hatte seine Last, die aufgebrachten Leute zu beruhigen, denn er konnte ihnen nicht erklären, wo sich sein Arbeiter gerade aufhielt, aber versicherte, dass Gordon ganz bestimmt nichts mit dem Verschwinden der beiden Kinder etwas zu tun hätte. Mister Welsh schnappte sich kurzerhand ebenfalls eine Fackel und führte die Dorfgemeinde an.
„Mir nach, Leute! Bestimmt haben sich die Kinder im Wald verlaufen. Wir bilden Gruppen und durchforsten das Gebiet. Bleibt alle zusammen, wegen den Wölfen!“, mahnte Mister Welsh.

Jedes Mal, wenn eines dieser Biester auf den Baum zu rannte, hoch sprang und mit dem Maul nach Tim und Jennifer schnappte, die auf einem stabilen Ast hockten, zuckten die Kinder kreischend zusammen. Als ein weiterer Wolf sein Glück versuchte und gerade zum Sprung ansetzte, traf das Tier plötzlich etwas Hartes und ließ es jaulend zu Boden stürzen.
Der Tannenbaum Mann hielt mit beiden Händen einen großen Ast fest, wie ein Schwert, und drehte sich damit langsam im Kreis herum. Die Wölfe hatten ihn umzingelt, knurrten zähnefletschend und bellten bedrohlich.
Einer der Wölfe fasste den Mut, attackierte ihn blitzschnell von hinten und verbiss sich in sein Bein. Daraufhin packte er das Tier am Genick, drückte mit aller Kraft zu, bis es abließ und schleuderte das Biest gegen den Baumstamm. Als auch dieser Wolf winselnd die Flucht ergriff, verschwand mit ihm das gesamte Rudel in die Dunkelheit.
Entsetzt, aber dennoch erleichtert, schauten Tim und Jennifer hinunter. Der schneebedeckte Waldboden leuchtete sanft und spendete genügend Licht, sodass die Geschwister sehr wohl erkannten, wer ihnen gerade ihr Leben gerettet hatte. Der Tannenbaum Mann breitete seine Arme und sprach etwas undeutlich mit tiefer Stimme: „Na los Kinder, springt schon herunter. Ich werde euch auffangen.“

Der Tannenbaum Mann fasste beide an den Händen und eilte mit ihnen seinen eigenen Schneespuren zurück, die sich deutlich in der hellen Masse abzeichneten. Er erklärte dem Geschwisterpaar, dass sie sich beeilen müssten, weil die Wölfe sich zwar schnell verscheuchen ließen, aber da sie um diese Jahreszeit stets hungrig wären, würden sie sehr bald wieder kommen und unbarmherzig die Verfolgung aufnehmen.
Als sie endlich den ersehnten Waldrand erreichten, war auch der Nebel verschwunden und der helle Vollmond ließ den weißen Schnee regelrecht aufleuchten. Hoch oben am Himmelszelt glitzerten abertausende Sterne.
Tim und Jennifers Angst vor dem Tannenbaum Mann war nun endgültig entschwunden. Zwar sprach der unansehnliche Riese etwas undeutlich, dennoch war er keineswegs stumm und vom Teufel besessen, so wie es die Leute behaupteten. Er war nett, sogar lustig und minütlich verwandelte sich in ihren Augen sein grässliches Wesen in jemanden, in dessen Armen man sich gerne schmiegen mochte. Er erzählte den Geschwistern, weil er seine Axt im Wald vergaß, ging er noch einmal zurück und entdeckte dabei ihre frischen Fußspuren im Schnee und die der Wölfe. Da wurde ihm sofort bewusst, welche Gefahr ihnen drohte. Der Tannenbaum Mann kniete zu ihnen runter, hob seinen Finger und verlangte eine Gegenleistung von ihnen, ein Versprechen, dass sie sich niemals wieder alleine in den Wald wagen sollten. Nachdem Tim und Jennifer es mit einem Indianerschwur besiegelten, durften sie abwechselnd auf seiner Schulter reiten, wobei er in kniehoher Schneemasse zum Dorf entgegen stampfte. Vom Weiten sahen sie plötzlich die Lichter unzähliger Fackelscheine langsam auf sie zukommen.

Die Eltern kämpften mit ihren Tränen und alle Bewohner empfanden Hass und Angst, Angst, der Tannenbaum Mann hätte den Kindern etwas angetan. Mister Welsh ging humpelnd voran und plötzlich hob er seine Hand und forderte die Leute auf, einen Moment still zu sein. Gespannt lauschten alle in die Nacht hinein und tatsächlich, es waren eindeutig Stimmen und kindliches Lachen zu hören. Mister Welsh hielt seine Fackel in die Dunkelheit und forderte die Gemeinde mit einem Wink auf, ihm zu folgen. Wenige Schritte weiter, zeichneten sich die Silhouetten zweier kindlichen Gestallten ab, die johlend einen großen Mann mit Schneebällen bombardierten.
Mister und Misses Miller rannten ihnen entgegen und umarmten überglücklich ihre Kinder. Zum Glück war ihnen doch kein Unheil zugestoßen.

Tim und Jennifer erzählten abwechselnd hastig von ihrem Abenteuer und berichteten, dass der Tannenbaum Mann ihnen das Leben gerettet hatte und er eigentlich gar nicht böse wäre, so wie es alle behaupten. Nun konnten endlich vor dem großen Weihnachtsbaum, wie jedes Jahr, Lieder gesungen werden und die herzlichsten Weihnachtsgrüße galten diesmal nun dem Tannenbaum Mann, der zum allerersten Mal bei diesem Fest anwesend war.
Die Kirchenglocken ertönten, diesmal sogar länger als all die Jahre zuvor. Schneeflocken benetzten das Haar des Tannenbaum Mannes, der von allen Dorfbewohnern umzingelt und für seine Tat gelobt wurde. Seit diesem denkwürdigen Heiligabend wurde der Tannenbaum Mann als ein gleichwertiger Mensch angesehen. Nie wieder hießen ihn die Leute den Tannenbaum Mann, sondern grüßten ihn mit seinem Namen Gordon. Gordon war von nun ab ein gern gesehener Mann im Dorf, niemand wollte ihn mehr meiden, wenn er einem begegnete und wurde jedes Jahr von der Familie Miller zur Weihnacht in ihr Haus eingeladen. Und falls er einmal nicht im Dorf anzutreffen war, weil er wiedermal bis spät in die Nacht die Tannen fällte, besuchten ihn die Frauen und Kinder stets mit einem Korb leckeren Frühstücks, damit er nicht einsam war und hungrig im Wald arbeiten musste.


ENDE
 
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Kommentare  

Sehr schön, hat auch mich begeistert. Wie ein kleiner Film ist alles vor meinem Auge abgelaufen.

Marco Polo (17.12.2012)

Bezaubernde Weihnachtsgeschichte. Musste direkt ein Tränchen schniefen.

Else08 (16.12.2012)

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