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10 Seiten

Die Ballade von Pretty Ramon - (3) Die Behüter

Romane/Serien · Schauriges
(Das dritte Kapitel der Web-Story um den Monsterjäger aus dem Jahr 2060. Mini-Kapitel erscheinen auf http://cyberzombiesattack.blogspot.de/ bis sie dann zusammengefasst auch hier veröffentlicht werden.)

Im zweiten, dem obersten Stockwerk erwartete ihn der Tod. Der Flur, der sich nach links und rechts erstreckte, war denen in den unteren beiden Stockwerken ähnlich, aber dieses Mal war er gefüllt mit Leichnamen und viel zu oft auch mit nicht näher zu den einzelnen Kadavern zurechenbaren Gliedmaßen. Der Geruch von geronnenem Blut durchsetzt mit einem Hauch von Fäulnis schwängerte die Luft. Niemand, nichts bewegte sich. Wenig Weiß schien von den Tapeten. Rot, Braun und Grau überdeckten den Großteil der Wände. Ein ähnlich gefärbter Brei füllte den Raum zwischen den Körperteilen auf dem Boden.
Ramon spuckte aus.


Er war lange genug in seinem Geschäft unterwegs, um zu wissen, was das sich ihm bietende Bild bedeutete. Entgegen der in Filmen vermittelten Anschauung waren Zombies keine Feinschmecker. Es stimmte, dass sie frisches Fleisch bevorzugten. Aber sie schreckten nicht vor verwesender Nahrung zurück, wenn sich nichts beziehungsweise niemand fand, der noch zuckte und langsam genug war, um von ihnen erwischt zu werden. Überhaupt hielt Ramon die meisten Genrefilme für gefährlich, weil sie viel zu viele Halbwahrheiten vermittelten und oft genug einfach falsch lagen. Zwei der größten Irrtümer, nämlich dass Untote eine Vorliebe für Gehirne hatten und Wasser eine Barriere für sie darstellte, waren erst ein halbes Jahr zuvor erneut widerlegt worden, als ein gutes Dutzend Zombies aus dem Meer an den Strand einer kleinen Insel bei Neuseeland gekrochen war und die dort ein Trainingslager abhaltenden Mitglieder der Eisernes Reich Jugend verspeisten. Damit hatten sie im Übrigen auch den Glauben widerlegt, dass Zombies niemals gute Presse erhalten könnten.
Der Umstand, dass es in den unteren beiden Stockwerken von Untoten wimmelte, sich aber kein wandelnder Leichnam an dem reich gedeckten Tisch in diesem Stock gütlich tat, verriet Ramon, dass es hier etwas gab, das die Zombies verschreckte. Ramon wusste, dass es einiges brauchte, um dies zu erreichen. Allerdings brauchte es auch einiges, um überhaupt erst für eine Untotenplage zu sorgen.
Er lud die beiden automatischen Pistolen nach, entsicherte sie und steckte sie zurück in die an seinem Gürtel befestigten Halfter. Dann griff er nach der über seiner rechten Schulter hängenden Adidas-Tasche und platzierte sie auf dem zugeschleimten Boden vor sich. Er öffnete den Reißverschluss und griff nach einer Pistole, die von ihrer Machart her am ehesten mit einer kurz geratenen Schrotflinte zu vergleichen war. Sie kam aus dem Hause Remington, erlaubte einen Mix aus ungewöhnlicher Munition und hieß „Die Rache Gottes“. Die geladene Munition bestand aus dünnwandigen Kapseln, in denen sich winzige, an allen Enden zugefeilte Kruzifixe befanden.
Ramon streichelte die Waffe und lud sie durch. Dann brüllte er: „Also, ich bin bereit. Sag Bescheid, wenn du fertig bist mit Verstecken.“
Die Antwort bestand aus einem Beben der Herberge.
Die Erschütterung ließ Ramon zurücktorkeln. Er schaffte es, genügend Gewicht auf die rechte Seite zu verlagern, und vermied es so, die Treppe hinab zu fallen. Stattdessen rammte er mit seiner Schulter gegen die blutverschmierte Wand. Er spuckte erneute aus und ließ seinen Blick dann durch den Korridor wandern. Immer noch war keine Spur von der großen, unnatürlichen Präsenz, die er erwartete, zu sehen. Dann barst eine der Türen zu seiner linken und das Böse trat auf den Flur.

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Timothy stand am Bahnsteig. Sein Zug rollte gerade ein, Es war nicht viel los um diese Zeit. Einige genervt aussehende Leute in Anzügen eilten durch den Bahnhof und verglichenen die angeschlagenen Abfahrtspläne mit den Informationen auf ihren Handys. Eine junge Frau mit altem Gesicht schlurfte vorbei und bettelte in einer Art Singsang um Sky-Rider oder ähnliche Stimulanzien. Er sah der Frau nach, blickte dann zur anderen Seite, wo ein paar in Lederjacken gekleidete Jugendliche einen es sich auf einer Bank gemütlich gemacht habenden Obdachlosen umringten. Die Jugendlichen sahen gelangweilt aus, so als ob sie nur ihren Job machen mussten. Ein Polizist, dessen Gesicht hinter einem Hartplastikvisier verborgen war, beobachtete die Szene, hielt es aber nicht für nötig einzugreifen. Eine Frau, deren Haare unter einem schwarzen Kopftuch versteckt waren, sprach zu ihren müde wirkenden Kindern. Der Zug hielt. Timothy stieg ein.

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Das Böse vermied es zunächst seine wahre Gestalt zu zeigen. Schwarze, wabernde Nebelschwaden krochen in den Korridor. An verschiedenen Stellen tauchten immer wieder gelb glänzende Augen auf, die den Monsterjäger spöttisch anblitzten. „Sterblicher“, ertönte eine Stimme, die aus dem tiefsten aller Gräber zu kommen schien. Aber Ramon hatte bereits eine Hand erhoben.
„Lass den Mist einfach, okay? Ich hab Van Hellsing auch gesehen. Dein Alucard-Auftritt beeindruckt niemanden hier.“
Der schwarze Nebel ballte sich zusammen. Eine wirkliche Gestalt war noch nicht zu erkennen, aber annähernd körperliche Tentakel schälten sich aus der wabernden Wolke und robbten Ramon entgegen. „Du stirbst“, erklang die Stimme jetzt von allen Seiten. Wieder erschütterte ein Beben das Gebäude. Schmale Risse zeigten sich im Boden der Etage. Die Tentakel hatten den Monsterjäger fast erreicht.
Ramon lachte: „Das ist die mieseste Show überhaupt. Ehrlich Mann, zeig ein bisschen Kreativität.“
Die Worte zeigten Wirkung. Sowohl die Nebelwolke als auch die aus ihr heraus gekrochenen Tentakel verschwanden. An ihrer Stelle stand nun etwas, dass den Monsterjäger schlucken ließ.

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Pater Flaherty küsste die letzte Patrone und legte sie in den Kasten zu den anderen Kugeln. Seine Lippen formten unhörbare Worte, während er ein Kreuz schlug. Dann wandte er sich an den hinter ihm wartenden Mexikaner.
„Ich habe dich noch nicht gefragt, ob du weißt, worauf du Jagd machst, Ramon.“
Der Angesprochene fuhr mit der rechten Hand durch sein Haar. „Ich jage Abschaum, den die Hölle auf unsere Welt gespuckt hat.“

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Der gekreuzigte Dämon funkelte den Monsterjäger an. „Du weißt jetzt fast alles über diese verschissene Herberge. Aber eines weißt du nicht.“
Ramon zog an seiner Zigarette: „Und das wäre?“

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Flaherty setzte den Deckel auf den hölzernen Kasten, nahm ihn und drehte sich um. Die Schatulle an den Mexikaner reichend sagte er: „Nicht alle Dämonen kommen aus der Hölle. Einige werden auf unserer Welt geboren.“
Ramon nahm den Kasten entgegen und verstaute ihn in seiner Sporttasche. „Wie kann das sein?“ fragte er.

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Der Dämon lächelte: „Egal, was du tust. Egal, ob du den ganzen Laden säuberst und sogar die Behüter erledigst, du hast bereits verloren.“

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„Nun“, der Pater kratzte sich an der Nase, „es braucht nicht Satan um diese Kreaturen entstehen zu lassen. Alles, was nötig ist, ist Schmerz oder Hass. Eine große Menge an Schmerz oder Hass. In der Hölle ist beides in Unmengen vorhanden, weswegen der Großteil der Dämonen tatsächlich aus den flammenden Untiefen stammt. Aber auch in unserer Welt leiden Menschen.“

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Ramon kniff die Augen zusammen. „Was meinst du damit?“
Der gekreuzigte Teufel lachte leise. „All die Jugendlichen, sogar die Behüter, sie bedeuten einen Scheiß. Die Seele, um die es meinem Herrn ging, wird zur Hölle fahren. Und du kannst nichts dagegen tun.“

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„Die Qual von Müttern, deren Söhne im Krieg ums Leben gekommen sind, der Hass der Asyl suchenden, die aus wohlhabenden Ländern ausgestoßen wurden, um in ihrer ursprünglichen Heimat den Hungertod zu sterben… Es gibt viele Beispiele für Dämonen, die durch Menschen erschaffen worden sind.“

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„Ich will dir die Geschichte erzählen, die hinter der amüsanten Entwicklung des Heims für die wandernde Jugend steckt.“

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Ramon riss seine Waffe nach vorn. Es war logisch auf den Kopf der Kreatur, die jetzt auf ihn zuging, zu zielen. Aber es war schwierig sich für einen der drei zu entscheiden. Außerdem jagte ihm der Bauch der Kreatur Angst ein. Ein Gesicht war zu sehen, das von einer dünnen aber scheinbar reißfesten Hautschicht bedeckt war. Die Haut spannte, da das Gesicht danach drängte, die es einzwängende Barriere zu durchbrechen.

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O’Reilly schnäuzte sich. Der Dämon ignorierte ihn und hielt weiter den Monsterjäger im Blick. „Vor anderthalb Monaten starb Thomas Keynes. Seine Kinder starben etwas früher.“

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Die Haut des Dämons wies eine Farbe irgendwo zwischen Rosa und Weiß auf. Blaue, dicke Adern zogen sich über einen aufgedunsenen Rumpf. Die Beine und Arme der Kreatur waren dürr. Die Form der Knochen zeichnete sich dort deutlich unter der Haut ab. Abgesehen von den Gliedmaßen aber war das Wesen gigantisch. Fettgeschwülste baumelten von der Hüfte herab. Die Brust erinnerte an zwei mit Butter eingeschmierte Mehlsäcke. Obwohl die Kreatur nackt war, gab es keine Möglichkeit, das Geschlecht zu bestimmen. Der darüber Auskunft gebende Körperteil war vollständig durch den bis zu den Knien hängenden Bauch verdeckt. Zwei der drei aus dem breiten Hals gewachsenen Köpfe wiesen männliche Züge auf. Nur der mittlere Kopf schien weiblich zu sein, auch wenn er mit dem fettig glänzenden, die Oberlippe kränzenden Flaum den stärksten Bartwuchs der drei oberen Gesichter aufwies.
Nur die unter der an der Stelle fast transparenten Hautschicht zu sehende Visage, die anstatt eines Bauchnabels aus dem Rumpf ragte, war noch behaarter. Ein grauschwarzer Vollbart umrahmte dünne Lippen. Die Augen über der leicht schiefen Nase glänzten fiebrig. Schmerz und Kummer spiegelten sich in diesem Gesicht.
Die Mienen auf den drei oberen Köpfen spiegelten gänzlich andere Emotion wider. Das von ihnen geteilte grausame Lächeln ließ eher auf Mordlust schließen.

Ramon entschied sich für den mittleren der drei Schädel und ließ Die Rache Gottes Tod spucken. In diesem Moment zeigte die Kreatur eine Agilität, über die der missgestaltete Körper niemals hätte verfügen dürfen. Der Dämon duckte sich und sprang nach vorn. Die aus der Pistole abgefeuerte Kapsel bohrte sich in die Wand hinter der Bestie. Die dürren Arme des Dämons schossen auf den Hals des Monsterjägers zu. Ramon fluchte und ließ sich nach hinten fallen. Noch im Fallen lud er die Schrotpistole durch. In seinem Kopf reagierte die implantierte Fernsteuerung seiner Helikopterdrohnen auf elektrische Impulse.
Der Dämon war nicht langsamer. Die beiden Arme der Kreatur wuchsen wie Zweige eines aus weißrosa Fleisch bestehenden Baumes im Zeitraffer. Spitz zulaufende Fingernägel blitzten auf und kratzten über die Schultern des Mexikaners. Dann schlug sein Rücken auf dem Boden auf. Schmerz jagte durch seinen Körper, nur um einen Moment später von Adrenalin erstickt zu werden. In diesem Augenblick hatte die Bestie ihn erreicht. Die knochigen Hände fixierten Ramon auf dem Boden. Zwei der Köpfe hingen über seinem und grinsten ihn spöttisch an. Der dritte schlug seine Zähne in Ramons Hals. Es war der mittlere Kopf, der sprach: „Jetzt fressen wir dich!“

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Keiko war zwölf Jahre alt, wurde in Japan fälschlicherweise für vierfachen Totschlag gesucht und saß im Flieger nach Nordarmerika. Das Ziel des Fliegers war der Seattle SeaTac Flughafen. Sie hatte die von einer Stewardess angebotene Mahlzeit abgelehnt und hatte die Kabel der Kopfhörer mit dem ins Flugzeug geschmuggelten Messer zerschnitten, um klar zu machen, dass sie keinerlei Interesse an dem Film hatte. (Das Desinteresse am Ton hatte sie dokumentiert, das Ignorieren des Bildes machte sie deutlich, indem sie fast den ganzen Flug über in Richtung Decke schaute.) Ihr Nacken schmerzte, aber sie ignorierte die Pein.
Keiko Diana Kurasawa. Tochter eines im Dienst verstorbenen Oyabuns der Yakuza. Tochter einer ebenfalls verstorbenen Auftragsmörderin desselben Gumis. Ninja. Klassenbeste in Rechtschreibung und Lesen. Besitzerin einer Tasche voller Klingenwaffen, die von Freunden der seligen Eltern in den Bauch des Flugzeugs geschmuggelt worden war.
Während der Jet durch die Nacht flog, massierte sie ihren steifen Nacken und überlegte, wie sie die USA am schnellsten unter ihre Kontrolle bringen konnte.

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Thomas Keynes verfügte über einen beeindruckenden Vollbart. Das war neben Ehrlichkeit und Fleiß leider das einzige, was er an Qualitäten in seinem für Bewerbungen verfassten Lebenslauf unterbringen konnte. Thomas hatte es nicht zu einem beeindruckenden Schulabschluss gebracht. Es war nicht so, dass er dumm war, aber das Lernen lag ihm einfach nicht so.
Dennoch fand er einen guten Job als Equipment-Manager für das örtliche Eishockeyteam. Er sorgte dafür, dass die Kufen geschärft und die Trikots am Platz waren. Jeder Sonderwunsch eines Spielers wurde schnellstmöglich erfüllt.
Thomas liebte seinen Job. Das Logo seines Teams bedeutete ihm fast alles. Wichtiger waren nur seine wunderschöne Frau, die er vor drei Jahren im Supermarkt (Wunder scheren sich nicht um Lokalitäten) getroffen hatte, und seine zwei Söhne, die bald eingeschult und ihren Vater in jedem Fach übertreffen werden würden.

Sein Leben war vielleicht nicht perfekt, aber es war gut genug. Und auch die Worte seines Chefs, die ihm erklärten, dass er aufgrund eines Streits zwischen der Liga und der Spielervereinigung bis auf Widerruf arbeitslos war konnte das Glück nur wenig trüben.
Das dachte er zumindest als er in seinen Wagen stieg und den Motor startete.

Eine Stunde später hatte er einige Meilen zwischen sich und seine Familie gebracht. Er griff nach dem Lenkrad und hämmerte seine Stirn immer wieder gegen das schwarze Leder. Die ersten Tropfen Blut rannen in seine Augen, als er erkannte, dass er zumindest seine Kinder behüten musste.

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Gläser zerbarsten, als draußen Position aufnehmende Maschinengewehre den Dämon als Ziel erfassten und unter Beschuss nahmen. Die Drohnen Smith und Wesson schwebten vor den Fenstern des zweiten Stocks und feuerten ihre Ladestreifen leer. Die Kreatur wurde von der Wucht der Projektile zurückgeschleudert. Ramon erhob sich. Er stöhnte und bemerkte, wie der Ärmel seiner Jacke unter dem Blut, das aus seinem Hals strömte, schwerer wurde. Der Dämon rappelte sich auf und stürzte erneut auf den Monsterjäger zu. Dieser hatte inzwischen wieder Die Rache Gottes in Anschlag gebracht. Der jetzt abgefeuerte Schuss traf und zerfetzte die Stirn der Kreatur. "Vorbei", murmelte Ramon und er sollte Recht behalten.

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Thomas Keynes hatte sich das Blut mit einem Taschentuch aus dem Gesicht und den Schmerz mit einigen Drinks in einer Bar, deren Namen er nicht wahrgenommen hatte, der aber auch völlig egal war, aus dem Bewusstsein gewischt. Jetzt stand er in der Küche seiner Wohnung. Seine Söhne standen ebenfalls da. Immerhin hatte er sie extra aus dem Bett geholt. Es hatte etwas gedauert, bis er genug getrunken hatte, um den verlorenen Job in die hinteren Regionen seiner Gedankenwelt zu verbannen. Daher war es inzwischen weit nach Mitternacht. Die Jungs waren müde und realisierten nicht richtig, was gerade passierte. Aber das war okay. Sie konnten später im Auto ausschlafen. Die Fahrt würde lange genug dauern dafür. Das Ziel der Reise war Thomas noch nicht ganz genau klar. In die Schule mussten sie nicht mehr gehen. Dort lernten sie eh nichts Sinnvolles. Es würde am Anfang schwierig werden, aber Thomas hatte vor, die beiden selbst zu unterrichten. Laut Plan würde er Fächer wie Geschichte, Sozialwissenschaften und Englisch übernehmen. Seine Frau hatte er für die praktischeren Fächer eingeteilt, in denen sich jeder Mensch auskennen sollte. Vornehmlich Hauswirtschaft, aber er würde noch andere Fächer finden, in denen seine Frau eine gute Figur abgeben würde. Er war keiner von den Typen, die dachten, dass Frauen nur an den Herd gehörten. Er war offen und er war in der Lage, Dinge durchzudenken. Vielleicht war Letzteres nicht immer der Fall gewesen, aber jetzt – in diesem Moment – konnte er es und tat es auch. Endlich. Wirklich, es war höchste Zeit, denn plötzlich verstand er all die Sachen, die er sich vorher nicht zu verstehen getraut hatte. Ihm war klar, dass sein Leben verkorkst war, aber jetzt konnte er seinen Söhnen ein besseres Leben beschaffen. Gott, wenn alles seinen normalen Gang laufen würde, könnte einer seiner Söhne Präsident der Vereinigten Staaten werden.
Seine Frau schrie ihn an. Sie bebte am ganzen Körper. Ihm gegenüberstehend, die Finger in das Holz der Arbeitsplatte über der Spülmaschine krallend, brüllte sie unverständliches Zeug. Nein, "Unverständlich" war das falsche Wort. Er verstand sie, er begriff, was sie sagen wollte. Aber sie lag falsch. Sie versuchte ihn zurück zu drängen. Zurück in dieses Leben, das seine Entwicklung behindert und ihn letztendlich betrogen hatte. Zurück in die Welt, die seine Söhne klein halten würde.
Er verstand das. Sie hatte Angst. Und das war normal. Jeder hatte vor Veränderungen Angst. Ihm war klar, dass er viel verlangte. Er setzte auf Risiko. Auf ein überschaubares aber dennoch vorhandenes Risiko. Was sie nicht verstand war, dass der Einsatz gleich Null war.
Er brüllte zurück. Erklärte alles, machte jeden jetzt zu gehenden Schritt klar. Er sagte ihr, dass es nur noch darum ging, ihre Söhne zu behüten. Sie zu beschützen vor dieser Welt. Ihnen beizubringen, wie sie Gewinner werden konnten. Er beruhigte sich und sprach sanft zu ihr. Erklärte alles. Sie und er… sie mussten sie behüten. Sie waren Eltern. Er war ihr Vater. Und er verstand endlich. Es war leicht zu verstehen, so logisch. Sogar sie musste es doch begreifen. Sogar DIESES VERDAMMTE FRAUENZIMMER… HALT DEINE FRESSE, WEIB! HÖR AUF ZU HEULEN! ICH ENTSCHEIDE, IST DAS KLAR? ICH ENTSCHEIDE! ICH!

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Die Schrotpistole bebte in Ramons Hand. Der Monsterjäger schrie triumphierend und erleichtert, als die abgefeuerte Kapsel auf der Stirn des Dämons zerbarst. Das sich in der Kapsel befindliche Kruzifix jagte durch die aufplatzende Hülle der Kapsel und schnitt in die Stirn der Behüter. Schwarzes Blut spritze auf. „Vorbei.“

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Eine weibliche Stimme dröhnte durch irgendwo versteckte Lautsprecher und informierte die Fluggäste, dass die Maschine jetzt zur Landung ansetzte und sich nun jeder Insasse den Sicherheitsgurt anlegen sollte. Keiko war eingeschlafen und schreckte nun hoch. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und folgte der Anweisung. Sie gähnte, während das Flugzeug sich der Erde annäherte. Kaum von den Lichtern der Maschine erhellte Wolken wechselten sich außerhalb des Fensters schnell mit den Strahlern des SeaTac Airports ab. Wie sie die USA unter ihre Kontrolle bringen sollte, hatte Keiko noch nicht herausgefunden, aber auf ihren Großvater, der sie am Seattler Flughafen abholen würde, freute sie sich sehr.

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Timothy hatte keine Zeit damit verschwendet, ein Ticket zu kaufen. Der Schaffner, der sich ihm näherte und seinem Blick begegnete, hielt sich nicht damit auf, ihn nach einem zu fragen.

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Thomas fuhr schnell. Er raste fort von der Küche, in der seine Frau bewusstlos und mit einer blutenden Kopfwunde nahe des Esstischs lag, und zu einer Zukunft, die Großes für seine verängstigt dreinschauenden, auf der Rückbank sitzenden Söhne versprach. Die Frage, wohin diese Reise führte, wurde beantwortet, als die beiden Frontlichter eines Trucks immens groß durch die Frontscheibe leuchteten. Der Fahrer des LKWs döste und erkannte erst nach dem Aufprall, dass sein Lastzug auf die falsche Straßenseite abgedriftet war. Die beiden Söhne von Thomas Keynes überlebten den Unfall wie durch ein Wunder. Ihr Vater war nicht so vom Glück begünstigt.
Während er eingezwängt vom Lenkrad und der Rückenlehne verblutete, dachte er daran, dass sein Schicksal typisch für das des kleinen Mannes in dieser Welt war. Seine Gedanken waren voller Trauer, als sie seine Frau streiften. Dann aber meldeten sich der Hass und die Sorge um seine Kinder, deren Schreie sich in sein langsam verblassendes Bewusstsein bohrten. Sie mussten behütet werden. Sie mussten…

Ein Schatten erhob sich und flog fort von dem zerquetschten Autowrack und dem leblosen Körper von Thomas Keynes. In einer nahe liegenden Herberge fand er einen Koch, die Herbergsmutter und den Betreiber des zum Haus gehörenden Kiosks. Sie zu töten und ihre Seelen unter seine Gewalt zu bringen war einfach. Nun ging es darum, die sich in dem Heim für die wandernde Jugend befindlichen Jugendlichen vor der Welt außerhalb der Herberge zu beschützen. Sie alle mussten vor dem Unrecht, das die Kleinen zu knechten und zu zerstören suchte, behütet werden. Der logische Weg lag darin, ihre Lebenskraft aufzusaugen und dafür zu sorgen, dass diese Jungs und Mädchen nie wieder die Herberge verlassen würden.

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„NEIN!“ Das Kreischen des Dämons hallte in Ramons Ohren. „Ich muss doch…“
„Stopp!“ Der Mexikaner war inzwischen auf dem Boden zusammengesackt. Er presste eine Hand auf die klaffende Halswunde, aber das Blut sickerte immer noch zwischen seinen Fingern hindurch. „Ich will gar nicht wissen, was du musst. Stirb einfach, okay? Es ist vorbei.“
„Aber ich…“
„Halt’s Maul.“

Und dann war es vorbei.

-

Der Flieger landete.

-

Der Zug erreichte sein Ziel.
 
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Der letzte Teil des Kapitels scheint beim
Uploaden verschwunden zu sein. Ist jetzt aber
angefügt worden. Leider scheint es hier nicht
möglich zu sein, Kursivschrift zu verwenden.
Dadurch könnte der Handlungsstrang von Thomas
Keynes verwirrend sein. Die Abschnitte mit ihm
sind im Original kursiv gehalten, da sie in der
Vergangenheit spielen.


Marcel Klocke (30.12.2012)

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