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5 Seiten

Olymp der kleinen Ideen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Experimentelles
Franz muss aufstehen.
Nicht so einfach.
Er tut es trotzdem, auch wenn es mehr schlafend als in einem Zustand geschieht, den man in irgendeinem Duden als „wach“ definiert vorfinden könnte.
Er schlendert an seinen Kleiderschrank, öffnet diesen, greift darin nach dem Stapel mit den T-Shirts, schnappt sich das Oberste, greift nach dem Stapel mit den Shorts, schnappt sich die Oberste, greift nach dem Stapel mit den Pullovers, greift sich den Obersten, macht die Schranktür wieder zu, bückt sich, während er in der rechten Hand die Klamotten hält, die er seinem Antik anmutenden Möbelstück schon entnommen hat, zieht mit seiner Linken eine der unteren Schubladen heraus, greift darin nach einem Paar Socken, schließt die Schublade wieder und schlendert immer noch wie in einer Art Trancezustand in sein Bad hinein, wo er mit seinem allmorgendlichen Ritual des „sich Waschens“ beginnt.
Als die ersten Wassertropfen seiner Duschbrause auf sein Haupt niederprasseln, kann er förmlich spüren, wie sein Kreislauf ein wenig in Schwung gerät; wie er schon ein wenig mehr zumindest so etwas Ähnliches wie „wach“ wird. Und noch ein wenig mehr, als er die Stärke der Duschbrause endlich genau so eingestellt hat, wie er es persönlich als „richtig“ empfindet.
Er stellt die Brause wieder aus, seift sich zuerst mit Shampoo seinen Kopf ein, dann mit Duschgel den Rest seines Körpers, und stellt die Duschbrause wieder an. Gerade, als er die Seife wieder von seinem Körper abgewaschen hat; als er die Brause wieder abgestellt hat; als er sich gerade zumindest so etwas Ähnliches wie „frisch“ gefühlt hat, und gerade, als er den Duschvorhang ein wenig zur Seite geschoben hat, damit er seiner Dusche wieder entsteigen kann, um so sein allmorgendliches Ritual zu vollenden, exakt in diesem Augenblick hat Franz eine Idee.
Er hält inne.
Seine Pupillen weiten sich.
Sein Puls beschleunigt sich.
Er spürt sein Herz in seiner Brust sehr deutlich schneller schlagen, als es normalerweise der Fall ist, während sein Gehirn mit Bildern förmlich überflutet wird. Denn viele Bereiche seines Gehirns werden gerade von dieser Idee angeregt, weshalb so viele Neuronen in so vielen unterschiedlichen Teilen gleichzeitig feuern, wie wahrscheinlich niemals zuvor.
Angesichts dessen ist er erst einmal geschockt und sieht dabei wie eine dieser Wachsfiguren im Kabinett von Madame Tussauds aus. Seine Gedanken rasen förmlich in alle Richtungen gleichzeitig. Dabei malt sein Bewusstsein aus, wie es wohl sein würde, wenn seine Idee in das umgesetzt werden würde, wozu die meisten Menschen wohl „Realität“ sagen würden. Und dies lässt ihn nun so etwas wie Klarheit geradezu in jeder einzelnen Pore seines Körpers spüren. Denn es fühlt sich für ihn so an, als ob diese Idee ganz genau das wäre, wonach all die Menschen, die all die Jahrtausende über diese winzige Erde im wahrscheinlich unendlichen Universum gewuselt sind, gesucht haben; als ob sie die ganze Zeit nur etwas taten, damit sie wenigstens irgendetwas taten, und zwar möglichst so, damit sie dazu anschließend Dinge sagen konnten, wie: „Wow, also das hat jetzt aber mal wirklich Sinn ergeben!“
Alles ein Irrtum; alles lediglich ein „sich im Kreise drehen“, ohne dass dabei das Tatsächliche, das Substanzielle je in irgendeiner Weise auch nur zaghaft berührt worden wäre.
Bei dieser Idee von Franz gerade scheint es aber etwas anders zu sein, weshalb sie aufzusteigen beginnt. Zunächst schwebt sie nur irgendwie ziellos und irgendwie auch willenlos, ja gar einem Gespenst ähnlich etwas unheimlich über seinem Kopf herum. Dann aber macht sie sich langsam und anmutig zur Decke auf, durch die Decke hindurch und durch den Boden des Bades der Wohnung darüber, wo gerade eine wunderschöne rothaarige junge Frau wohlig von fließend warmem Wasser umhüllt unter der Dusche steht.
Franz wäre solch ein Anblick sicherlich alles andere als egal gewesen. Öfters hatte er diese wunderschöne junge Frau schon mal im Hausflur gesehen; ist sie ihm aufgefallen; wollte er sie ansprechen. Hat es aber nie getan. Der großen Idee hingegen ist dieser Anblick völlig schnurz. Zwar schwebt sie für kurze Zeit kreuz und quer durch das Bad dieser bildhübschen jungen Frau, die übrigens Barbara heißt, aber ohne jegliche Intention, weshalb sie sich weiter auf den Weg nach oben macht, immer weiter und weiter, noch durch fünf weitere Bäder hindurch, von denen sich in manchen von ihnen gerade irgendjemand für den bevorstehenden Arbeitstag fertig macht, andere hingegen gerade vollkommen leer sind, teils auch weil manche Wohnungen über Franz schon lange unbewohnt geblieben sind. Und dies in einer jener Großstädte, in denen schon seit längerer Zeit ein regelrechter Wohnungsnotstand herrscht. Die große Idee schwebt aber auch davon völlig unbeeindruckt geblieben gemächlich weiter nach oben, immer weiter, irgendwann durch das Dach des sechsstöckigen Mietshauses, in dem Franz lebt, und dann immer weiter hinauf durch die vielen atmosphärischen Schichten, bis sie schließlich im Olymp der großen Ideen, die eigentlich kleine sind, angekommen ist. Dort angekommen schaut sie sich erst einmal um und erkennt dabei, dass es hier schon sehr viele andere unglaublich große Ideen gibt, die eigentlich kleine sind.
Schnell wird die Neue von den Anderen bemerkt, weshalb sich die Anderen zu ihr umdrehen und sie nun erwartungsvoll anschauen.
Die neue Idee schaut, einem Cowboy gleich, der kurz vor einem existentiellen Duell steht, mit zusammengekniffenen Augen ganz langsam in die Runde. Sie sucht dabei nach einem würdigen Gegner für sich; nach einem, anhand dessen sie beweisen kann, wie toll und überlegen sie doch all den Anderen gegenüber ist.
Plötzlich bleibt an einer der anderen Ideen ihr Blick tatsächlich haften. Denn irgendetwas an ihr gefällt ihr ganz besonders nicht. Diese alte Idee sieht irgendwie lässig aus, leger angezogen, irgendwie auch jugendlich arrogant, weil in Bluejeans und Lederjacke gehüllt, und mit nach hinten gegelten Haaren. All dies wirkt auf die neue Idee so, als sei die Alte von ihr total unbeeindruckt, und sehr wahrscheinlich ist es ganz genau das, was ihr an ihr nicht gefällt; was sie dazu bewegt, mit dieser überheblichen anderen alten Idee hier oben im Olymp der kleinen Ideen, die sich manchmal für große halten, ein Duell auszutragen; um sich so selbst, aber in erster Linie auch den Anderen gegenüber zu beweisen, wie toll sie doch ist.
Es liegt ein regelrechtes Knistern in der Luft. Für so manch andere Idee hier oben ist dies fast schon zu viel Aufregung auf einmal. Manch eine von ihnen dreht sich deshalb um; versucht sich irgendwie davon abzulenken. Manch eine von ihnen gelingt dies tatsächlich, manch anderen aber auch nicht. Denn die Allermeisten können sich nicht davon abwenden, weil sie nun einfach wissen müssen, wie sich diese angespannte Situation hier denn nun auflösen wird.
Plötzlich lässt die alte Idee sehr langsam ihre Hand nach oben in Richtung Innentasche ihrer Lederjacke wandern.
Die neue Idee vermutet, dass es sich dabei doch nur um eine Art Geheimwaffe handeln kann, weshalb sie sich dazu bereit macht, jeden Moment zuzuschlagen. Hierzu holt sie ihr Lichtschwert, das die ganze Zeit an ihrem Gürtel an ihrer Seite gehangen hat, in die Hand, und lässt es mit einem leisen, irgendwie auch angenehm klingenden Summton direkt vor sich ausfahren.
Die Klinge ihres Lichtschwertes ist übrigens rot, aber das nur so nebenbei.
Währenddessen hat die alte Idee tatsächlich etwas aus ihrer Jacke genommen. Was es ist, ist für die neue Idee von ihrem Standpunkt aus erst einmal nicht zu erkennen. Und diese Unwissenheit lässt sie noch angespannter werden, als es zuvor eh schon der Fall gewesen war.
Langsam, wie in Zeitlupe, führt die alte Idee dieses unbekannte Etwas zu ihrem Mund, den sie nun weit geöffnet hat.
Intensiv werden all diese Vorgänge von all den alten Ideen, die um sie beide herumstehen, beobachtet.
Dann erkennt die neue Idee, um was es sich bei dem Etwas handelt: um Kaugummi. Seltsamerweise macht dieses Wissen die neue Idee noch wütender als zuvor, als sie noch gedacht hat, dass ihr dieses Etwas tatsächlich körperlich gefährlich werden könnte. Diese ganze Lässigkeit, welche diese alte Idee hier oben im Olymp der kleinen Ideen an den Tag legt, ist ihr ein regelrechter Dorn im Auge. Deshalb stürzt sie nun, sobald der Kaugummi im Mund ihrer Gegnerin verschwunden ist, mit erhobenem Lichtschwert und ziemlich viel Wut im Bauch auf diese alte Idee zu.
Wie gebannt starren nun fast alle anderen großen Ideen, die eigentlich kleine sind, auf dieses Geschehen.
Etwa zwei Schritte vor der alten Idee lässt die Neue ihr Lichtschwert nach unten sausen und spaltet so die alte Idee mit einem flinken Hieb von oben nach unten in zwei Hälften. Gähnend langsam klappen daraufhin diese zur Seite, und sobald die beiden Hälften den Boden erreicht haben, lösen sie sich mit einem leisen „Blob“ - Geräusch in Nichts auf. Und diese alte Idee würde erst wieder hier oben im Olymp der kleinen Ideen auftauchen können, wenn sie ein weiteres Mal von irgendjemandem „entdeckt“ worden ist.
Währenddessen hat Franz sein allmorgendliches Ritual vollendet, weshalb er sich nun auf den Weg zu seiner Arbeit macht. Dabei trifft er auf dem Hausflur seiner Mietwohnung mal wieder diese wunderschöne rothaarige Frau, die ebenfalls in seinem Mietshaus lebt, wahrscheinlich irgendwo über ihm. Er würde sie so gerne einmal ansprechen, traut sich aber nicht.
Seine tolle Idee aus dem Bad hat er längstens schon wieder vergessen. Schließlich hat er ja aber auch Wichtigeres zu tun, wie etwa arbeiten zu gehen, einzukaufen, sich zu Hause was zu Essen zuzubereiten, vielleicht noch Wäsche zu waschen, und dann friedlich in seinem Bett einzuschlafen, oder kurz gesagt: sein Leben zu leben. Und vielleicht würde er sich irgendwann sogar einmal trauen, seine wunderschöne Nachbarin anzusprechen. Na ja, vielleicht…
 
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Kommentare  

So ist es, man muss auch mal heraussteigen können, aus den vielen kleinen Alltäglichkeiten, aber das fällt meistens schwer. Schöne kleine Kurzgeschichte, romantisch und auch lebensecht.

Dieter Halle (02.03.2014)

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