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Das Lächeln der Mona Lisa - 1. Kapitel der "Französischen Liebschaften"

Romane/Serien · Spannendes
1. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Das Lächeln der Mona Lisa".
*
Sie lehnte sich aus dem Abteilfenster wie ein kostbares Gemälde in einem zu billigen Rahmen. Ihr Lächeln strahlte Offenheit und Wärme aus; in ihren Augen vermeinte ich ein geheimnisvolles Versprechen zu erkennen. Ich schaute sie an, lächelte zurückhaltend und spielte den Schüchternen, der ich eigentlich auch war. Das traumhafte Bild war Anlass zur Freude. Oder Anlass, mein Leben zu ändern. Besonders an grauen Tagen wie diesem. Die Voraussetzungen dazu waren nahezu perfekt. Ein verregneter Sonntag mit einem verkorksten Wochenendurlaub lag hinter mir. Zu Hause hatte es wie immer Streit und Frust gegeben; meine Seele hing ziemlich weit im Keller. Mit dem letzten Bummelzug war ich aus meiner Kleinstadt kommend im Hauptbahnhof eingetrudelt. Die mausgraue Schütze-Arsch-Uniform ohne irgendwelche Auszeichnungen oder Dienstgrade schluderte am Körper und trug mehr zu Minderwertigkeitskomplexen als zum Wohlbefinden bei. Ein Aufreißer war ich bestimmt nicht. Obwohl ich davon träumte, ein cooler Typ zu sein, der lässig und unkompliziert bei den Mädchen ankommen wollte.
Umsteigen!
Abfahrbereit der Schnellzug nach Köln, der mich in die Kaserne zurückbringen sollte. Auf dem Gleis gegenüber stand der Nachtexpress nach Paris. Aus einem Abteilfenster strahlte mir das Glück entgegen. Sinnlichkeit für einen jungen Burschen, der in der Liebe bisher mehr Wunschträume als erfüllte Erfahrungen hatte. Neugierige Augen und ein offenes Gesicht, als wollte die Frau die Welt umarmen, als hätte sie den Glückstreffer für morgen schon sicher im Griff. Solche positiven Momentaufnahmen waren schon immer Balsam für mein Wohlbefinden. Ohnehin hing ich nie lange dem Trübsal nach, auch wenn es fünf Minuten vorher noch so knüppeldick auf mich heruntergeprasselt war. Ein Lächeln in der Fußgängerzone, ein winziger Sonnenstrahl am Horizont eines verregneten Himmels, ein freundliches Wort, und der Mist von gestern war Schnee von vorgestern.
Ich vergaß den Sonntag mit Familienstress zu Hause und den Frust beim Gewehrreinigen, den ich ab dem nächsten Tag in der Kaserne wieder haben würde. Also lachte ich zurück, einfach so, aus Spaß an der Freude. Für einen Flirt oder sogar für ein Abenteuer würde die Zeit bis zur Abfahrt unserer Züge nicht ausreichen. Ein Quickie auf der Zugtoilette konnte ich mir nicht einmal in meinen Träumen vorstellen. Ich war ein unerfahrener, naiver Kleinstadttrottel mit wenig ausgeprägtem Selbstbewusstsein; oft von Zweifel geplagt, immer auf der Suche nach Liebe und Glück und mit einer traumhaft großen Lebens- und Liebeserwartung versehen. Verborgen schlummerte eine gefährliche Sehnsucht nach Unbekanntem in mir. Und zu allem Übel dachte ich, nur ich hätte solche verrückten Ideen; alle anderen Leute seien normal.
„Na, zurück in die Kaserne?“ fragte das Mädchen aus dem Abteilfenster, so als würden wir uns kennen.
„Hmhm!“ Ich nickte und sie sagte: „Würde mir ganz schön stinken!“
Ich nickte noch einmal, versuchte eine Stirnfalte mit einem Lächeln zu verbinden; wahrscheinlich war es wieder nur ein dämliches Grinsen geworden.
„Und du?” fragte ich und das Mädchen antwortete: „Nach Paris!”
„Paris?!”
Meine Augen weiteten sich; in Sekundenschnelle lief das Kopfkino ab.
Paris!
Stadt der Liebe und der unbekannten Abenteuer! Mit dieser Frau?! Ein Wahnsinnstraum! Schweigend blickten wir uns an. Mit einer Mischung aus Provokation und Unschuld lächelte das Mädchen. Dabei musste es passiert sein. Es packt mich, wenn jemand mit den Augen sprechen kann, mehr als mit langen Sonntagsreden...
„Fahr‘ doch einfach mit!” sagte sie.
„Einfach so...?!”
„Logo! Einfach so!” Sie lachte. Ein unbekümmertes Lachen, als ginge es nicht um die Frage ’Deutsche Provinzkaserne oder Weltstadt Paris?’, sondern um die Ecke zu einem Stehcafé.
„Ich wette, du traust dich nicht!” sagte sie provozierend und strahlte mich an. Ich stieg ein.
Der Zug setzte sich in Bewegung, wurde schneller, schlängelte sich unaufhaltsam durch das geordnete Gleisgewirr. Noch vor der französischen Grenze hätte ich aussteigen können, aber da waren die Weichen schon gestellt. Im Bruchteil einer Sekunde kann sich der ganze Lebenslauf ändern. Einfach verrückt, eine solche Feststellung.
*
„Ich hab’ nicht genug Geld für die Fahrkarte!” gestand ich. “Und auch keine Ausweispapiere. Nur einen Militärpass mit einem Urlaubsschein. Der ist in zwei Stunden abgelaufen, damit komm’ ich nicht über die Grenze!” Ich hatte die Jeans angezogen und die Uniform in die Reisetasche gepackt. Lisa stopfte mich unter die ausziehbare Sitzbank aus dunkelgrünem verschmiertem Kunstleder zwischen dick verstaubte Heizungsleitungen. Da lag ich eingezwängt bis Metz, Unruhe im Bauch und vor meinem Mund Lisas Beine. Ich schloss die Augen und kurbelte meine Fantasie an, aber zwischen Heizungsrohr und Hosenlatz war nicht einmal für eine Hand Platz, um meinen Träumen mit Schüttelbetrieb auf die Sprünge zu helfen.
Bei Saarbrücken hatten die deutschen Grenzer ins Abteil geleuchtet und waren weitergegangen. Die Franzosen warfen nur einen kurzen Blick auf Lisas Personalausweis und einen längeren auf ihren knappen Rock. Nach Metz war ich hervorgekrochen, bevor der französische Schaffner kam. Lisa hatte für mich eine Fahrkarte bis Paris nachgelöst. Beim Schlafwagenschaffner gab‘s Flaschenbier und Schnaps in Flachmännern und wir griffen kräftig zu.
Schließlich ging Lisa zielstrebig vor. Dass eine Frau die Initiative ergriff, war für mich eine vollkommen neue Erfahrung. Irritiert aber neugierig ließ ich es mir gefallen. Lisa griff zielgerichtet zwischen meine Beine, befühlte meine Wölbung und öffnete den Reißverschluss meiner Jeans. Dann saß sie auf mir, schob einfach ihren Slip zur Seite und dirigierte mich hinein in ihre feuchte Wärme. Nie zuvor hatte ich erlebt, wie eine Frau so bestimmend und zielstrebig zur Sache kommt. Hatte ich nicht gelernt, anbaggern sei Männersache?! Hatte ich nicht gelernt, dass Frauen sich zurückzuhalten und auf die Initiative von uns Männern zu warten haben?!
Wild und fordernd ritt sie mich, redete nicht mehr, war nur noch leise stöhnend und mit geschlossenen Augen auf ihr eigenes Vergnügen konzentriert, bis sie plötzlich auf meiner Brust zusammenbrach, noch bevor ich selbst gekommen war, obwohl ich doch eigentlich gewohnt war, als erster - und meistens als einziger - zu kommen, was dann von der Frau demütig akzeptiert wurde.
Was waren das für neue, mir total unbekannte Methoden? Bisher lagen die wenigen Frauen meines Lebens unter mir und – nachdem ich gekommen war – lächelten sie mich an, mal gequält, mal glücklich, mal erleichtert. Und manchmal drehten sie den Kopf weg, als sei es ihnen plötzlich peinlich, oder sie redeten vom Wetter oder von ihrer Mutter und zogen schnell den Schlüpfer wieder über die Schandtat. Sie stöhnten mitunter auch ein bisschen oder stießen ein „Ja! Ja!“ hervor, aber sie veranstalteten nicht diesen Zirkus, den Lisa gerade auf mir veranstaltet hatte. Es konnte sich bei Lisa also nur um ein Flittchen, wahrscheinlich sogar um eine Schlampe handeln, denn eine normale, anständige Frau benimmt sich nicht so freizügig! Eine anständige Frau wartet auf die Initiativen des Mannes! Eine normale und anständige Frau lässt sich zum Tanzen auffordern, ins Restaurant oder ins Kino, in besseren Kreisen sogar ins Theater oder die Oper einladen, lässt sich beschenken, verwöhnen oder wenigstens mit geschickten Worten verführen! So hatte ich das gelernt, und so war das bisher in meinem kurzen und bescheidenen Sexualleben abgelaufen. Wenn Lisas Methode Schule macht, wird die Welt aus den Fugen geraten! Wie sollte es mit den Geschlechtern weitergehen, wenn nichts mehr ist, wie es einmal war? Das wäre dann wohl eine Revolution, aber Revolutionen gab‘s nur in Geschichtsbüchern; ich hatte noch keine erlebt.
In Reims rumorte bereits der Berufsverkehr; ein Paar schob die Abteiltür zurück und drängte in unser Abteil. Als sie die verstreuten Kleidungsstücke und unsere nackten Ärsche sahen, waren sie weitergegangen. Wir wurden erst wieder wach und einigermaßen nüchtern, als der Zug morgens gegen Acht in Paris in die Gare de l’Est fuhr.
„Ich werde dich jetzt dir selbst überlassen!” Lisa meinte es ernst. Sie hatte nicht lange um den heißen Brei geredet. „Die Nacht war super, aber jetzt ist wieder Alltag!” Lisas prosaische Nüchternheit war erschreckend; ich konnte nicht damit umgehen und wusste nicht mehr weiter. Wir saßen im Bahnhofsbistro zwischen dahinhuschenden Kellnern und lärmenden Menschen, schlürften Milchkaffee in Henkeltassen, groß wie Suppenschüssel, und stopften uns sündhaft teure Buttercroissants in den Mund. Mein ganzes hilfloses Gerede mit Warum und Wieso, und das geht doch nicht, nach dieser Nacht, immerhin haben wir zusammen..., und überhaupt, wegen dir bin ich doch eigentlich mitgefahren, bin fahnenflüchtig geworden…, dieses ganze Gesülze hatte bei Lisa nichts bewirkt.
Sie stand auf und steckte mir französische Geldscheine zu: “Hier! Das müsste für die erste Woche in Paris oder für die Rückfahrt reichen!”
„Was soll ich denn jetzt anfangen?” Ich versuchte die Mitleidstour. “Ich kann außer Bonjour kein Wort Französisch und kenne keinen Menschen in dieser Stadt! Zurück kann ich nicht mehr, die stecken mich in den Knast! Und du gibst mir nicht einmal deine Telefonnummer!”
„Jetzt mach’ mal halblang!” Lisa lachte. Ich spürte diesen Anflug spöttischer Geringschätzung. “Dann wirst du eben Französisch büffeln und Leute kennenlernen! Du bist doch kein kleines Kind mehr! Oder?” Schweigend sah sie mich für einen Moment nachdenklich an. “Nein! Ich kann dir weder meine Telefonnummer noch meine Adresse geben. Du bringst meine Pläne durcheinander. Keinen Bock auf so was!” Sie sprach ruhig, aber mit einer Festigkeit, die keinen Zweifel erlaubte. “Und jetzt hör’ bitte auf, mit mir zu diskutieren! Ja? Wenn du wirklich in Paris bleiben solltest, ich bin ab und zu im Jazz-Club Saint Michel in der Rue Huchette. Liegt im Quartier Latin, im Studentenviertel. Hinterlasse bei dem Typen an der Bar ’ne Nachricht für mich! Ich melde mich dann bei dir!” Ich notierte die Adresse, gab aber noch nicht auf. „Und was soll ich arbeiten? Von was soll ich leben? Ich hab’ nicht mal gültige Papiere!” fragte ich beinahe weinerlich.
„Nun vergeh’ mal nicht gleich in Selbstmitleid!” Lisas Stimme war zwischen Ironie und mütterlichem Schulterklopfen angesiedelt. „Lerne eine reiche Frau kennen! Du hast das Zeug für einen guten Liebhaber!” Lisa lachte schon wieder und fuhr mit ihrer Hand durch meine Haare. „Oder geh’ wegen mir in die Fremdenlegion! Aber hör’ auf, den kleinen Jungen zu spielen und mich zu nerven! Okay?!”
„Ich bin doch nicht gestern bei der Bundeswehr abgehauen, um jetzt in Frankreich zur Fremdenlegion zu gehen!”
„Dann lerne eben, wie Gott in Frankreich zu leben!”
„Und wie lebt der?”
„Der kann überall leben!” Lisa lachte noch immer. Sie schien nichts ernst zu nehmen. „Unter den Brücken der Seine, bei den Clochards, da ist er auch manchmal zu Hause, kommt ganz drauf an wie man den lieben Gott interpretiert. Bei den Reichen auf den Champs d’Elyssée oder in Neully oder im Val de Chévreuse, da lässt er sich allerdings öfters blicken. An deiner Stelle würde ich dort mal nachschauen!” Lisas Ironie war sogar für mich Dorfdeppen nicht mehr zu überhören. Aber woher sollte ich wissen, wo in Paris die Armen und wo die Reichen wohnen?
Lisa fasste zusammen: „Hör’ zu, lieber Klaus! Du bist Anfang Zwanzig, siehst passabel aus, kannst dich ganz gut ausdrücken, das müsstest du noch etwas entwickeln, aber du hast gute Ansätze und auch sonst scheinst du nicht auf den Kopf gefallen! Noch ’n bisschen naiv, aber das könntest du im Laufe der Zeit auf die Reihe bekommen. Persönlichkeit bekommt man nicht in die Wiege gelegt, die muss sich entwickeln, man kann sie sich erarbeiten! Auf das Selbstbewusstsein kommt’s an! So wie man auftritt, so wird man akzeptiert. Der Schein, nicht das Sein ist zunächst wichtig! Für deine Ideale kommst du vielleicht in den Himmel, aber auf Erden kannst du dir herzlich wenig dafür kaufen. Glaub’ mir das!”
Sie popelte sich eins ihrer schmalen, schwarzbraunen Zigarillos aus einem silbrig glänzenden Etui, ich gab ihr Feuer und sie fuhr fort: „In Paris kannst du zum Beispiel ohne Arbeit reiche Frauen anbaggern und davon leben, oder mit Arbeit dich als Tellerwäscher von einem Kneipenbesitzer ausbeuten lassen. Kommt ganz darauf an, was man aus seinem Leben macht. Du selbst hast den größten Einfluss auf dein Leben!”
„Ich soll also meine Ideale sausen lassen und Gigolo werden?” brauste ich vorsichtig auf, um mein dürftiges Prestige einigermaßen zu wahren.
„Immer noch besser als in der Großmarkthalle für einen Hungerlohn Gemüsekisten zu schleppen und andere reich zu machen!” sagte Lisa ruhig, worauf ich unsicher erwiderte: „Zwischen den Extremen gibt’s ja wohl auch noch was anderes...?!”
„Du bist echt naiver als ich dachte!” Lisa wurde zum ersten Mal ungeduldig und gereizt. „Jetzt höre mir mal eine Minute gut zu: Erstens verkennst du anscheinend total deine Situation! Das ist nämlich das Erste was du lernen musst: Situationen real einzuschätzen und nicht deinen Fantasien nachzugeben! Wenn du aber den Träumer spielen willst, dann hättest du zu Hause bleiben sollen! In Paris muss man Realist sein! Oder setze dich in den nächsten Zug und zurück zu Mama nach Hause. Oder geh’ zum deutschen Konsulat, die geben dir sogar einen Fahrschein und Geld für ’nen Sandwich und annoncieren deine Ankunft der deutschen Grenzpolizei. In Deutschland empfängt dich dann eine Militärkapelle mit Preußens Gloria und sie rollen den roten Teppich vor dir aus, vom Bahnhof direkt bis in den Knast. Nach der Haftentlassung kannst du von morgens um Sieben bis nachmittags um Vier in einer Fabrik malochen oder dir auf einem Bürostuhl Hämorrhoiden holen. Bis zur Rente! Und zwischendurch drei Wochen Jahresurlaub am Baggersee, oder, wenn’s hoch kommt, in Italien. Das nennt man dann ein geordnetes Leben...!” Lisa verzog das Gesicht. „Aber nach allem, was du mir heute Nacht im Zug vorgelabert hast, ist das ja nicht dein Ding. Du hast zwar weder einen Schulabschluss noch eine brauchbare Berufsausbildung, aber du willst höher hinaus! Künstler! Poet! Maler! Freiheit! Kunstfotograf! La Bohème! Hehre Ziele! Brotlose Kunst! Damit gehst du vor die Hunde! Weißt du, dass sogar Picasso sich von Huren aushalten ließ! Und Van Gogh hat zu Lebzeiten kein einziges Bild verkauft und lebte von Almosen. Dann doch lieber wie Madame Pompadour...!”
„Das war ’ne Hure von irgend so einem Pracht-Ludwig!” warf ich ein.
„Dummschwätzer!” Lisa schürzte die Lippen. „Die gute Pompadour...”. Lisas Stimme war erst nachsichtig wie der Fernsehpastor beim Wort zum Sonntag, steigerte sich langsam zu einer engagierten Wut, wie ich sie bisher bei ihr nicht gekannt hatte. „Die gute Pompadour war eine verdammt kluge Frau! Und sie hatte einen ehrenwerten Beruf, der noch heute in Frankreich etwas gilt: Sie war Mätresse! Weißt du was eine Mätresse ist? Na?“ Sie sah mich kurz an, fuhr aber fort: „Sie hatte rechtzeitig erkannt, dass es im Leben zunächst einmal um drei praktische Dinge geht. Und weißt du welche das sind? Also, hör gut zu! Ich zähl’s dir auf: Das ist Geld, Fressen und Sex!” Lisa öffnete eine Hand und schlug sich zählend über die Fingerkuppen. “Hinzu kommen noch Machtgeilheit und Eitelkeit! Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber darum dreht sich im Leben erst einmal alles! Dafür zettelt man Kriege an und legt die Welt in Schutt und Asche! Dafür intrigiert man gegen Kollegen und dafür verrät man Freunde! Und wenn er kein Geld hat, nichts zum Essen und nichts zum Ficken, dann ist der Mensch fähig zu stehlen und zu morden! Alles andere, so schöne Worte wie Familie, Liebe, Kultur, Ehre, Religion, Vaterland oder weiß der Geier was; - alles andere ist nur Tünche! Verlogene Blumengarnierung! Heuchelei! Alles nur Vorgeplänkel, um den eigentlichen Zweck zu erreichen! Merke dir das und geh’ in Zukunft nicht so leichtsinnig mit Worten um, über die du noch nicht richtig nachgedacht hast! Hure! Wenn ich das schon höre!”
Von Französischer Geschichte und von Lisas Philosophien hatte ich so viel Ahnung wie ein Pinguin von elektrischen Tiefkühltruhen. Ich wusste nicht weiter und wechselte das Thema.
„Und du?“ fragte ich. „Wie wirst du in Frankreich leben?”
„Ich?” Lisa schmunzelte. „Ich werde Paris erobern!” Trocken und ernst. Ihre Wut war weg. „Bis mir Paris zu Füßen liegt!”
Nun versuchte ich ironisch zu sein und spottete: „Vielleicht als Aupairmädchen? Da liegen dir die kleinen Kinder, die du wickeln und füttern musst, die liegen dir da zu Füßen!” Nun spinnt das Mädchen aber wirklich...
„Na und?!” Lisa ließ sich nicht provozieren. Sie lachte. Sie lachte oft, als wenn das ganze Leben für sie nur aus Lachen und Sorglosigkeit, aus Optimismus und Leck mich am Arsch bestehen würde. „Ich habe ein Jahr als Aupair in Paris und ein Jahr in Saint Tropez hinter mir. War ’ne verdammt gute Lehrzeit. Zeit, um Pläne zu machen. Jetzt bin ich Vierundzwanzig. Jetzt sollte man wissen was man will! Oder?” Sie schaute mich herausfordernd an, legte aber versöhnlich ihre Hand auf meinen Arm. „Weißt du was?! Vielleicht treffen wir uns in ein paar Jahren wieder, da können wir ja mal vergleichen, was so aus jedem von uns geworden ist!” Das klang großspurig und abwertend zugleich, als wäre Lisa dann Model oder Filmstar und ich würde irgendwo als Clochard mit anderen Pennern in der Gosse liegen. Obwohl Lisa das erotische Aussehen und das Selbstbewusstsein, und ich die sozialen und psychischen Voraussetzungen für eine solche Prognose hatte.
„Hochmut kommt vor dem Fall!” sagte ich ausweichend und rang nach billigen Pluspunkten. Der Spruch stammte aus der Sammlung meiner Mutter. Sie hatte davon einige an die Küchentür gepinnt. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!” Oder „Immer wenn du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her!” Ich fand sie zwar kitschig, aber wegen fehlenden Alternativen auch recht brauchbar. Auf meine Mutter und ihre Lebensweisheiten ließ ich nichts kommen.
„Vergesse die dummen Sprüche!” Lisa winkte ab. „Die bringen dich im Leben nicht weiter! Man muss wissen was man will und dann auch am Ball bleiben!”
Undeutlich kam mir zum Bewusstsein, ich war ein Typ aus der deutschen Provinz und ohne viel Ahnung vom Leben. Ein Dorftrottel, höchstens reif fürs Fließband in einer Fabrik, aber nicht bereit für die große weite Welt. Ich ahnte, die Frau weiß was sie will und geht ohne Umwege auf ihr Ziel los. Wenn ich meine vergangenen Jahre und Lisas Vergleich mit dem Ball betrachte, war ich nur wie ein drittklassiger Fußballspieler aus der Kreisliga, der übers glitschige Spielfeld stolpert und verkrampft überlegt, ob er den Pfützen ausweichen oder den Ball treten soll.
„Ich werde darüber nachdenken!” sagte ich steif. „Und danke für alles!” Die Trennung ließ sich nicht mehr aufschieben. Jedenfalls musste ich aufhören den Idioten zu spielen. Jetzt konnte ich nur noch einen einigermaßen guten Abgang hinlegen. Lisa stand auf, küsste mich andeutungsweise rechts und links auf die Wangen, schnappte Koffer und Reisetasche, sagte „Salü” und ging zum Taxistand. Die Droschke verließ den Bahnhofsplatz und verschwand im Gewühl des Berufsverkehrs auf einem großen Boulevard. Lisa hatte sich nicht mehr umgedreht. Sie dirigierte den Fahrer.
Am Eingang zur Metro studierte ich den Stadtplan. Jemand aus der Masse sagte im Vorübergehen „Bonjour!” Sicher war ich nicht gemeint, aber ich murmelte auch „Bonjour!” Irgendwo musste ich schließlich mit dem neuen Leben beginnen.
*
Dies war ein Auszug aus
Michael Kuss
FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.
Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.
Romanerzählung.
Fünfte überarbeitete Neuauflage 2013
ISBN 078-3-8334-4116-5.
14,90 Euro.
Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.
Mehr zu diesem Buch hier: http://www.edition-kussmanuskripte.de/inhaltsbeschreibung-2.html
*
Auch hier bei Webstories das zweite Kapitel: "Nadine und Minouche".
 
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