230


2 Seiten

Der Ersatzspieler

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Tina hatte mich angerufen: Werner, unser dritter Mann, könne an diesem Mittwoch nicht an unserer Skatrunde teilnehmen.
"Schade!" sagte ich und dachte mit Bedauern an unser eingespieltes Trio, das sich seit drei Jahren einmal pro Woche trifft und wobei jeder von uns fast jeden Spielzug, jede Raffinesse und jeden Fehler des anderen kennt.
Doch Tina beruhigte mich sofort. "Unsere Runde muss deshalb nicht ausfallen! Ich kenne da einen Ersatzspieler, der gerne einspringen würde. Es ist ein ruhiger und zurückhaltender Typ!“ erläuterte Tina. „Er spricht kaum! Ist ein bisschen schüchtern und scheu und kommt fast nie unter Leute!“
„Okay!“ sagte ich. „Dann bring ihn mit, deinen geheimnisvollen Ersatzspieler!“
Dann kam der Mittwoch und es kam Thomas, der Ersatzspieler. Begrüßung mit einem festen und herzlichen, jedoch stummen Handschlag und von seiner Seite wortlos und ohne großes Hallo. Aber Thomas war mir trotz oder gerade wegen seiner Wortlosigkeit sympathisch; Schreihälse und Besserwisser gibt es unter Skatbrüdern genug. Thomas hatte lachende Augen, Vertrauen erweckend und freundschaftlich. Nur sein schiefer, heruntergezogener Mundwinkel, der oft nervös zuckte, sowie eine breite Narbe an der Stirn verwischten das ansonsten angenehme Bild und ließen den Gedanken aufkommen, Thomas hätte vielleicht nicht alle Tassen im Schrank.
Im Verlauf des Abends hatte er dann auch kaum den Mund aufbekommen; nuschelnd stieß er beim Reizen nur kurze, kaum verständliche Wortlaute hervor, wie „Achzn“, „Zwanzg“, „Null“ oder „weg“ und „passe“. Von ihm kam kein verbaler Kommentar, kein zusammenhängender Satz, keine Floskel, nichts! Nur ein freudiges, fast kindliches Aufleuchten seiner tiefschwarzen Augen, wenn ihm ein Spielzug besonders gelungen war. Sogar über die seltenen Siege seiner Gegner konnte er sich offensichtlich freuen. Aber meistens gewann er selbst und es war eine Freude, zu sehen, wie dieses raffinierte Schlitzohr seine Gegner trickreich und mit hoher Konzentration ausspielte oder wie klug er auf die Spielzüge seiner Mitspieler einging. Kurz und gut: Thomas hatte vielleicht irgendeine Macke, aber er entpuppte sich als der beste Spieler des Abends. Obwohl er zu einem ernsthaften Konkurrenten geworden war, schloss ich ihn in mein Herz.
Am Ende des Spiels hätte Thomas umständlich mit mehreren Bussen nach Hause fahren müssen. Wegen der regnerischen Kälte bot ich ihm an, ihn mit dem Auto mitzunehmen und nach einem kleinen Umweg vor seiner Haustür abzusetzen.
„Wo wohnst du?“ fragte ich, nachdem er sich auf dem Beifahrersitz angeschnallt hatte. Als ich keine Antwort bekam, sah ich ihn an. Seine Mundwinkel zuckten, seine Stirn wölbte sich gestresst, seine Augen blickten irritiert und ängstlich.
„Wie heißt deine Straße?“ fragte ich noch einmal und kramte das Navi heraus, um die Adresse einzugeben. Jetzt schnappte Thomas nach Luft, sein Gesicht lief rot an; deutlich war zu merken, wie er angestrengt nach Worten suchte. Schließlich würgte er heraus: „Fr-Fr-Fritz-z…!“
„Fritz-Reuter-Straße?“ fragte ich.
„N-N-N-Nein!“ Thomas schüttelte heftig den Kopf. Ratlos fuhr ich an den Straßenrand, hielt ihm das Navi hin und forderte ihn auf: „Tipp's einfach ein!“
Thomas schüttelte energisch und abwehrend wie ein störrisches Kind den Kopf und presste heraus: „G-Geht nicht! K-Kann nicht!“ Betretenes Schweigen trat ein. Ach du Scheiße, ein versteckter Analphabet, dachte ich und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.
Plötzlich strahlten Thomas Augen erkennend und erhellten das ganze Gesicht; er zog seinen Personalausweis hervor und deutete aufgeregt auf seine Wohnanschrift und dann auf mich. Endlich kapierte ich und tippte die Daten in's Navi, sagte anerkennend „Prima!“ und fuhr los. Thomas sah mich minutenlang schweigend und aufmerksam von der Seite an. Sein Gesicht wirkte jetzt entspannt und ausgeglichen. „Gleich sind wir zu Hause!“ sagte ich, um die Peinlichkeit zu überbrücken.
„D-Du prima!“ stotterte Thomas. “I-Ich Pro-Problem!“
„Du hast kein Problem!“ sagte ich. „Alles ist okay! Du bist ein prima Kumpel!“
„I-Ich Sch-Sch-Schlaganfall!“ presste Thomas jetzt hervor. „Jetzt Sp-Sp-Sprach- und Sch-Sch-Schreibstörung! Mo-Mo-Motorik im A-Arsch!“
Ich ging nicht darauf ein, sondern sagte: „Weißt du was, Thomas, ich würde mich freuen, wenn du ab jetzt regelmäßig bei uns mitspielst. Eine Skat-Runde kann auch auf Vier erweitert werden…!“
Thomas nickte erfreut, als sei Heiligabend und Bescherung.
In diesem Moment sagte das Navi: „Sie haben Ihr Ziel erreicht!“
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Danke, lieber Michael Brushwood, du hast viele einzelne Aspekte - auf die es mir bei dieser kleinen Geschichte ankam - erkannt.

Michael Kuss (08.12.2013)

Wie gut, dass es noch Menschen gibt, die andere Menschen, die unverschuldet schwer leiden müssen, in ihr Herz schließen und gleichberechtigt an den Freuden des Lebens teilhaben lassen!
Eine wunderschöne Geschichte, die mich in meinem Inneren zutiefst berührt hat, zumal ich aus eigenem Erleben weiß, wie schrecklich des Öfteren mit gesundheitlich beeinträchtigten Menschen umgegangen wird. Und es ist auch eine Geschichte, die einem in dieser Vorweihnachtszeit besonders zu Herzen gibt, da viele Menschen, die ein ähnliches Schicksal wie Thomas erdulden mussten, an dieser quälenden Einsamkeit förmlich zerbrechen. So wurde Thomas eine völlig neue Lebenschance eröffnet. Einfach großartig!
In diesem Sinne wünsche ich dir noch einen besinnlichen zweiten Advent und beste Grüße von Michael!


Michael Brushwood (07.12.2013)

Danke für deinen Kommentar, liebe Doska. Es handelt sich übrigens um eine - spontan aufgeschriebene - reale Begebenheit aus den letzten Tagen. Ich bin immer wieder erstaunt über die zahlreichen Möglichkeiten, unseren Alltag literarisch zu verarbeiten.

Michael Kuss (07.12.2013)

Hat mir sehr gefallen. Eine kleine anrührende Story. Prima Schreibstil, wie immer und eine gute Pointe am Schluss auf die man gespannt wartet.

doska (06.12.2013)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Schneller - Höher - Weiter  
Hüftgelenkprothesen und andere medizinische Ungereimtheiten  
Frau Müller und die online-Inserate  
Seniorenschwoof und seine Folgen  
Gute Nachbarschaft  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De