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3 Seiten

Böses Bärchen

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Böses Bärchen
oder: Wer klaut die Socken aus der Waschmaschine



Ich hatte ihn schon fast vergessen. Zusammen mit anderen Kindheitserinnerungen tief unten im Schrank vergraben. Doch beim Aufräumen tauchte er plötzlich wieder auf. Während ich mich aber in all den Jahren zu einem, wie ich hoffe, verantwortungsbewussten und rücksichtsvollen Erwachsenen entwickelt hatte, ging ihm jegliche Erziehung völlig ab.
Nicht nur, dass er nicht wenigstens ab und zu mal im Haushalt half, nein, er hatte nur Unsinn im Kopf, machte alles, was ihm gerade einfiel, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Er probierte aus, wie laut sich die Stereoanlage aufdrehen ließ, aus welcher Höhe man die hässliche Glasschale von Oma fallen lassen konnte, bevor sie zerbrach, oder was passierte, wenn man ein Smartphone in die Mikrowelle steckt.
Auch auf die Gefühle anderer nahm er wenig Rücksicht. Wenn ich es mal wieder eilig hatte und panisch meinen Autoschlüssel suchte, zitierte er buddhistische Weisheiten wie: "Nimm dir jeden Tag die Zeit, still zu sitzen und auf die Dinge zu lauschen. Achte auf die Melodie des Lebens, welche in dir schwingt." Und wenn ich vor dem Spiegel wieder mal feststellte, dass sich unter dem T-Shirt vom letzten Sommer inzwischen eine stattliche Plauze abzeichnete, staubte er demonstrativ meine teuren Joggingtreter ab, die seit zwei Jahren im Flur standen. Dabei machte er sonst doch nie etwas sauber, ließ alles stehen und liegen und hielt es nicht mal für nötig, Essensreste zu entsorgen, bevor sie vertrocknet auf dem Teller festklebten. Und den Autoschlüssel hat auch er versteckt, bin ich mir sicher. Genauso wie er auch immer einzelne Socken aus der Waschmaschine klaute.
Auch wenn wir zusammen unterwegs waren, hielt er nicht viel von Konventionen. Er drängelte sich an der Supermarktkasse vor, giftete die alte Dame, die mühsam ihr Kleingeld abzählte an, sie solle sich beeilen, ihr bleibe ohnehin nicht mehr viel Zeit und als die trotz allem freundliche Kassiererin unsere Postleitzahl wissen wollte, antwortete er schnippisch: "Ist die NSA so tief gesunken, dass sie solche Methoden anwenden muss, um an Informationen zu kommen?"
Den Zirkusleuten, die neulich in der Fußgängerzone Spenden für die Überwinterung ihrer Tiere sammelten, hielt er einen ebenso ausführlichen wie bildhaften Vortrag über die Dressur von Tanzbären, bevor er ihnen schließlich die Spendendose entriss und den Inhalt in den Plastikbecher eines Obdachlosen kippte. Ob allerdings wirklich sein Großvater dank glühender Kohlen zu einem gefeierten Star in Rumänien geworden war, sich dann aber wegen Depressionen in Bukarest von einer Brücke in die Donau gestürzt hatte, wagte ich zu bezweifeln. Schon allein deshalb, weil die Donau meines Wissens gar nicht durch Bukarest fließt. "Willst du jetzt das Andenken an meine Familie in den Dreck ziehen?", fragte er eingeschnappt und bestand auf dem Wahrheitsgehalt seiner Geschichte.
Allerdings hatte das Zusammenleben mit ihm auch gute Seiten. Wenn beispielsweise der Typ von der Telefongesellschaft mir alle paar Monate einen neuen Tarif andrehen wollte, nahm er ab, fragte, ob wir denn dann auch unseren Wunschklingelton bekommen könnten, und wenn der Typ am anderen Ende nachhakte, welcher das sei, zückte er die Trillerpfeife. Oder als die Zeugen Jehovas mal wieder unten vor der Haustür standen, brachte er sie mit seiner Frage, ob denn Teddybären in den Himmel kommen so aus dem Konzept, dass sie in unserer Straße seitdem nie wieder gesehen wurden.
Vor ein paar Tagen kam Doris zu Besuch. Doris ist eine alte Freundin. Früher haben wir mal viel zusammen unternommen, inzwischen kam sie eigentlich nur noch, wenn sie es zuhause nicht mehr aushält, wenn sie mal wieder ihren Frust über ihre unglückliche Ehe, über den Stress im Job und darüber, dass all ihre Freunde sich unerklärlicherweise von ihr abwenden, loswerden musste. So jemanden hat fast jeder in seinem Bekanntenkreis, oder nicht? Ich hörte ihr meist geduldig zu, suchte nach tröstenden Worten und servierte ihr einen ayurvedischen Tee nach dem anderen. Nach etwa drei Stunden stürmte er ins Zimmer, sprang mitten auf den Küchentisch und schrie Doris an, sie solle endlich die Fresse halten. "Guck dich doch mal an, wie du ständig mit Trauermine durch die Gegend rennst und deine Mitmenschen mit deinem Leid terrorisierst. Wenn ich dein Mann wäre, würde ich mir auch eine andere suchen, als Arbeitskollege würde ich dich auch mobben und wenn wir befreundet wären, könntest du dich glücklich schätzen, wenn ich dir bloß aus dem Weg gehen würde."
Nicht einmal ihren Tee hatte Doris noch ausgetrunken, bevor sie heulend aus der Wohnung gerannt war und seitdem nicht mal eine SMS geschickt hatte. Gut, ging ja auch nicht mehr, seitdem das Smartphone Bekanntschaft mit der Mikrowelle gemacht hatte. Vermutlich hätte ich es nicht einmal mir selbst gegenüber zugegeben, aber irgendwie war ich gar nicht so unglücklich darüber, dass Doris aus meinem Leben verschwunden war. Außerdem hörte ich später von Bekannten, sie habe sich von ihrem Mann getrennt, den Job geschmissen und lebe von Abfindung und Unterhalt jetzt irgendwo in Südamerika.
 
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