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Getrübte Gaumenfreuden

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Sommer/Urlaub/Reise · Herbst/Halloween
Die gutgelaunte Sonne schenkte den Schülern, die an jenem Septembermorgen des Jahres 1973 zur Pause auf dem Schulhof des Örtchens weilten, noch mehr als einen Hauch von Sommer. Zwei rechteckig angelegte Beete besäumten das Terrain des zweistöckigen Gebäudes, das immer noch den alten Charme des vergangenen Jahrhunderts sichtbar versprühte. Herbstrosen und andere schmucke Blüher ließen sich ebenfalls die Sommerlaune noch nicht nehmen und lächelten mit trotzigem Stolz dem Beginn des kalendarischen Herbstes entgegen, wie die etwa zweihundert Dorfschulkids, die selbst zwei Wochen nach dem Ferienende noch von ihren Ferienerlebnissen schwärmten. Manche nippten an den mit Milch gefüllten Fläschchen, andere bissen unter lautem Stimmengewirr in die Pausenbrote. Andere versuchten mithilfe von Händen und Fäustchen einige Meinungsverschiedenheiten aus dem Weg zu räumen. Und wie es in tiefsten DDR-Zeiten üblich war, gab es auch Schüler, die verwegen die verbotenen Fernseh- und Radioprogramme des Klassenfeindes ausplauderten, was natürlich allen Paukern ein Dorn im Auge war.
Ich hingegen hatte vorgezogen, einen in tiefem Weinrot schimmernden prallen Apfel, dem Pergamentpapier zu entrollen. Wie immer, wenn ich solch eine Gaumenfreude zu mir nahm, biss ich kräftig in das süße Objekt hinein, um den Happen so richtig auf den Geschmack zu legen. Doch diesmal fühlte sich dies ganz anders an. Nach einem kurzzeitigen Kribbeln auf der Zunge, traf mich urplötzlich ein kurzer stechender Schmerz, der mir einen derben Schreck einjagte. Wie von selbst schwebte mein Apfel von der rechten in die linke Hand und im selben Augenblick spuckte ich diesen ungewöhnlichen naturellen „Cocktail“ auf die freigewordene Fläche meiner rechten Hand. Ausgerechnet in jenem Moment als ich das schwarzgelbe Unheil in voller Schönheit mit eigenen Augen sah, rückte mir Herr Beyer, der für den Werkunterricht zuständige Lehrer, auf die Pelle. Wegen seiner unerbittlichen Härte hatten die meisten Kids den Kanal voll von seinen unschönen Allüren und ich sollte für ihn, so glaubte ich fest daran, wegen linker Hände, die eine unübersehbare Trottligkeit und Schüchternheit in mein Wesen gefressen hatten, als Reizfigur herhalten, an der er sich so richtig amüsierte. „Was ist denn schon wieder mit dir los!“ echauffierte er sich neugierig. Lähmende Angst durchtflutete meinen zitternden Leib. Während ich immer noch erschrocken auf das schwarzgelbe Insekt starrte, das noch drohend ihren Stachel schwang, kippte ich das Apfelstück mit Wespe zu Boden. „Ich habe soeben einen Apfel gegessen und dabei hätte ich beinahe eine Wespe verschluckt!“, sagte ich mit angehobener ängstlicher Stimme, während meine Augen noch an der Wespe, die auf dem Kiesboden, scheinbar unversehrt, sich an mein Apfelstückchen machte, klebten, um nicht die gestrengen Gesichtszüge des ungeliebten Lehrers auffangen zu müssen. „Ist 'was passiert?“, fragte Herr Beyer zynisch. „Ich glaube, die Wespe hat mich leicht in die Zunge gepiekst.“Erst jetzt gelang es mir, mit argwöhnischem Blick zu ihm aufzuschauen.„Zeig mir mal deine Zunge!“ forderte der Lehrer in vertrautem Befehlston. Der Herr des Schulhofes begutachtete diese zwar gründlich, nahm auch eine gerötete Stelle wahr. Dennoch rauschte kurz und bündig nur diese eine Bemerkung aus ihm heraus:
„Wenn deine Zunge bis übermorgen nock dick ist, musst du zu deinem Arzt gehen!“ Und das war's auch schon. Augenblicklich trat der Lehrer von mir weg. Ich atmete kurzzeitig auf, machte mir jedoch echte Sorgen. Doch diese bestätigten sich zu meinem Glück nicht. Offensichtlich hatte die Wespe doch nicht gänzlich zugestochen, sodass sich drei Tage danach die Verdickung verflüchtigt hatte, und ich keinerlei Schmerz mehr verspürte. Meinen Klassenkameraden, bei denen ich ohnehin als ewiger Prügelknabe herhalten musste, hatten zum Glück keinen Wind von jener „Horrortat“ bekommen. Als stetiger Klassentrottel galt ich ohnehin als der einzige, der imstande war, solch ein tölpelhaftes „Kunststück“ zu zelebrieren. Und dies war auch der tief im Inneren verwurzelte Glaube, der sich unbeirrt in meiner abstrusen Gedankenwelt gefangen gehalten hatte. Dennoch empfand ich den Umstand als äußerst bizarr. „Eine Wespe, die, durch einen schmalen Spalt schwebend, den Weg auf die Zunge findet, so etwas passierte doch eigentlich nur in einem Hitchcock-Film“ , geisterte es mir durch den Kopf. Doch dem war nicht so. Der völlig unerwartete Gaumenbesuch mahnte mich jedoch zu äußerster Vorsicht an. In der Zeit der Wespenplage schaute ich gleich mehr fach hin, um nicht diesen schwarzgelb gestreiften Mythen erneut zum Opfer zu fallen.
Und meine Vorsicht zahlte sich auch in diesem heißen Sommer erneut aus. Nach einer endlos langen Autofahrt unter sengender Hitze verspürte ich einen unsäglichen Durst und füllte ein Trinkglas fast bis oben mit Orangensaft. Als ich zu einem langem Zug ansetzen wollte, fuhr mir ein gewaltiger Schreck durch die Glieder. Ein schwarzgelbes Biesterchen wollte ebenfalls von meinem Orangensaft mal naschen. Doch ich konnte leider nur noch feststellen, dass die auf der Fläche schwimmende Heldin schon dem Tod nahe war. Und der Saft war freilich alles andere als appetitlich, sodass ich diesen leckeren Durstlöscher gleich mal dem Becken des stillen Örtchens überließ.

Dennoch sehe ich in den Wespen intelligente Wesen, denen auch zahllose Schädlinge zum Opfer fallen. Die meisten Menschen sehen dies jedoch ganz anders. Besonders den Käufern und Verkäufern an jenen Verkaufstheken, an denen Süßigkeiten feilgeboten werden, geht die diesjährige Wespenplage besonders an den Kragen. Dennoch stechen sie nur dann zu, wenn eine Gefahr heraufbeschworen wird – wie zum Beispiel bei hektischen Handbewegungen des Menschen, wofür panische Ängste mitverantwortlich sind.
Einen Stich aber, den haben die Wespen nicht, sondern in erster Instanz jene Zeitgenossen, die nicht gewillt sind, diesen in schwarzgelber Kluft sich stolz präsentierenden Tierchen mit dem nötigen Respekt entgegenzutreten.
 
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Kommentare  

Hallo Else: Ich hatte auch erst beim Ausspucken
in die Hand bemerkt, dass es sich tatsächlich
um eine Wespe handelte. Diese dürfte nicht voll
zugestochen haben, da sie kurz nach dem
Ausspucken noch ihren Stachel zeigte. Ich hatte
wirklich noch Glück im Unglück gehabt.
Allerdings wollte ich nicht gerade vor meinem
unbeliebtesten Lehrer als Feigling mich offen
zeigen. Vielen Dank für den sehr schönen
Kommentar!
LG. Michael


Michael Brushwood (20.08.2015)

Hallo Michael, mir ist das auch schon einmal so als Kind ergangen. Während einer Sportveranstaltung, biß ich arglos in den Pfirsich und dann spürte ich auch etwas krabbeln im Mund. Ich spuckte das "Vieh" auf den Boden und dabei stach es mir in die Lippe. Die Unterlippe schwoll sehr dick an und ich war froh, dass die Wespe mich nicht in die Zunge gestochen hatte. Dein Lehrer ist leichtsinnig gewesen, die Zunge hätte so dick anschwellen können, dass du daran hättest ersticken können. Übrigens, ich war nicht so mutig gewesen wie du, das Insekt in die Hand zu spucken.Eine zwar kleine aber aufregende Geschichte. Stilistisch gut und flüssig geschrieben. Hat sich also locker herunter gelesen und war sehr unterhaltsam.

Else08 (20.08.2015)

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