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Imhotep, der Junge aus Heliopolis - Kapitel 23

Romane/Serien · Spannendes
Kapitel 23 – Der König von Ägypten


Eje und General Haremhab sowie der Soldatenzug blickten durch das vergitterte Eisentor, direkt in den Vorgarten hinein, als sie am Königspalast Per-Aton angekommen waren. Aufgrund des hellen Mondlichts erblickten sie etwas von dem riesige Anwesen. Sie konnten jedoch bloß einen verwilderten Garten erkennen und eine lange, von Säulen getragene Pergola, die in die endlose Dunkelheit zu führen schien. Doch plötzlich sahen sie Fackellichter, die sich ihnen näherten. Einige Personen schritten durch die Pergola und kamen direkt auf sie zu. Ein gelockter Schönling, nur mit einem langen Lederrock bekleidet, welcher ihm über seinen Kniekehlen bis zu den Knöcheln reichte, öffnete das knarrende Eisentor und blickte die grimmige Mannschaft mit seinen grüngeschminkten Augenlidern spitzbubenartig lächelnd an. Sein Anblick mochte zuerst verwirren, denn man hätte ihn durchaus für eine Frau halten können, wenn seine Brust nicht flach und behaart gewesen wäre. An seinen Fingern hafteten Silberringe und um seinen Hals schmiegten sich wertvolle Edelsteinketten. Ebenso auffällig funkelten seine Ohrringe. Der Bursche klimperte regelrecht bei jedem Schritt. Er sprach etwas träge, dafür aber sehr überschwänglich, wobei er ständig mit seinen Händen gestikulierte und manchmal auffällig mit seinen Augenlidern zwinkerte. Zuerst knickste er vor allen mürrisch dreinschauenden Soldaten und ließ dabei eine kurze, quietschende Lache von sich, woraufhin er sofort die Hand vor seinem Mund hielt.
„Seid gegrüßt, hochwürdiger Wesir. Mein Name ist Pentawer. Ich bin der Kämmerer des Königs. Nun kommt Ihr Lieben doch endlich herein, der König erwartet Euch bereits sehnsüchtig. Die Herrschaften, folgt mir bitte“, begrüßte er Eje und seine Gefährten, während er ständig seine Edelsteinketten befummelte. Hinter ihm standen eng beieinander, weitere seltsame Gestalten. Ihre Gesichter waren verhüllt; sie waren bis zu ihren Augen mit farbenprächtigen Seidengewändern verschleiert, hielten Fackeln in ihren Händen und kicherten wie alberne Mädchen, obwohl sie vermutlich Männer waren.
Einen Augenblick herrschte Stillschweigen, während beide Parteien sich gegenseitig musterten.
Eje trat mit ernster Miene einen Schritt hervor, daraufhin knickste der Schönling abermals und wieder entwich ihm eine quietschende Lache. Er hielt sich sogleich wieder die Hand vor dem Mund, woraufhin die närrische Bande, die hinter ihm stand, albern prustete. Dann wedelte Pentawer wie ein Fächer fiebrig mit der Hand vor seinem Gesicht, um ein Lüftchen in dieser schwülen Nachtstunde zu spüren.
„Entschuldigt unser übermäßig freudiges Verhalten, die Herrschaften, aber Euer Besuch ist einfach hinreißend“, jauchzte er und lockte mit seinen Fingern die Soldaten herbei, die ihm ausdruckslos folgten. Der hübsche Mann stolzierte mit wackelnder Hüfte voran. Die verschleierten, kunterbunten Gestalten traten zur Seite und bestaunten tuschelnd, wie Eje und sein Gefolge an ihnen vorbeimarschierten. Haremhab spuckte zuerst verächtlich auf den Boden, bevor er als Letzter seinen Leuten folgte und dabei wachsam umherblickte.

Das Fackellicht reichte General Haremhab nicht aus, um den kompletten Vorgarten zu überschauen. Der Mondschein warf mehr Schatten, als dass es in dem total verwachsenen Garten Licht spendete. Sie liefen durch die Pergola, dessen Weg einfach nicht enden wollte, daran Efeu und Kletterrosen rankten und die Besucher letztendlich direkt vor das Palasttor führte. Diese Nacht war besonders schwülwarm. Es roch intensiv nach Blumen und Gras und irgendwoher plätscherte eine Wasserfontäne. Das Gezirpe von Grillen war zu hören.
Haremhab blickte die weiße, glatt verputzte Kalksteinmauer des Königspalastes hinauf. Noch nie zuvor hatte er ein neuwertiges Bauwerk wie das des Königspalastes Per-Aton gesehen. Aus den Fensteröffnungen sowie Balkonen drang flackerndes Licht heraus. Deutlich waren die feierlichen Musikklänge von Harfen, Handtrommeln, Flöten und johlendes Gelächter zu hören. Dies war das erste Mal, dass Haremhab diesen Königspalast zu Gesicht bekam und betrat, weil er Achetaton wie einen Schandfleck geächtet und die Stadt bisher gemieden hatte. Pharao Echnaton hatte ebenfalls die Gegenwart seines Generals gemieden, weil ihm die militärischen Angelegenheiten und Haremhabs Anwesenheit zuwider waren, und hatte stets Eje dazu beauftragt, ihm seine Befehle zu erteilen. Allerhöchstens trafen sich der Pharao und der General auf der königlichen Barke, wobei sie sich scheinheilig freundlich miteinander ausgetauscht hatten.
General Haremhab stellte fest, dass das Gebäude genauso aussah, wie es ihm Pharao Echnaton damals auf der Sonnenbarke anhand seiner Skizze präsentiert hatte. Das trapezförmige Bauwerk erstreckte sich mindestens dreißig Meter in die Höhe und auf dem Flachdach stieg ein weiteres, etwas schmaleres Trapezgebäude nochmal fünf Meter empor. Nichtsdestotrotz war der Königspalast ein komplexes Gebäude, welches sich über dreihundert Meter in die Breite erstreckte und zudem von einer über vier Meter hohen Mauer abgeschottet war. Ein unbefugtes Eindringen, direkt in den Königspalast, schien unmöglich zu sein.
Pharao Echnaton hatte seine Vision Achetaton in einer Rekordzeit von nur drei Jahren umgesetzt, dafür hatten aber auch hunderttausende Menschen Tag und Nacht schuften müssen, wobei besonders viele junge Menschen verschlissen worden waren und abertausende Arbeiter, noch vor Vollendung der Stadt, an den Folgen der körperlichen Anstrengung gestorben waren. Aber für einen lebenden Gott hatten die Ägypter damals alles aus purer Überzeugung getan, selbst wenn sie dafür ihr Leben hätten einbüßen müssen.
Eine riesige Goldkuppel bildete das Dach, ebenso waren die Kuppeldächer der vier rundgemauerten Türme vergoldet worden. Der Königspalast sowie der große Atontempel waren prunkvoll errichtet worden. Echnaton hatte zu Beginn seiner Regierungszeit die Amuntempel im Land nicht nur schließen lassen, sondern hatte überdies deren Schatzkammern beschlagnahmt und geplündert und somit seine Bauwerke mitfinanziert. Zudem hatte Echnaton ausreichend zahlungskräftige Prominente für seinen Traum überzeugen können, die ganz darauf erpicht waren, mit ihrem lebenden Gott in direkter Nachbarschaft leben zu dürfen und vor allem, in seiner Nähe bestattet zu werden.

Der feminine Hofdiener drehte sich kurz vor dem Palasttor abrupt um, wirkte plötzlich barsch und wies energisch an, dass nur dem Wesir Zutritt gewährt werden würde. Eje und Pentawer diskutierten kurz miteinander und einigten sich schließlich, dass lediglich zwei Soldaten der Streitmacht, der Oberbefehlshaber der Atonkrieger sowie General Haremhab, ihn in den Palast begleiten durften.
Während sie dem geschmeidig schlendernden Kerl durch die Empfangshalle folgten, blickte Haremhab staunend umher. Sogar die Hochreliefs an den Granitsäulen waren vergoldet sowie die kompletten Kalksteinwände, auf denen durchgehend Lobeshymnen für Gott Aton zu Ehren eingemeißelt waren. An den Wänden hafteten flammende Fackeln und ließen die Empfangshalle eindrucksvoll golden aufschimmern. Vor dem gewaltigen Holztor, welches zum Thronsaal führte, standen rechts wie links jeweils eine menschengroße Alabasterstatue des Echnaton. Beide Statuen waren identisch gearbeitet worden und hielten Geißel und Krummstab überkreuzt über ihre Brüste. Das helle, glatte Material glänzte wie Porzellan und nur die Nemes-Kopftücher sowie die Geißeln und Krummstäbe waren mit den Pharaonenfarben Blau und Gold verziert worden.
Haremhab blickte seinen Herrn stirnrunzelnd an. Was meinte dieser schräge Vogel eigentlich damit, dass der König sie erwarten würde? Welcher König? War etwa wiedermal der nubische König zu Besuch, um irgendwelche Tauschgeschäfte abzuwickeln? Eje zuckte nur ahnungslos mit seiner Schulter.
Der Thronsaal war mit Fackellichtern erhellt, ebenso spendeten massenweise riesige Bronzeschalen, darin Feuer loderten, ausreichend Licht und Wärme. Haremhab und Eje blickten auf unzählige Personen, die auf Sesseln, Liegen und Matratzen lümmelten. Sie lachten laut und tranken, sodass die feiernde Meute diesen ranghohen Besuch erst einmal gar nicht bemerkte. Inmitten dieser zwielichtigen Gesellschaft hockte die blutjunge, dreizehnjährige Meritaton und schaute verschüchtert drein. Obwohl dutzende Leute um sie herum waren, sah man dem Mädchen an, dass sie sich einsam fühlte und Angst hatte, weil sie niemand beachtete und sich mit ihr beschäftigte. Meritaton trug eine Perücke, dessen fein geflochtene Zöpfchen auf ihren Schultern lagen. Ihre Stirn war mit einem goldenen Diademreif umbunden, aus der die Köpfe eines Geiers und einer Uräusschlange ragten. Das Mädchen war demnach eine Königin. Was war bloß nur geschehen, fragte sich Eje. Dass Meritaton zu einer Königin gekrönt wurde, davon war er bislang nicht in Kenntnis gesetzt worden.
Ein süßlich riechender Rauch schwebte in der Luft. Eje wedelte angewidert mit der Hand vor seinem Gesicht und auch Haremhab rümpfte die Nase. Nach Weihrauch roch es jedenfalls nicht. Spärlich bekleidete Jünglinge und nackte körperbemalte Frauen tanzten lasziv zur Flötenmusik, die von Handtrommler im Takt begleitet wurden. Auf den kurzbeinigen Tischen lagen umgekippte Weinbecher und Essensreste herum und der mosaikgeflieste Boden klebte vor Schmutz. Die Scherben zerbrochener Weinamphoren hatte man entweder unter die Sitzgelegenheiten oder einfach in die Ecken geschoben. Haremhab stieg über eine Person, die bewusstlos in seinem eigenen Erbrochenen lag. Vielleicht war dieses verwahrloste Geschöpf sogar bereits vor Stunden dahingeschieden und niemand hatte Notiz davon genommen. Es wurde krakeelt, gelacht und gesungen. Von einer Untergangsstimmung, so wie sie hinter der Palastmauer mitten in der Stadt herrschte, war im überfüllten Thronsaal nicht annähernd etwas zu spüren.
Eje schaute umher und erblickte einige Ratten, die am Sockel entlanghuschten. Pharao Echnaton war dem Feiern zwar niemals abgeneigt, trotzdem war ihm sein Thronsaal stets heilig gewesen. Dort durfte nicht einmal laut gesprochen werden, weil es seiner Ansicht nach die persönliche Galerie des Aton war. Allerhöchstens setzte er sich auf seinen Horusthron, trank Wein und philosophierte einsam vor sich hin, wenn er wiedermal alleine sein wollte, was er in seinen letzten Monaten, nachdem seine geliebte Nofretete gestorben war, beinahe täglich so erwünscht hatte.
Eje verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und lief gemächlich zwischen den feiernden Paradiesvögeln hindurch. Es war unsäglich laut. Die Musik spielte, es wurde durcheinandergesprochen und ständig gelacht.
Eje blickte jeden einzelnen an, doch niemand störte sich an seiner Anwesenheit, weil ihn niemand wirklich wahrnahm. Ihr lautes Gelächter übertönte sogar manches Mal die feierliche Musik. Einige befummelten und liebkosten sich. Der Wesir erwischte sogar zwischen einer Couchgarnitur ein splitternacktes Pärchen dabei, wie sie es ungehemmt miteinander trieben. Selbst die fettleibige Prinzessin Iset, Echnatons drei Jahre ältere Schwester sowie die behinderte Prinzessin Henuttauneb waren anwesend. Die zweiundvierzigjährige Prinzessin Iset war eine ausgesprochen laute und skurrile Person, die nicht einmal vor Peinlichkeiten zurückschreckte, nur um im Mittelpunkt zu stehen. Iset beanspruchte mit ihrer persischen Freundin Nasira, die mit der beachtlichen Leibesfülle der Prinzessin durchaus mithalten konnte, eine komplette Couchgarnitur für sich alleine. Iset knetete hemmungslos ihre nackten Brüste und züngelte dabei mit ihr. Haremhab beobachtete unterdessen die zwei Atonkrieger, die mit Speeren ein weiteres riesiges Tor bewachten, welches aus kostbarem Ebenholz angefertigt worden war.

Hinter diesen Torflügeln stand ein schmächtiger Mann, der sein Ohr dagegen hielt und lauschte, was im Thronsaal vor sich ging. Die Erscheinung dieses jungen Mannes war ebenso extravagant und feminin, wie die meisten der feiernden Gesellschaft im Thronsaal. Sein langes, pechschwarzes Haar war zu unzähligen dünnen Zöpfen geflochten und reichte ihm bis zur Hüfte. Breit geflochtene Haarteile umwickelten sein Haupt wie eine Krone, weshalb er größer erschien, als dieser recht kleine Mann tatsächlich war. Ein dunkles Gewand, bestickt mit violett und weinrotem Garn, welches wie ein Umhang auf dem Boden schleifte, umhüllte seine knabenhafte Körperstatue. Aus dem tiefen Ausschnitt seines Kostüms blitzte ein goldenes Medaillon hervor, auf dem das Zeichen des Sonnengottes Aton gestanzt war. Besonders auffällig waren seine mit Blattgold überzogenen Fingernägel. Er schloss seine schwarz geschminkten Augenlider, legte seinen Kopf weit in den Nacken zurück und zog die Torflügel kräftig auseinander. Sogleich stießen die Palastwächter im Thronsaal mit ihren Speeren dreimal auf den Boden auf, um die Aufmerksamkeit aller zu erlangen.
„Semenchkare … Anch-cheperu-Re, Herr beider Länder, der König von Ägypten, betritt den Thronsaal!“, riefen sie zugleich.
Ohne den Besuchern eines Blickes zu würdigen, schritt der fünfundzwanzigjährige Semenchkare zielstrebig zum Horusthron und setzte sich kerzengerade hin, wobei er seine Arme auf die mächtigen Lehnen abstützte. Geißel und Krummstab hatte er nicht über seine Brust gekreuzt, schließlich war er kein Pharao. Hinter der Rückenlehne des Horusthrons waren jeweils zwei mächtige goldene Falkenflügel anmontiert worden, die sich majestätisch ausbreiteten und wahrlich Eindruck schindeten. Und über der Kopflehne des beeindruckenden Thrones, blitze aus purem Gold das Zeichen des Gottes Aton hervor.
Seine geschminkten Augen blickten bedrohlich und selbstsicher zugleich drein. Die Ähnlichkeit mit Echnaton war einfach nicht zu übersehen, obwohl sein Gesicht um einiges hübscher zu bezeichnen war, und sein spitzbubenhaftes Lächeln ähnelte verblüffend dem des Tutanchamuns, wenn der Lausbub wiedermal etwas ausgeheckt hatte. Jedoch hatte König Semenchkare nicht die Körpergröße des Echnaton geerbt.
Eje trat langsam auf ihn zu, ließ dabei seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und erwiderte seinen stechenden Blick. Ejes geschminkte Augen blickten ebenso, wenn nicht sogar etwas gefährlicher drein. Semenchkare grinste kurz, bevor er sprach.
„Seid gegrüßt, Eje, wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Doch sagt, wollt Ihr nicht allererst meine Gemahlin Meritaton begrüßen, wie es einer Königin gebührt?“, fragte er frech. „Wo bleiben Eure Manieren, ehrenwerter Wesir?“
„Ersparen wir uns die Floskeln und kommen gleich zur Sache, mein Sohn. Du wirst deine absurde Forderung beim Komitee auf der Stelle zurücknehmen, damit das Votum wieder rechtskräftig wird, ich meines Amtes walten und den zukünftigen Pharao rechtmäßig betreuen kann … Du selbsternannter König von Ägypten“, spottete Eje. „Selbst wenn das anwesende Gesindel dich einstimmig zum König ernannt hat, ist dies lange nicht rechtskräftig. Für diese unrechtmäßige Amtsanmaßung wirst du dich verantworten müssen. Was dies für dich bedeutet, kannst du dir ja denken!“
Semenchkare schmunzelte erhaben und schnippte mit seinen Fingern, worauf sein Schreiber Ramose, dessen Erscheinung Eje für akzeptabel hielt, die Treppenstufen hinabstieg und auf ihn zuging, sich kurz vor dem Wesir verneigte und ihm dann eine Schriftrolle überreichte. Ramose stieg die Treppenstufen zum Horusthron wieder hinauf und platzierte sich neben dem König.
Eje verzog gelangweilt seinen Mund, rollte das Papyrusschreiben auseinander und las. Mittlerweile war die Musik verstummt und die Tänzer sowie Tänzerinnen waren durch das geöffnete Saaltor gehuscht. Eje zeigte, während er die Hieroglyphen studierte, keinerlei Regung. Dann blickte er Semenchkare scharf an, der kerzengrade auf dem Horusthron saß und den Wesir unentwegt anstarrte. Eje öffnete einfach seine Hände, wobei das Schriftstück in sich zusammenrollte und zu Boden fiel.
Auf der Papyrusrolle stand die amtliche Bestätigung geschrieben, dass Pharao Echnaton Semenchkare als seinen Bruder akzeptiert hat, und dass Semenchkare mit seiner ältesten Tochter, Prinzessin Meritaton, tatsächlich vermählt wurde. Überdies beglaubigte dieses Schreiben die Krönung des Ehepaares, vollzogen von Pharao Echnaton persönlich. Zudem hatte Echnaton seinen Halbbruder vor über einem Jahr offiziell zu seinen Mitregenten ernannt, was bedeutete, dass Semenchkare in das Regierungsamt eingeweiht wurde und rechtmäßig, bis der neue Pharao gekrönt wird, gemeinsam mit dem Komitee das Land regieren musste. Semenchkare war demnach kein Aufschneider, der einfach unüberlegt im Größenwahn sich selbst zu einem König ernannt hatte. Pharao Echnaton hatte dieses Schriftstück sogar mit seinem Thronnamen bestätigt.
Semenchkare war tatsächlich der König von Ägypten und zudem war er nachweislich ein Verwandter vom kleinen Tutanchamun und seiner Schwester Anchesenamun. Die Obhut der Kinder, insbesondre die Vormundschaft des kleinen Pharaos, stand ihm rechtlich zu.
Echnaton hatte dies nicht ohne Grund getan. Der Pharao hatte Sympathie für Semenchkare empfunden, weil er ihn aufrichtig verehrt und täglich wissbegierig nach seinen Worten gelauscht hatte. Zudem hatte der Halbbruder den Pharao zu Lebzeiten inspiriert; Semenchkare hatte künstlerische Vorschläge geäußert, welche Echnaton oftmals ernsthaft in Betracht gezogen und manches Mal gar umgesetzt hatte. Außerdem verstand es Semenchkare zu feiern, wie es dem Sonnenkönig gefallen hatte. Semenchkares Freundeskreis war ebenso ganz nach seinem Geschmack gewesen: Schrill, extravagant, ungestüm laut und jeder von ihnen verehrte Aton. Sogar Königin Nofretete hatte ihren verrückten Schwager akzeptiert und hatte damals der Vermählung mit ihrer ältesten Tochter anstandslos eingewilligt. Echnaton war misstrauisch genug gewesen, um sogar mit einem möglichen Mordanschlag zu rechnen. Seinen plötzlich erschienen Halbbruder hatte der Pharao blindlings vertraut, weil Semenchkare ihm ähnlicher war, als damals sein leiblicher Bruder Thotmoses.

Eje schmunzelte, während er mit seinen Sandalen demonstrativ auf das Papyrusschreiben trat.
„Das ist nicht einmal Echnatons Handschrift, mein allzu junger Freund. Du bist ein Betrüger und wirst dich dafür verantworten müssen. Wir führten doch nun wirklich oft genug Dispute miteinander und ich dachte immer, du wüsstest mittlerweile, mit wem du es zu tun hast. Hiermit fordere ich dich ein letztes Mal auf, deinen Vormundschaftsantrag beim Komitee schriftlich zu widerlegen. Als Gegenleistung gewähre ich dir offiziell den Prinzentitel und überlasse Achetaton deiner Obhut. Mögest du dann alleine, wie ein Gaufürst über eine Provinz, über diese Stadt herrschen. Überdenke deine Entscheidung, lasse dir aber nicht allzu lange Zeit dafür, denn dieses Angebot ist nicht dauerhaft!“
Semenchkare lachte laut auf.
„Glaubt Ihr etwa in der Tat, ehrenwerter Eje, Ihr seid nun im Besitz des originalen Schriftstückes?“
Ejes Blick verfinsterte sich.
„Glaubt Ihr etwa, ich sei töricht genug, Euch das Original auszuhändigen? Selbstverständlich habe ich Echnatons amtliche Beglaubigung von meinem Schreiber Ramose kopieren lassen. Seid Euch dessen bewusst, ich bin der König beider Länder. Akzeptiert dies! Theben hat es ebenfalls akzeptiert! Nun verlange ich die Aushändigung meines geliebten Neffen Tutanchaton. Meine Nichte Anchesenpaaton verlange ich ebenfalls, sofort! Hier in meinem Palast wurde er geboren, hier soll er regieren und hier in Achetaton wird er eines Tages bestattet werden. Ich gab Echnaton mein Wort. So soll es geschehen!“
„Tutanchamun lautet mittlerweile offiziell der Eigenname des Thronfolgers“, verbesserte Eje ihn gelangweilt. Daraufhin kniff Semenchkare seine Augen zusammen. Was für ein Sakrileg man seinen unschuldigen Neffen aufgebürdet hatte, dachte er.
Der Wesir blickte kurz hinter seine Schulter und sah zur Couchreihe hinüber. Soeben überreichte Prinzessin Iset, die von einer Dampfwolke umhüllt war, eine aus Elfenbein gearbeitete Wasserpfeife an einen Mann (oder war er gar eine Frau?), der Nofretetes zylindrische blaue Königinkrone etwas schräg auf seinem Kopf trug. Iset glotzte ihn zuerst nur großäugig an – ihre Perücke war wiedermal verrutscht –, deutete mit dem Finger auf ihre breite Nase, schielte dabei und schnaufte durch ihre geblähten Nasenflügeln eine Rauchschwade heraus. Ihre Freundin Nasira klatschte sogleich ihre Hand auf ihren prallen Schenkel und lachte heiser. Der Mann, auf dessen Kopf die Königinkrone lag, steckte sich den Schlauch der Wasserpfeife in seinen Mund, während Prinzessin Iset etwas von einer Schlafmohnblüte in das Schillum streute und es mit einem brennenden Holzstäbchen anzündete. Er inhalierte ein paar Mal, hüstelte kurz und sackte entspannt in die weichen Couchkissen zurück. Er blies den Rauch wieder aus, welcher wie eine Vulkanwolke aus seinem Schlund herausströmte, wobei er einen äußerst zufriedenen Gesichtsausdruck machte. Jeder war amüsiert, lautes Gelächter erfüllte den Thronsaal und es wirkte geradezu gespenstisch, wie die Gesellschaft sich mit ihrer teuflischen Lache gegenseitig ansteckte.
Prinzessin Iset klatschte plötzlich hektisch in die Hände und schrie: „Ruhe!“, und es folgte Stille. Alle schauten sie an. Sie blickte mit weit geöffneten Augen in die Runde, und als ihr jeder stillschweigend die Aufmerksamkeit widmete, kreischte sie mit ihrer schrillen Stimme: „Achtung!“ Dann streckte sie ihren prallen Hintern dem zugedröhnten Kronenträger entgegen und furzte ihm mächtig ins Gesicht. Ein tosendes Gelächter brach aus, gefolgt von Applaus und schrillen Pfiffen. Prinzessin Iset wurde bejubelt, sie breitete ihre Arme auseinander und ließ sich feiern. Iset fühlte sich in diesem Augenblick, als wäre sie die wahre Königin von Ägypten.
Eje schlenderte unterdessen zwischen der grölenden Meute hindurch, legte einfach sein Gewand ab, zerrte sein Kopftuch herunter und schleuderte es weg. Sein Kahlkopf kam zum Vorschein, nur seitlich und am Hinterkopf sah man stoppelige graue Haare und sein wohlgenährter Oberkörper strahlte die pure Kraft aus. Sein Lederschurz knirschte mit jedem Schritt und mit seinen geschminkten Augenlidern blickte er bedrohlich drein. Plötzlich ergriff er Haremhabs Kurzschwert und zog es blitzschnell aus der Scheide heraus. Der General war verblüfft. Noch nie zuvor war es irgendjemanden gelungen, nicht einmal auf einem Schlachtfeld, General Haremhab das Schwert zu entnehmen, und nun hielt ein fünfundsechzigjähriger Mann, der sonst gewöhnlich nur die Schreibfeder zückte, plötzlich sein Schwert in der Hand, was ihn zugegeben beeindruckte.
Eje hielt dem gekifften Kerl, der albern kicherte und zugleich die Nase rümpfte und mit der Hand vor seinem Gesicht wedelte, die Schwertklinge an die Kehle. Die scharf geschliffene Bronzeschneide schmiegte sich sachte in sein Fleisch hinein. Blut rann über seinen Kehlkopf und besudelte sein seidenes Kostüm, woraufhin der Kerl augenblicklich verstummte. Jede anwesende Person hörte abrupt zu lachen auf. Eje blickte Semenchkare, der auf dem Horusthron wie ein Pharao saß und seine Arme lässig auf den Lehnen abstützte, warnend an.
„Sag Es, dass Es augenblicklich die Krone abzusetzen hat, oder ich werde es tun … Samt Schädel!“
Einen Moment hielt die Stille, niemand wagte es zu widersprechen. Dann machte Semenchkare gelangweilt eine Handbewegung, woraufhin Prinzessin Iset die Krone von dessen Haupt abnahm, diese fest umklammerte und Eje dabei entsetzt anblickte.
„Dies hier ist kein Thronsaal, sondern ein abscheuliches Hurenhaus!“, brüllte Eje wütend, während er mit dem Kurzschwert wild herumfuchtelte. Seine Worte hallten im Thronsaal und jeder starrte ihn erschrocken an. Nun hatte auch der letzte Partygast vernommen, dass der Wesir von Ägypten anwesend war und eine Forderung stellte.
„Niemals wird der zukünftige Pharao hier hausen, niemals! Bei aller Macht, die mir zusteht, werde ich es verhindern!“
Eje ging zielstrebig auf den Balkon zu und deutete mit dem Kurzschwert in die Nacht hinaus. In der Dunkelheit war das Ausmaß der Zerstörung besonders gut zu erkennen. Flächendeckend loderten Flammen empor und ständig flogen angezündete Pfeilgeschosse durch die Nacht. Die Wüste leuchtete regelrecht.
„Deine Stadt brennt, König. Du bist dem Untergang geweiht! Gib auf und kapituliere endlich, verlasse Ägypten und ich garantiere dir und der Prinzessin Iset einen angemessenen Reichtum. Überdies garantiere ich euch, dass ihr eure Titel, Prinz und Prinzessin behalten dürft“, schlug ihm Eje diplomatisch vor, doch Semenchkare hielt eisern dagegen.
„Lächerlich. Ihr seid gar nicht in der Position, mir, dem König von Ägypten, Vorschriften zu machen! Das Komitee steht hinter mir und die Bevölkerung sieht auf Achetaton. Ich gab Echnaton mein Wort. Tutanchaton und seine zukünftige Gemahlin kommen zu mir, in meinen Königspalast, in meine Obhut. Das Komitee hat entschieden. Ihr seid gegen diesen Beschluss machtlos, ehrenwerter Eje. Ich habe nun das Sagen, nicht Ihr … Ihr nicht mehr!“
„Was habe ich mit dieser Angelegenheit überhaupt zu tun?!“, kreischte Prinzessin Iset, während sie sich empört aus der Couchgarnitur schwermütig erhob. Sogleich stolperte sie und landete mit ihrem prallen Hintern auf den Tisch, wobei die Wasserpfeife und einige Weinkelche zu Boden fielen. Wutschäumend blickte sie zu ihm herüber, wobei sie ihre Perücke richtete.
„Weshalb verlangt Ihr, dass auch ich Ägypten verlassen soll? Es steht Euch nicht zu, eine Prinzessin aus ihrem eigenen Land zu verweisen. Das ist unerhört. Ihr könnt mich niemals aus Ägypten verbannen. Ich könnte Euch hinrichten lassen, wenn ich es befehle! “, kreischte sie zornig.
Eje deutete mit dem Kurzschwert direkt auf die Prinzessin und eilte bedrohlich auf sie zu, bis die Schwertspitze ihr Doppelkinn berührte. Prinzessin Iset blickte erschrocken drein und schluckte.
„Doch das kann ich und werde es tun, weil Ihr, sowie alle anwesenden Kreaturen hier, eine Landesverräterin seid, Gnädigste. Allein nur mit Eurer Anwesenheit unterstützt Ihr diese schandhafte Machenschaft, dass unser zukünftiger Pharao verwahrlost aufwächst und unser Reich untergehen wird!“
Semenchkare beendete die Diskussion mit einer Handbewegung und gab somit kund, dass er nicht einverstanden war, aber einen Vorschlag vorzutragen hat. Er atmete einmal tief durch und versuchte, Eje zu überzeugen.
„Geehrter Eje, lasst uns vernünftig sein. Die Kuratel meines geliebten Neffen steht mir rechtlich zu, dagegen könnt Ihr nichts unternehmen. Begreift es endlich! Aber ich versichere Euch, dass Tutanchaton … ich meinte, Tutanchamun, hier in Achetaton behütet erzogen wird. Ich garantiere Euch, dass ich die Vormundschaft niemals missbrauchen und stets nach dem Willen des jungen Pharao handeln werde. Ihr werdet stets ein gern gesehener Gast in Per-Aton sein und dürft Euch jederzeit selbst davon überzeugen, dass ich unseren zukünftigen Pharao gewissenhaft erziehen und vertreten werde.“
Doch Eje gab ebenso noch nicht auf.
„Nun, wenn dem so ist“, lenkte Eje listig ein, „lade ich dich und die Prinzessin freundlichst auf eine Fahrt mit der Königsbarke ein. Kommt mit mir nach Memphis und hole deinen Neffen persönlich ab. Sollte der kleine Prinz dir wohlwollend folgen, weil er dir vertraut, werde ich mich vor dir verneigen und dich um Verzeihung bitten.“
Daraufhin ging ein Raunen umher. Semenchkare grübelte und es schien, als ob er diesen Vorschlag ernsthaft in Erwägung zog. Ihm war nur wichtig, dass Tutanchamun unter seinen Fittichen geriet, somit hätte er die Macht, den Atonkult zukünftig aufrechtzuerhalten und könnte jahrelang das ägyptische Reich regieren. Außerdem fühlte er sich geschmeichelt und es reizte ihn, als Ehrengast mit der königlichen Barke nach Memphis chauffiert zu werden. Somit würde auch das Volk in Unterägypten sehen, dass er nun der König von Ägypten ist.
„Scheiß doch auf Euch, Wesir!“, schaltete sich die Prinzessin hasserfüllt ein, während sie ihre Perücke abermals richtete und auf ihn torkelte. „Unterwegs werdet Ihr uns die Kehle durchschneiden und unsere Leiber dann im Nil den Krokodilen zum Fraß vorwerfen!“, kreischte sie mit ihrer schrillen Stimme und spuckte verächtlich vor seine Füße. Ein empörtes Getuschel raunte durch den Thronsaal.
Semenchkare stutzte und beugte sich etwas aus dem Horusthron hervor.
„Augenblick … Sie hat recht. Ihr wollt mich hintergehen und mich beseitigen. Daraus wird aber nichts, ehrenwerter Eje. Ich warne Euch, mir unterliegt eine dreitausend Mann starke Armee loyal zu Füßen! Ich gebe Achetaton niemals auf und werde Euch meine geballte Faust noch mit dem letzten Atemzug entgegenstrecken! Das schwöre ich beim allmächtigen Aton!“, fauchte Semenchkare mit gekniffenen Augen fuchsteufelswild. „Ich werde Euch bezwingen, Euch zerstückeln lassen und Eure Leichenteile werde ich persönlich im ganzen Land verteilen! Du niederträchtiger Seth!“
Eje schmunzelte, drehte sich Haremhab entgegen und blickte ihn fragend an. Haremhab lächelte nur.
„Ich habe das Militär etwas umstrukturiert, hoher Herr, weil der Norden aufgrund der Bedrohung seitens der Hethiter geschützt werden muss. Nach dem aktuellen Stand dürfte die Streitmacht etwa dreihundertfünfzigtausend Mann stark sein. Die Kriegsflotten auf der See und die Infanterie außer Lande habe ich jetzt ausnahmsweise nicht mitgezählt. Zwanzigtausend Soldaten aus oberägyptischen Forts dürften trotz alledem problemlos sofort abrufbar sein.“
Eje und Semenchkare blickten sich unentwegt scharf an. Dann übergab der Wesir Haremhab sein Schwert.
„Du hast es gehört. Ich erwarte rasch eine Entscheidung von dir … Mein König.“

Die Verhandlungen waren gescheitert. Während der Oberbefehlshaber der Atonkrieger mit seinen Soldaten tuschelte, verließen Eje und seine Gefährten missmutig den Königspalast. Semenchkare hielt die Faust auf seinen Mund, überlegte und schnippte schließlich Ramose herbei. Mit seinen schwarz geschminkten Augenlidern blickte er apathisch vor sich hin.
„Sprich, Schreiber. Welchen klugen Rat gibst du mir? Was ist realistisch? Kann ich der Streitkraft trotzen, auch wenn sie überlegen ist? Ich bin immerhin der König von Ägypten. Theben hat dies akzeptiert. Ist es möglich, Eje irgendwie zu stürzen und Haremhab seines Amtes zu entmachten? Dieser verfluchte General scheint mir gar der Mächtigere von diesen beiden Eselspflügern zu sein. Das Volk liebt ihn und seine Soldaten werden ihm bis in den Tod folgen. Diesem Hurensohn traue ich sogar zu, dass er die Gesetze der Götter missachtet und den Palast stürmt.“
Ramose spitzte die Lippen und nickte sachte. Der Gelehrte sah die einmalige Gelegenheit, selbst an die Macht zu gelangen. Sobald der junge Thronfolger Tutanchamun in die Fittiche des Königs geriet, würde Semenchkare sicherlich Eje seines Amtes entmachten und dafür ihn, Ramose, den begehrten Posten als Minister des schwarzen Landes übergeben.
„Ihr müsst verstehen, mein König, dass das Komitee zurzeit siebzig Tage lang das Land regiert und Entscheidungen fällt, bis der neue Pharao Tutanchamun gekrönt wird. Man wird Euch solange nur des Prestiges wegen ein Mitspracherecht gewähren, aber letztendlich wäre Eure Meinung unbedeutend. Der Wesir Eje gehört nicht nur dem Komitee in Theben an, sondern wurde mittlerweile sogar als ein Mitglied des Königshauses anerkannt und dennoch haben sie Echnatons Schriftstück akzeptiert. Damit haben sie eindeutig gegen Eje entschieden. Eure Chancen stehen meines Erachtens ausgezeichnet, Majestät. Eje hat demnach Feinde im Komitee und einen unbedachten Angriff auf den Königspalast von Achetaton könnte sich dieser ungehobelte General ebenfalls nicht ohne weiteres erlauben. Wie mir zu Ohren kam ist Haremhab der engste Vertraute des Eje, und somit würde man dem Wesir die Verantwortung aller törichten Handlungen zuschreiben. Beide Köpfe würden rollen, Hoheit“, lächelte Ramose zuversichtlich. „Euer Neffe, Tutanchamun … Eje wird ihn Euch spätestens nachdem die Gruft Echnatons geschlossen wurde, unverzüglich ausliefern müssen, weil das Land von einem Pharao regiert werden muss. So besagt es das Gesetz der Götter Ägyptens!“
Semenchkare lehnte sich im Horusthron zurück, atmete erleichtert auf, aber hielt weiterhin seine Faust grübelnd vor dem Mund. Doch, ihm war sehr wohl bewusst, mit wem er sich angelegt hat. Ihm war klar, dass Eje und Haremhab äußerst mächtige und gefährliche Gegner waren, die ihn stürzen und den Aton-Kult auslöschen konnten. Pharao Echnaton hatte ihn gewarnt, sollte es ihm nach seinen Tod nicht gelingen, Aton als Reichsgott aufrechtzuerhalten, würde er niemals das Paradies erleben, welches Osiris’ Totenreich weitaus übertraf, und die Nachwelt würde niemals erfahren, dass es nur einen einzigen wahren Gott geben würde.

Eje und Haremhab sowie der Soldatenzug marschierten gefrustet durch die Stadt, die zurzeit einem Schlachtfeld glich. Der Vollmond leuchtete grell am sternenklaren Himmel, während ständig brennende Pfeilgeschosse durch die Luft sausten. Kriegsgebrüll und wehleidige Schreie von Frauen und Kinder waren überall zu hören, als Eje und Haremhab quer durch einen angelegte Park marschierten. Aus einer lichterloh brennenden Palme schlugen mächtige Flammen empor. Eje blieb plötzlich stehen, packte General Haremhab an seinen kräftigen Bizeps und schaute ihm zornig ins Gesicht. Hinter ihnen knallte und knisterte die entflammte Palme. Abertausende Funken sprühten umher.
„Haremhab, mir soll jedes Mittel recht sein, nur schaff mir diesen verfluchten König aus dem Land. Zwing ihn, dass er seinen Kuratel-Antrag zurücknimmt, oder besser noch … Töte ihn. Töte Semenchkare, aber irgendwie legal, sodass es gerechtfertigt erscheint. Es gibt keine Alternative. Du musst ihn beseitigen, oder Kemet wird untergehen!“
Noch nie zuvor hatte der engste Vertraute des Wesirs seinen Mentor derartig unbeherrscht erlebt. Eje war bereits Mitte sechzig und noch immer steckte in ihm das Leben eines Dreißigjährigen. Seine Willenskraft war bemerkenswert und sein Zorn immer noch furchterregend und respekteinflößend. Haremhab räusperte sich kurz und blickte ihn mit seinen müde wirkenden Augen beherrscht an.
„Ich verstehe deinen Unmut, hoher Herr, aber es wäre unklug einfach herzugehen und diesen Mistkerl unüberlegt aus der Welt zu schaffen. Doch ich habe bereits einen Plan.“
Ejes Augen funkelten. „Welchen?“, entwich es ihm ungeduldig.
„Ihr habt ihn gehört. Er verfügt über dreitausend Soldaten und ich gehe davon aus, dass sich zurzeit mindestens ein Drittel der Atonarmee in der Stadt aufhält. Diese Soldaten sind zwar mit dem Mob beschäftigt und glauben, dass wir sie bald unterstützen, aber irgendwann werden sie ihr Schwert gegen uns richten. Außerdem müssen wir damit rechnen, dass sich im Land vermutlich Söldnertruppen bilden, die uns aus dem Hinterhalt angreifen werden. Das sind immerhin sehr viele Soldaten, viele von ihnen sind nicht älter als zwanzig Jahre, was bedeutet, dass sie mit dem Sonnenkult aufgewachsen sind und sie, genauso wie wir, bereit sind für ihren Gott zu kämpfen und zu sterben. Es droht die Gefahr, dass die junge Generation sich verbündet und dann herrschen bald in Theben und vermutlich auch in Memphis ähnliche Zustände wie hier in Achetaton. Den Königspalast schlichtweg anzugreifen und Echnatons König zu massakrieren, könnte Empörung und einen Bürgerkrieg auslösen, welchen man Euch letztendlich zuschreiben wird. Er hat nun die Aufmerksamkeit des Volkes auf sich gelenkt und wir müssen demnach in Kürze mit der Ankunft sämtlicher Boten aus allen Städten Ägyptens rechnen. Der Bevölkerung dürstet es nach Neuigkeiten, was in Achetaton vor sich geht und wer dieser neue König Semenchkare ist. Diesen Rebellen könnte es möglicherweise gar gelingen, die Sympathie des Volkes zu erlangen“, warnte er.
Eje runzelte nachdenklich die Stirn. General Haremhabs Vermutung könnte sich bewahrheiten. Immerhin strömten mittlerweile genügend Menschen herbei, die zum Kämpfen oder Plündern bereit waren oder nur ihre Neugierde stillen wollten. Achetaton war zurzeit das Hauptthema von Ägypten, sie war die Hauptstadt und es war völlig ungewiss, welcher Reichsgott zukünftig über Kemet herrschen würde. Überdies würde man gar das abgehaltene Votum bald infrage stellen und man würde peinlichst genau nachforschen, inwieweit sich der Vormundschaftsantrag mit dem urplötzlichen Ableben des Pharao Echnaton assoziieren lässt.
„Dein Vorschlag wäre demnach?“, fragte Eje nachdrücklich.
„Wir beantragen beim Komitee ganz legal die Genehmigung für eine Belagerung, mit der Begründung, dass Achetaton geschützt werden muss. Wir üben uns einfach in Geduld und zermürben die separatistische Bande, indem wir die Stadt schlichtweg belagern. Niemand wird hineingelassen, allen Bürgern dagegen garantieren wir eine reibungslose Flucht. Die Stadttore werden von nun ab kontrolliert. Plünderer werden abgefangen und sofort hingerichtet. Achetaton ist lediglich eine Wüstenstadt, erschaffen auf unfruchtbarem Boden. Sie waren stets auf die Güter der Nilstädte angewiesen. Selbst das lebensnotwendige Wasser ließ sich das hochnäsige Pack für eine Handvoll Getreide von armen Bauern aus dem Fluss schöpfen und diese füllten dann ihre Brunnen. Die Tempelsilos sind ausschließlich mit Gold und Edelsteine gefüllt, davon werden sie sich kaum ernähren können. Wir werden diesen Bastard samt seinem Gefolge aushungern lassen und ihre Wassertränken verseuchen wir mit Tierkadavern. Ihr werdet zusehen können, wie auch die letzten Soldaten des Aton freiwillig zu uns übertreten werden. Und dann wird der König irgendwann verzagt den ersten Pfeil abschießen, woraufhin wir uns selbstverständlich verteidigen müssen. Herr … Der König der Ratten haust in einer Mausefalle und hat sich selbst darin eingefangen“, grinste Haremhab.
Zudem versicherte Haremhab, dass er die Boten abfangen und ihnen seine eigene Version über König Semenchkare und die zugetragenen Ereignisse vermitteln würde, diese Botschaft würden sie wiederum letztendlich dem Volk verlauten. Aber die wahren Geschehnisse, die sich tatsächlich zutragen, würde Eje durch einen vertrauenswürdigen Boten erfahren. Eje schöpfte wieder Hoffnung. Die Boten des Landes zu benutzen, um Semenchkare auszuspielen, schien ihm genial.
„Genauso machen wir es, mein treu ergebener Diener“, sprach Eje verheißungsvoll. „Und ich werde derweil veranlassen, dass die Krönung des Prinzen auf unbestimmte Zeit vertagt wird. Solange der Knabe noch nicht zum Pharao gekrönt wurde, bedarf es auch keine Vormundschaft seiner Person und somit muss Tutanchamun diesem Barbaren nicht ausgehändigt werden. Das Königshaus wird mir gewiss zustimmen und das Komitee sowie der Hohepriester müssen akzeptieren. Du hast recht, Haremhab … Üben wir uns in Geduld. Wir zermürben die Rebellen und lassen sie aushungern. Der Sieg wird unser sein.“
Plötzlich krachte und knallte es hinter ihnen bedrohlich. Die Männer blickten zugleich über ihre Schultern. Die von Flammen verzehrte Palme brach in sich zusammen, knickte ein und entflammte zwei weitere subtropische Bäume. Von irgendwoher ertönte Kriegsgeschrei.
„Aber das Land kann und darf niemals ohne einen Pharao regiert werden. Das ist das Gesetz der Götter!“, erwiderte Haremhab aufgebracht. „Spätestens dann, wenn die Mumifizierungsrituale des Echnaton vollbracht sind und man ihn in seiner Gruft verschließt, wird Euch das Komitee und das Königshaus auffordern, den Prinzen auf der Stelle zu krönen. Ist Tutanchamun dann zum Pharao gekrönt worden, muss er Semenchkare ausgeliefert werden, weil er der rechtmäßige Vormund ist. Und was gedenkst du, Herr, dann zu unternehmen?“
Der Wesir aber wirkte zuversichtlich und nun schien es so, dass er die Situation wieder unter Kontrolle hatte.
„Wisse, mein Freund, dies entspricht nicht exakt den Schriftrollen der Maat. Ein Pharao verkörpert den Sohn des Osiris, er ist demnach ein lebendiger Gott und zugleich der König des Landes. Ein normaler König dagegen ist nur ein sterblicher Mensch und keineswegs der Pharao, kein lebender Gott, wenn er nicht vom Hohepriester persönlich gekrönt wurde. Es steht lediglich geschrieben, das Land muss von einem König regiert werden.“
Eje blieb vor einer Zisterne stehen, erfrischte sein Gesicht und wischte sich die schwarze Schminke ab. Er lächelte und wirkte wieder zufrieden.
„Wir haben doch einen König. Das Komitee wird demnach das Königshaus zu nichts drängen können. Die törichten Schwachköpfe in Theben haben ihn akzeptiert, nur um mir eins auszuwischen. Jetzt schlagen wir zurück!“, schmunzelte er. „Haremhab, hiermit erteile ich dir uneingeschränkte Befehlsgewalt, dafür verlange ich aber von dir einen garantierten Sieg. Eine Niederlage ist absolut inakzeptabel. Sobald du glaubst, dass die Zeit gekommen ist, stürmst du den Palast. Vernichte dieses Gesindel!“
Haremhab verneigte sich vor seinem Herrn. Eje musste schnellstmöglich nach Theben in das Einbalsamierungshaus reisen, um die Mumifizierung des Echnaton zu betreuen. Dies war ein weiteres Problem, welches ihn erwartete. Der Hohepriester Ahmose hatte Pharao Echnaton der Ketzerei bezichtigt und versuchte mit aller Macht das Mumifizierungsritual zu unterbinden. Die Empörung der Tempelpriester war unermesslich, aber Eje vermochte seine persönlichen Gefühle stets abzulegen. Was auch immer geschehen war, Echnaton war ein Pharao und ihm stand eine würdige Bestattung zu. Eje mochte vielleicht ein skrupelloser, machthungriger Staatsmann sein, trotz alledem achtete er stets darauf, dass das Ansehen seines Landes unbescholten blieb. Was sollten schließlich die Nachbarstaaten über das mächtige ägyptische Reich denken, wenn bekannt werden würde, dass einem Pharao das Totenreich verwehrt wurde?
Die Morgendämmerung trat ein. Die Sonne blitzte wie ein glühendes Brikett aus dem östlichen Talgebirge hervor. Haremhab und Oberst Ramses begleiteten Eje zum Hafen von Achetaton und sahen zu, wie der Wesir mit ein paar Kriegsschiffen gen Süden nach Theben segelte.
 
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Kommentare  

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LGF


Francis Dille (06.05.2021)

Dein Roman um Tutanchenamun ist sehr spannend und lesenswert. Es wundert mich das man dir nicht kommentiert. Ich hoffe das du trotzdem weiter schreibst. Tinkerbell grüßt dich.

Tinkerbell (05.04.2021)

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