369


17 Seiten

Mission Titanic - Kapitel 21

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 21 – Das Meer der Vergangenheit

United Europe, Centrum

Ein Warnsignal ertönte und die gelben Rundumleuchten rotierten, woraufhin alle Panzertüren im Checkpoint zeitgleich herunterschnellten. Nachdem Ike mit Eloise auf seinen Armen haltend durch das Zeitfenster gestolpert war, legte er seine Nickelbrille auf eine Vorrichtung, um die nötigen Passwörter sowie Henrys Videobotschaft über den Hauptcomputer direkt zur Sicherheitszentrale zu übertragen. Mithilfe der geheimen Passwörter, die in seiner technologischen Brille gespeichert waren, konnte Ike eine Inhaftierung zwar vorerst abwenden, trotzdem musste er sich vom stellvertretenen Geheimdienstchef, Agent Nicolas Verhoeven, zuerst verhören lassen.
Während Eloise eilig hinunter in die 145. Etage zum Memorial Hospital transportiert wurde, dort bereits die Vorbereitungen für eine Notoperation veranlasst wurden, wurde Ike von einer bewaffneten MP-Einheit zum Verhör begleitet. Als Ike im verglasten Büro des stellvertretenen Geheimdienstchefs in einem Ledersessel lümmelte und ihn unterkühlt anblickte, betätigte Agent Verhoeven einen Schalter, woraufhin die Verglasung des Büros milchig anlief, sodass die außenstehenden Mitarbeiter nicht hineinblicken konnten. Zeitgleich verblassten Verhoevens digitale Familienfotos, die auf seinem Schreibtisch aufgestellt waren, bis nur noch weißes Licht aus den Bilderrahmen herausleuchtete.
Jedes dieser mit Panzerglas versehenen Büros waren vollständig abgeriegelt, damit niemand die Gespräche mitverfolgen sowie unbefugt hinein oder hinaus gelangen konnte.
Agent Nicolas Verhoeven nahm seine Brille ab, strich sich mit beiden Händen über das Gesicht und seufzte. Sein Computer zeigte ihm derweil allmögliche Daten, die der Hauptcomputer des Checkpoints von Ikes Nickelbrille übermittelte. Jedes Detail, welches Ike mit seiner technologischen Brille in den letzten drei Jahren automatisch aufgezeichnet hatte, konnte Nicholas nun einsehen. Die wichtigsten Informationen sowie die gravierendsten Fehlverhalten, die Ike in der Belfast Mission begannen hatte, welche vom Satellit aufgezeichnet wurden, erschienen ebenfalls komplett auf dem Monitor, dieser ausgeschaltet lediglich wie eine aufgestellte, dünne Glasscheibe aussah.
„Ike, wir beide reden jetzt mal Klartext. Es interessiert mich erst mal nicht, dass du 1910 währendem du das Haus der Auswanderer erbautest, Eloise mit der Medizin deines Medikits versorgt hattest. Selbst dass du deinen Hund vor einer Vergiftung gerettet und du es zugelassen hattest, dass Vincenzo deine Microsonde deaktivierte, ist momentan irrelevant für mich. Auch dass du eigenwillig versucht hattest, und dies sogar dreist der Sicherheitszentrale offiziell kundgabst, diesen Kleinganoven Buggsy vor seinem Todesschicksal zu schützen, ist ebenfalls erst mal unwichtig. Unser jetziges Hauptproblem ist, dass du dir sämtliche Passwörter ergaunert hast und zwar in jenem Moment, als Schleuser Simon Barnes sein Wohnzimmer verlassen und dich mitsamt seines eingeschalteten Laptops alleine gelassen hatte. Du erinnerst dich noch? Für dich ist es bereits über ein Jahr her, als du erfahren hattest, dass dein Nebenbuhler Carl Clark eigentlich Schleuser Barnes war. Sein Haus in Belfast ist verwanzt, so auch seine Wohnstube. Daran hattest du wahrscheinlich gar nicht gedacht, mein Freund. Man sieht auf dieser Aufzeichnung ganz genau, dass du irgendwas an seinem Laptop inspizierst.“
Agent Verhoeven seufzte abermals.
„Mit deinem verräterischen Verhalten hast du nun auch Schleuser Barnes in Schwierigkeiten gebracht, weil gegen ihn nun ermittelt wird. Dem gewissenhaften Pensionär wird nun fahrlässiger Umgang mit Staatsgeheimnissen vorgeworfen. Was sagst du dazu?“
„Ach Nicholas, komm schon“, antwortete Ike kopfschüttelnd. „Wir beide wissen ganz genau, dass deine Anschuldigungen lediglich auf reiner Vermutung beruhen. Nur das Staatsgericht ist dazu befugt, diese Videodateien auszuwerten. Letztendlich haben meine Rechtsanwälte ebenfalls ein Wörtchen mitzureden, wenn es zur Gerichtsverhandlung kommt. Wie dem auch sei. Ich besitze alle Passwörter und bin nun befugt dazu, weitere Vorgehensweisen zu verantworten und die Mission Titanic zu befehligen“, antwortete Ike sachlich. „Du unterstehst jetzt meinem Befehl, Nicolas. Ob es dir gefällt oder nicht.“
Ike beugte sich nach vorne und blickte dem Geheimdienstchef ernst in die Augen.
„Die Notwendigkeit der Passwörter wurde gesetzlich festgelegt, um ein Zeitparadoxon zu verhindern. Selbst wenn mein Handeln für euch alle unlogisch oder gar gesetzwidrig erschien, ist der Geheimdienst nun verpflichtet, meine Anweisungen konsequent zu befolgen. Andernfalls geschieht für unsere Gegenwart eine unvorhersehbare Katastrophe. Das komplette Universum könnte …“
„Halt einfach die Luft an, Ike. Mich brauchst du gewiss nicht über Zeitreiseparadoxon und dessen verheerende Folgen zu belehren“, erwiderte Agent Verhoeven genervt. „Wie ich hier in dieser Videobotschaft erfahre, wurde Henry radioaktiv schwer verletzt und schwebt nun in akuter Lebensgefahr. Irgendetwas Tragisches muss sich im Dark Room zugetragen haben. Es ist zwar allgemein bekannt, dass ein Zeitsprung auf ein bewegliches Objekt nicht möglich ist, beziehungsweise scheitern würde, aber Henry dachte, wenn auf dem Schiff bereits ein Zeitfenster installiert wurde, müsste es funktionieren. Ich habe es gleich gewusst, dass dieser Transfer äußerst riskant wird und hatte davon abgeraten. Aber Henry ist ja bekanntlich ein Sturkopf, der auf niemanden außer auf sich selbst hört. Und jetzt haben wir den Salat.“
Ike zuckte mit der Schulter.
„Es hat doch funktioniert, immerhin ist er nicht mitten im Nordatlantik erschienen. Dank seines unerschütterlichen Mutes haben wir eine weitere Erfahrung über den Dark Room errungen. Jetzt sind wir darauf vorbereitet und können Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Henrys Aktion war also kein unüberlegtes Wagnis, sondern eine positive Erfahrung.“
Agent Verhoeven setzte sich seine Brille wieder auf, überblickte die übertragenen Dateien auf dem Monitor und schüttelte verständnislos mit dem Kopf.
„Eine positive Erfahrung, sagst du? Henry hat deinetwegen sein Leben riskiert, und zwar weil er dir mittlerweile ebenfalls misstraute und deine Machenschaften unterbinden wollte. Henrys Gesundheitszustand hast also du zu verantworten. Normalerweise müsste ich dich jetzt sofort suspendieren und unter Arrest stellen, gleich wenn du alle nötigen Passwörter vorweisen kannst. Weil, du hast sie wohl nicht mehr alle!“, fauchte Nicholas zornig und schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch.
„Ich zweifle mittlerweile an deinen Verstand. Du hast eine Akteurin aus der vergangenen Welt importiert, was gegen jede Regel verstößt, bezüglich des juristischen Gesetzes der Zeitreisen. Was hast du dir dabei bloß gedacht? Kannst du dir überhaupt vorstellen, was du dem Fräulein angetan hast? Es würde mich äußerst wundern, wenn sie das psychisch irgendwie verkraften wird, sobald sie realisiert, dass sie sich in einer anderen Welt, im fünfundzwanzigsten Jahrhundert befindet. Sie kann unmöglich in United Europe bleiben, falls dies deine Absicht ist. Du weißt ganz genau, dass eine Vermählung, die in der vergangenen Welt vollzogen wurde, in unserer Gegenwart juristisch nicht anerkannt wird.“
Nicholas atmete einmal tief durch, bevor er fortfuhr.
„Es stehen zwar noch abertausende Fragen offen, dafür du dich rechtfertigen müsstest, zum Beispiel, wie es dir gelungen ist, Sergeant Nicole Kalbach für dein mieses Spiel zu überzeugen. Aber ich verlange momentan nur überschaubare Antworten von dir und zwar: Wie agieren wir jetzt weiter, so dass wir Henry, unsere Jungs sowie auch die TTA Kunden wohlauf nach Hause bringen können? Welche Rolle spielt dabei dieses Raumschiff, diese Zeitmaschine oder was auch immer das ist, was über der Titanic unsichtbar schwebt? Und vor allem, wie können wir deiner Meinung nach die Mission Titanic erfolgreich abschließen?“
Ike erhob sich aus dem Ledersessel und wanderte in dem milchig verglasten Büro hin und her, während er redete.
„Ich bin mir absolut sicher, und das ist dieselbe Meinung von Rijken und Klaasen, dass das unbekannte Flugobjekt, eher gesagt dessen Mannschaft, für diese Zeitmanipulation verantwortlich ist. Wie genau es ihnen gelingen wird, die Titanic vor dem Untergang zu bewahren, konnten wir bislang nicht aufklären. Also müssen wir dieses Ding irgendwie vor 23:40 Uhr von der Bildfläche schaffen. Es steht außer Frage, dass die Passagiere der Titanic dieses UFO niemals zu Gesicht bekommen dürfen. Vincenzo muss sich unbedingt in den Hauptcomputer dieser Zeitmaschine einhacken und den Hauptreaktor abschalten, um es zum Absturz zu bringen. Dabei darf jedoch dessen Tarnkappe keinesfalls deaktiviert werden. Das ist das eigentliche Problem, denn der Hauptreaktor steuert bekanntlich sämtliche Systeme. Zudem müsste Vincenzo die Kontrolle dieses Raumschiffes erlangen, es irgendwie fortbewegen, damit es nicht abrupt auf die Titanic abstürzt. Dies alles bedeutet also, dass du Vincenzo Falkone sofort begnadigst und ihn seine Arbeit machen lässt. Weder er noch ich sind Verräter. Kapiere das endlich, Verhoeven! Und nun würde ich gerne meine beiden Frauen besuchen gehen, falls dir keine weiteren Fragen mehr einfallen“, fügte Ike mit einem spöttischen Unterton hinzu.
Einen Moment herrschte Stillschweigen im Büroraum, dann nickte Nicolas Verhoeven.
„Also gut. Ich erlaube dir, dich zum Memorial Hospital zu begeben, um mit der Bluttransfusion zu beginnen, die deine Mutter benötigt. Die irische Akteurin wird ebenfalls ärztlich versorgt, ohne Quarantäne, insofern sie kerngesund ist und die Ärzte nicht einmal den Ansatz eines Schnupfens diagnostizieren. Ich möchte das junge Fräulein keinen unnötigen Stress zumuten, indem wir sie zusätzlich isolieren. Sie darf sich keinesfalls als eine Gefangene fühlen. Jedoch darf sie so wenig wie möglich über die Gegenwart erfahren, schließlich ist es aus ihrer Sicht die Zukunft. Aber kläre mich bitte über deinen Plan auf. Wie gedenkst du unbeschadet auf die Titanic zurückzukehren, auf ein bewegliches Objekt, ohne dabei dasselbe Schicksal zu erleiden, wie Henry?“
„Ich werde mich mit einem SEK-Schutzanzug bekleiden, weil dieser nicht nur kugelsicher und gegen Laserstrahlen sowie Detonationen gewappnet ist, sondern auch gegen radioaktive Strahlungen schützt.“
„Nichtsdestotrotz ist dein Vorhaben purer Wahnsinn“, entgegnete ihm Nicholas. „Wir wissen jetzt zwar, dass der Dark Room scheinbar elastisch und bestrebt ist, das Zielzeitfenster zu erreichen, dass sich mit 22 Knoten fortbewegt. Der hässliche Nebeneffekt aber ist, dass dadurch irgendwie Radioaktivität erzeugt wird. Vielleicht durch Reibung, oder was weiß ich. Allerdings ist es belegt und allgemein bekannt, dass im Dark Room ein Vakuum entsteht, sobald man mit einem Widerstand, beispielsweise bekleidet mit einem Panzeranzug, einen Zeitsprung wagt. Dies ist eine weitere Eigenart dieser Dunkelkammer, weshalb wir SEK-Soldaten stets separat durch ein Zeitfenster schicken. Eine ungeschützte Person würde gemeinsam mit einen SEK-Soldaten zerquetscht am Zielort erscheinen. Und warum ist das so?“
Ike verdrehte genervt seine Augen, weil er rhetorische Fragen hasste. Insbesondre die von Nicolas Verhoeven, weil er früher ein aktiver Agent aber mittlerweile, in seinen Augen, nur noch ein Sesselpupser war.
„Weil der Dark Room auf jeden festen Widerstand reagiert. Organische Materie dagegen ist völlig unbedenklich. So etwas lernt man auf jeder Akademie. Selbst die Privatschulen warnen Zeitreisende davor, eigenes Handgepäck mitzuführen. Allein einen einzigen Lederkoffer mitzuführen, könnte Atemnot und Knochenbrüche verursachen. Vor einigen Jahren hatte die TTA sogar offiziell bestätigt, dass eine Frau während ihrer Zeitreise beinahe erstickt wäre, nur weil sie unbemerkt eine metallische Handtasche bei sich getragen hatte. Worauf willst du hinaus, Verhoeven?“
„Ganz einfach. Durch die Ausdehnung des Dark Rooms wird sich das Vakuum vermutlich noch stärker verdichten als üblich, bis dein Panzeranzug dem eventuell nicht mehr standhält und geknackt wird. Und dann hätten wir zwei nukleare Leichen an Bord der Titanic, die alle auf dem Schiff noch rascher umbringen würden. Dann wäre die Titanic innerhalb wenigen Stunden ein Geisterschiff. Mission misslungen.“
„Sei doch verdammt noch mal nicht immer so pessimistisch, Nicholas. Mag ja vielleicht sein, dass so was passiert. Der Dark Room ist und bleibt für immer unergründlich. Aber wir haben keine andere Wahl. Begreife es doch! Henry benötigt unbedingt dieses Serum und die TTA Kunden sowie unsere Leute müssen mit dem Spray dekontaminiert werden. Wir stehen jetzt zwar vor einem neuen Problem, dessen Ausgang ungewiss ist, trotzdem müssen wir dieses Wagnis eingehen!“
Nicholas Verhoeven kraulte sich seinen Vollbart und starrte Ike nachdenklich an.
„Okay, du hast mich überzeugt. Aber was genau hast du mit dieser Akteurin vor? Sie muss umgehend zurück in die vergangene Welt transformiert werden, wo sie hingehört!“
Ike aktivierte einen Schalter woraufhin die verglaste Panzertür hochschnellte. Bevor er rausging lächelte er Agent Nicholas Verhoeven an.
„Mach dir über Eloise keine Gedanken. Meine Ehefrau ist eingeweiht. Sie weiß mittlerweile wer ich bin und woher ich komme. Sie hatte es zwar mit Skepsis aufgenommen, aber wenn sie mit der Realität konfrontiert wird, wird sie es akzeptieren und verstehen. Davon bin ich überzeugt. Eloise ist Science-Fiction gewohnt, sie ist ein großer Fan von Jules Verne“, zwinkerte Ike ihm zu. „Ich werde Eloise selbstverständlich wieder zurückbringen. Sorge du nur dafür, dass niemand erfährt, wer sie wirklich ist. Keinesfalls dürfen die Medien erfahren, dass sich eine Akteurin aus der vergangenen Welt im Memorial Hospital aufhält. So eine Schlagzeile würde in ganz United Europe wie eine Bombe einschlagen, und hier im Centrum würde die Hölle ausbrechen. Die Medien sowie die Leute würden sie auf Schritt und Tritt belästigen. Ich kenne sie gut genug. Diesen Stress würde sie nicht standhalten!“

Die Identität von Eloise wurde bereits vom Geheimdienst gefälscht, sodass sie laut Computereintrag offiziell nun eine Geheimagentin, eine Schleuserin war, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Ike van Broek aus einer gescheiterten Mission zurückgekehrt war. Deshalb war es für die Mediziner, die im größten Hospital des Centrums beschäftigt waren nicht verwunderlich, dass ihre Erscheinung sowie Bekleidung altertümlich aussahen. Eloise sah mit ihrer kupferroten Haarmähne und ihrem blässlichen Gesicht, das mit Sommersprossen bespickt war, für die Einheimischen des Centrums zwar etwas exotisch aus. Allerdings war es beinahe alltäglich, dass hauptsächlich Schleuser des Öfteren verletzt oder sogar tot wieder in das 25. Jahrhundert zurückkehrten, wobei sie befremdlich wie Akteure aussahen, weil insbesondere Schleuser sich mehrere Jahre in der vergangenen Welt aufhielten, dort praktisch lebten und sich der Gesellschaft dort auch äußerlich anpassen mussten. Zudem bewirkten das damalige Klima und die Wetterverhältnisse ebenso, dass die Schleuser oftmals verändert wiederkehrten.
Nachdem Eloise operiert und alle Schrotkugeln aus ihrem Bauch entfernt wurden, hatte man sie auf ein Krankenbett in eine helle Kabine geschoben, dort bereits eine weibliche Person anwesend war, die ebenfalls in einem Krankenbett lag. Als Eloise ihre Augen blinzelnd öffnete, hörte sie zuerst ein fremdartiges Piepen und Surren von metallischen Geräten. Die junge Frau aus dem Jahr 1911 war noch etwas benommen, als sie aus der Narkose erwachte. Ihr Herzrhythmus, Kreislauf sowie ihre Atmung waren stabil. Eloise war außer Lebensgefahr.
„Wo … Wo bin ich? Was ist passiert?“, fragte sie mit schwacher Stimme.
Sie lag in einem rollbaren Bett, schaute neben sich und erblickte eine attraktive Frau mit langen schwarzen Haaren, die eine Lesebrille trug und etwas in ihren Händen hielt, was wie eine dünne, eingerahmte Glasscheibe aussah. Diese Glasscheibe war ein Tablet, das unter anderem Hologramme erzeugen konnten. Aber sie hatte den Stumm-Modus aktiviert, sodass sie nur mithilfe ihrer Lesebrille die unzähligen holografischen Nachrichten, E-Mails, Fernsehsendungen und alle anderen Soziale-Medien-Aktivitäten verfolgen konnte, ein Außenstehender jedoch nicht.
„Oh, zum Glück bin ich nicht ganz alleine hier. Das ist aber schön“, haucht Eloise und lächelte die nebenliegende Person dabei zaghaft an. Doch die Frau reagierte nicht auf dieses Gespräch. Eloise stutzte, weil die Frau manchmal direkt über dieser Glasscheibe rasch mit ihren Fingern huschte. Was Eloise nicht sehen konnte war, dass diese Frau auf eine holografische Tastatur tippte, diese jedoch aufgrund des Stumm-Modus für sie unsichtbar war.
„Hallo? Was machen Sie denn da, wenn ich fragen darf? Hallo? Ich habe Sie etwas gefragt“, sagte Eloise verwundert aber vermutete sogleich, dass diese schwarzhaarige Frau sie nicht hören konnte, weil sie münzengroße weiße Knöpfe in ihren Ohren stecken hatte.
„Ich glaube, die hört nix. Aber was macht die da bloß?“
Sie schaute der fremden Frau genau zu und vermutete, dass sie etwas schrieb, beziehungsweise etwas tippte.
„So wie ihre Finger huschen, kann die bestimmt verflixt gut Schreibmaschine schreiben. Viel schneller als ich. Sogar nur mit einer Hand“, flüsterte sie mit einem Ausdruck der Bewunderung vor sich hin.
„Ach ja …“, seufzte sie. „Wo bin ich hier eigentlich gelandet? Hoffentlich nicht in der Klapsmühle“, sprach sie besorgt.
Ihre grünen Augen blickten erstaunt herum und sahen all diese technologischen Geräte. Eloise hörte all die fremdartigen Geräusche und sah die Schläuche, die in ihren Armen steckten. Kurz entschlossen erhob sie sich vorsichtig aus dem Krankenbett und saß aufrecht, woraufhin sie sich sogleich schmerzverzerrt auf ihren verbundenen Bauch fasste.
„Was verflixt nochmal ist denn das für ein komisches Band um meinen Bauch? Das werde ich mal jetzt aber ganz schleunigst abmachen“, sagte sie und als sie grad damit anfing, die Mullbinde abzuwickeln, erschrak sie mit einem: „Huch, was bist du denn? Was-was ist denn hier los?“
Ein Roboter mit kleinen Zangen- und Scherenhänden rollte surrend auf sie zu. Sein ovaler, metallischer Kopf nickte freundlich; seine großen Lampenaugen leuchteten grünlich und sein Mund, dieser mit LED-Leuchten bestückt war, blinkte stetig und signalisierte ein Lächeln.
„Guten Tag, Geehrte van Broek. Willkommen im Memorial Hospital. Ich bin Doreen 21-C-21, eine medizinische Assistentin. Mein Glückwunsch, Ihre Operation war erfolgreich“, sprach eine weiblich klingende Stimme. „Die Mullbinde muss noch mindestens eine Stunde um Ihren Bauch gewickelt bleiben, dann sind alle Narben vollständig verheilt. Darf ich Ihnen ein Glas Wasser servieren, Geehrte?“
Der leuchtende Mund bildeten ein freundliches Lächeln, wobei es lustig blinkte. Eloise hielt sich amüsiert die Hand vor dem Mund.
„Das ist ja ein lustiges Kerlchen. Es kann sogar sprechen!“, platzte es überrascht aus ihr heraus. „Wenn du mich so fragst: Ich hätte gerne eine heiße Tasse Tee, mit einem Stückchen Zitrone darin, wenn es keine Umstände macht.“
„Tee mit Zitrone?“, fragte der weibliche Roboter. „Meinen Sie etwa eine Citrus-Brause? Solche Energydrinks sind auf der Notstation für Patienten nicht erlaubt. Ihre gewohnten Nahrungspräparate ebenfalls nicht, weil all Ihre nährwertigen Bedürfnisse in der Infusion enthalten sind. Also, darf ich Ihnen ein Glas Wasser servieren, falls es Sie dürstet, Geehrte?“
„N-nein danke. Ich habe weder großen Durst noch Hunger. Ich würde nur gerne aufstehen und mich etwas umsehen. Wenn Es erlaubt?“, fragte Eloise schüchtern wobei sie misstrauisch dreinblickte.
Der ovale Kopf neigte sich seitlich, dann surrten die Zangenhände wobei der Roboter damit ihre medizinischen Schläuche vorsichtig entfernte und die Infusion abschaltete.
„Dagegen spricht nichts, Geehrte van Broek. Ihr Zustand ist stabil und Bewegung wird Ihnen guttun. Nur leider muss ich Geehrte bitten, das Krankenzimmer nicht zu verlassen, bis der Obermediziner, Geehrter Doktor Janssen, sich über Ihre vollständige Genesung vergewissert hat“, sprach die metallische Stimme. „Ich bin zuversichtlich, dass Geehrte noch heute Abend das Hospital verlassen darf.“
Während der Roboter sprach, blinkten die LED-Leuchten gleichmäßig auf und der ovale Kopf sowie seine Armgelenke bewegten sich rhythmisch. Auf Eloise wirkte der medizinische Roboter beinahe so, als wäre er lebendig. Seine Stimme klang zwar etwas metallisch, jedoch weiblich mit Betonung. Selbst die Bewegungen passten sich emotional an seine Aussage an. Sie schaute den Roboter fasziniert an und lächelte.
„Sag mal, bist du etwa ein Mädchen? Du hörst dich jedenfalls so an.“
Die Leuchten des Mundes bildeten einen waagerichten Strich und die grünen Lampenaugen blinkten mehrmals auf. Das war eine verwirrende Frage für eine programmierte Maschine, die ausschließlich als Krankenpfleger tätig war.
„Entschuldigung, Geehrte van Broek. Ich bin Doreen 21-C-21, eine medizinische Assistentin und keineswegs ein kleines Mädchen. Die Kinderstation befindet sich im selben Gebäude ein Stockwerk tiefer. Dort werden Sie nach einem Mädchen sicherlich fündig werden. Guten Tag“, sprach der Roboter mit seiner weiblich klingenden Stimme, diese sich auffällig schroff anhörte. Dann wandte sich die metallische Krankenschwester von Eloise ab und rollte surrend zum Krankenbett der nebenliegenden Frau.
„Oje. Jetzt ist Es bestimmt beleidigt. Das wollte ich nicht. Sollte ich mich jetzt bei diesem … Dingsbums entschuldigen?“, fragte sie sich insgeheim.
Eloise stand aus ihrem Krankenbett auf und zog sich einen weißen Bademantel über, auf dem Rückenteil das Emblem der TTA gestickt war. Sie schlenderte barfüßig an medizinischen Apparaten vorbei, hinüber zu den übergroßen Ladenfenstern. Gesundheitlich fühlte sich Eloise rundum wohl, obwohl sie Stunden zuvor mit einer kritischen Schussverletzung eingeliefert wurde, eine Notoperation hinter sich hatte und erst grad aus der Narkose erwacht war. Und von Minute zu Minute vergingen ihre Schmerzen und sie fühlte sich wohler und kräftiger.
Sie umklammerte ihren Körper und schaute entsetzt aus dem riesengroßen Ladenfenster hinaus.
Eloise blickte grad aus der 145. Etage, aus der überkuppelten Hauptcity von United Europe, aus dem Centrum hinaus und sah eine Szenerie, die sie sich niemals hätte bildlich vorstellen können. Sie liebte zwar Science-Fiction Literatur von Jules Verne und H.G. Wells, weil diese Schriftsteller spannende, abenteuerliche Zukunftsvisionen niedergeschrieben hatten, aber was sie grade sah, übertraf all ihre Vorstellungskraft und es beängstigte sie.

Eloise O’Brian war seit ihrer Geburt im Jahre 1891 nur ein unbedeutendes Landmädchen aus Nordirland gewesen, aber sie wurde die Auserwählte von Ike, woraufhin er sie geheiratet hatte.
Sie war damals noch unschuldige neunzehn Jahre alt gewesen, wurde von ihren Eltern streng katholisch erzogen und schien naiv und leichtgläubig zu sein, trotzdem war sie nicht dumm, sodass man ihr etwas leicht hätte vormachen können. Sie hinterfragte sich stets alle Vorwürfe oder angebliche Wahrheiten, die ihr offenbart wurden. Ihrem geliebten Ike hatte sie damals zwar alles geglaubt, als er ständig mit merkwürdigen Gerätschaften erschienen war, wie beispielsweise mit dem großen Gefrierschrank, all die Cremes, Shampoos und vor allem diese wasserbefüllbare Kautschukmatratze, wenn er behauptet hatte, dies seien Gegenstände, die von der Schiffswerft Harland & Wolff entwickelt wurden und er diese Dinge testen durfte. Aber eines Tages hatte sie beim Putzen des Badezimmers zufällig eine Fliesenkachel entdeckt, die aufklappte und darin Ikes Geheimnisse versteckt waren.
Dort hatte er unter anderem seine EM-23 Schnellfeuerwaffe, Satellitenfotos von United Europe sowie auch private Fotos heimlich hinterlegt. Selbstverständlich waren diese Fotografien hochauflösend und in Farbe gewesen. Ike konnte die Akteurin zwar eine Zeitlang mit Ausreden hinhalten, aber nachdem sein angeblicher Onkel, der Auswanderer Charles Owen getötet wurde, war Ike gezwungen, ihr nach und nach die Wahrheit über seine wahre Identität zu offenbaren. Dass er ein Zeitreisender war, ein Geheimagent aus der Zukunft.
Eloise war über Ikes Herkunft aufgeklärt worden und sie glaubte ihm, weil sie es einfach glauben wollte, weil sie ihn abgöttisch liebte. Aber trotzdem nagte stets ein gewisser Zweifel an ihr, denn die Wahrheit klang einfach zu absurd. Sie war zwiegespalten; einerseits wollte sie Ike unbedingt glauben, anderseits hatte sie Angst von ihm belogen zu werden, weil es einfach zu utopisch klang und sie befürchtete, dass Ike ihre Neigung zum Science-Fiction ausnutzen würde, um sie zu überzeugen.
Aber nun stand Eloise, die junge Frau aus dem frühen Zwanzigsten Jahrhundert, in einem Krankenzimmer des 25. Jahrhundert und blickte mit leicht geöffnetem Mund fassungslos aus dem übergroßen Ladenfenster der City Centrum hinaus. Sie brauchte eine Minute um zu realisieren, was sie sah.
Sie blickte auf eine völlig verwüstete, rötlich schimmernde Gegend hinunter, die von unzähligen Steinfelsen übersäht war. So müsste es bestimmt auf dem Mars aussehen, dachte sie sich. Eloise erkannte eingestürzte Hochhäuser und total verwüstete Wohngebiete, die einst menschenbelebt waren. Sie entdeckte mehrere umgekippte Binnenschiffe in ausgetrockneten tiefen Gräben, diese wahrscheinlich einst Flüsse gewesen waren. Diese Schiffwracks waren völlig verrostet, zerstört und drohten sofort zu zerfallen, wenn man sie nur einmal mit dem Finger berühren würde.
Ein abgestürztes Passagierflugzeug lag in drei Teilen zerbrochen, ebenfalls völlig zerfallen, mitten in der verwüsteten Ruinenstadt. Sogar Stahlbrücken, die über den einstigen Fluss Rotte führten und eigentlich für die Ewigkeit erbaut wurden, waren nur noch völlig verrostete, zusammengefallene Überbleibsel einer längst vergangenen Zivilisation. Ihrer früheren Zivilisation.
Trotz aus dem Ausblick dieser Höhe der City Centrum konnte Eloise zahlreiche Autowracks erkennen, diese seit über vierhundert Jahren überall verstreut seitlich oder sogar auf dem Dach herumlagen. Die Autoreifen waren allesamt von den Outlaws – die von United Europe verstoßenen Gesetzlosen – abmontiert worden, um untereinander Handel zu betreiben. Außerhalb der Zone lebten tatsächlich Menschen, die vom Staatsgesetz verbannt wurden, die aber nur mit Astronautenanzügen und Sauerstoffbehälter außerhalb der Zone überleben konnten.
Die einst lebensfrohe Vergangenheit war nur noch eine uralte Ruine, eine sauerstoffarme Steinwüste, die man lediglich hinter einer geschützten, hermetisch abgeriegelten Kuppelstadt, beschaffen aus einer Titan-Legierung, bestaunen konnte. Die atmosphärischen Bedingungen auf Muttererde glichen beinahe wie auf dem Planet Venus. Die Natur existierte schon seit Jahrhunderten nicht mehr.
Eloise war entsetzt, als sie in der Ferne einen gewaltigen Tornado erblickte, der mit tosender Kraft über die gottverlassenen Geisterstädte tobte und loses Gestein, Autowracks und sonstige Gesteinsbrocken, die außerhalb der Sicherheitszone noch lose vorhanden waren, hoch hinaus in die Luft schleuderte, woraufhin die lebensfeindliche Außenwelt plötzlich violett und grünlich aufleuchtete, als würden wunderschöne Polarlichter am Himmel erscheinen. Die physikalischen Naturgesetze spielten scheinbar völlig verrückt, sodass sich kein Wissenschaftler mehr erklären konnte, was sich außerhalb der Citys zutrug. Es spielte auch keine Rolle mehr, irgendetwas zu erforschen, denn das Klima des einst lebensfrohen Planeten war schon seit geraumer Zeit vernichtet worden. Die Erde war für jede Lebensform unbrauchbar geworden. Selbst die Meere existierten nicht mehr – der einstige wasserblaue Planet war beinahe vollständig verdampft und nur noch eine öde Steinwüste, mit tiefen Schluchten die einst die Ozeane waren, zeichnete die Landschaft.
Da es nun bereits spät am Nachmittag war, konnte Eloise bereits den übergroßen Mond sehen, dieser ohnehin niemals selbst am frühen Tag nicht zu übersehen war, weil der Trabant sich der Erde vor über dreihundert Jahren bedrohlich genähert hatte. Und es war nun zu dieser Uhrzeit genau zu erkennen, dass ein Meteoritenschwarm um den Orbit der Erde kreiste, diese Gesteinsbrocken die letzten Überbleibsel des Mars waren.
Eine weitere ungewöhnliche Himmelserscheinung entdeckte sie, welche sie in ihrem 20. Jahrhundert niemals zu sehen bekam. Der orange Planet Jupiter leuchtete nun beinahe so groß am Himmelszelt und war mit dem bloßen Auge zu sehen, wie einst der Mond. Aufgrund der Supernova des Mars hatte sich die Gravitation unseres Sonnensystems verändert, sodass der Jupiter die Erde immer näher an sich herangezogen hatte.
„Ist alles in Ordnung, junges Fräulein? Du siehst so bedrückt aus, Geehrte“, fragte die Frau im Krankenbett, nachdem sie ihre „Earspeakers“ abgelegt hatte.
Eloise rührte sich nicht sondern starrte weiterhin entsetzt aus dem riesigen Ladenfenster hinaus.
„Was ist das, das da draußen? Bin ich etwa in der Zukunft, in diesem komischen Centrum?“, fragte Eloise monoton.
Die Frau legte ihr Tablet beiseite, nahm ihre Lesebrille ab und schaute sie verwundert an.
„Selbstverständlich befindest du dich im Centrum, im Memorial Hospital, junges Fräulein. Wo sonst?“
Einen Augenblick hielt sie inne.
„Ach, du Armes. Scheinbar hast du eine Amnesie erlitten. Also, was du da grade siehst nennt man: La mer du passé – Das Meer der Vergangenheit.“ Die schwarzhaarige Frau schmunzelte. „Ich bin nicht gut in Geschichte aber es ist allgemein bekannt, dass irgendwo dort draußen einst mal das Meer gewesen war. Vor über dreihundert Jahren hatte man es die Nordsee genannt. Na ja, die wichtigsten Wissenschaftler stammen schließlich aus Nieuw Bruxelles, deswegen werden alle Landstriche außerhalb der Citys ausschließlich französisch bezeichnet. Aber vor hunderten von Jahren sollen diese Ruinen da unten mal Den Haag oder Rotterdam gewesen sein. So genau weiß ich das aber nicht“, lächelte sie und tätschelte auf ihr Bett.
„Nordsee“, wiederholte Eloise raunend, während sie apathisch aus dem riesengroßen Ladenfenster schaute.
„Komm und setze dich zu mir. Ich habe noch etwas Zeit, bevor ich dran bin.“
Eloise drehte sich um und blickte sie fragend an.
„Ame … Was habe ich erlitten? Ich weiß nicht, was Sie meinen. Wie lange war ich ohnmächtig? Das da unten, dieses Geröll, kann doch unmöglich die Stadt Den Haag sein. Ich kann ja nicht einmal glauben, dass ich auf der Erde bin. Und was ist mit Irland? Sieht es dort etwa genauso aus?“
Eloise senkte ihren Kopf und nickte.
„Ike hatte mir also tatsächlich die Wahrheit erzählt“, sprach sie niedergeschlagen.
Als Eloise die fremde Frau im Krankenbett genauer betrachtete, stutzte sie. Langsam ging sie barfüßig auf sie zu und bemerkte erst jetzt, dass der Boden, obwohl dieser offensichtlich eine glänzende Metallplatte war, beheizt war. Als sie dies bewusst bemerkte, kreischte sie panisch, hopste mit einem Fuß nach dem anderen auf das Krankenbett der fremden Frau zu und saß schließlich direkt neben ihr. Die schwarzhaarige Frau richtete sich erschrocken auf und blickte Eloise erstaunt an, weil sie ihre nackten Füße unter die Bettdecke versteckte.
„AUA! Du, ich schwöre dir, der Boden wird ganz heiß, wie ein Gasherd!“
„Aber nein, Geehrte. Das ist doch bloß die Fußbodenheizung. Sie steht auf fünfundzwanzig Grad Celsius. Ich werde sie für dich etwas herunterschalten“, beschwichtigte sie.
Plötzlich schaute Eloise sie verwundert an.
„Momentmal. Dich kenne ich doch. Du bist doch die Frau auf den Bildern. Mein Mann hatte es Fotos oder so ähnlich genannt. Du bist die Frau auf den bunten Bildern. Ja, gewiss. Du bist es! Sag, wer bist du? Bist du etwa die Schwester von meinem Ehemann? Die Ähnlichkeit ist jedenfalls verblüffend“, sprach Eloise verwundert.
Jetzt war die schwarzhaarige Frau völlig ratlos. Wer war bloß dieses junge Fräulein, die scheinbar unter Amnesie litt, sich dennoch an sie erinnerte, obwohl sie sich nie begegnet waren und sich äußerst merkwürdig verhielt. Nun war ihr etwas mulmig zumute, denn vielleicht wurde diese junge rothaarige Frau versehentlich in ihr Krankenzimmer beordert und gehörte eigentlich in eine ganz andere Station, ein Stockwerk über dem Operationsabteil, in das psychiatrische Klinikum. Als sie gerade den Notknopf unter ihrem Bett betätigen wollte, um die Security herbeizurufen, schnellte plötzlich die metallische Tür nach oben und ein älterer Herr, der Obermediziner Doktor Janssen, betrat das Krankenzimmer.
„Geehrte van Broek, wie geht es Ihnen?“
Eloise und die schwarzhaarige Frau blickten den Doktor an und antworteten zugleich: „Gut. Und Ihnen?“
Eloise und die Frau schauten sich daraufhin völlig erstaunt an.
„Ähm, ich meinte Geehrte Eloise van Broek. Ich werde Ihre Entlassung sofort genehmigen. Und nun zu Ihnen, Geehrte Amelie van Broek. Ihr Sohn, Schleuser Ike, wird in Kürze eintreffen. Die Vorbereitung für die Bluttransfusion sind bereits getroffen worden. Wenn beide Geehrten keine weiteren Fragen haben?“
Amelie van Broek schüttelte zaghaft mit dem Kopf, wobei sie Eloise direkt in die Augen schaute. Daraufhin verließ der Obermediziner das Krankenzimmer.
Zuerst starrten sich beide Frauen nur verblüfft an.
„Also … Also das ist jetzt aber ganz schön verflixt, muss ich sagen. Du bist gar nicht Ikes Schwester, sondern seine Mutter? Das kann ich gar nicht glauben. Wie alt bis denn du überhaupt, wenn ich so fragen darf?“
„Selbstverständlich bin ich Ikes Mutter. Ich bin sechsundfünfzig, junges Fräulein. Wieso fragst du? Und wer bist du überhaupt?“
„WAS? Sechsundfünfzig Jahre alt?“, platzte es aus Eloise völlig erstaunt heraus, woraufhin sich ihre grünen Augen weiteten. „Das glaube ich dir nicht. Du willst mich doch bloß vergackeiern, stimmt’s?“
„Ver … Was? Ich kann dir nicht folgen, junges Fräulein“, antwortete Amelie verdutzt.
Aber dann erinnerte sich Eloise an Anne, die mit ihren 39 Jahren für sie ebenfalls viel jünger erschienen war, als sie es geglaubt hatte. Vielleicht war es eben so, dass die Menschen aus der Zukunft wesentlich jünger aussahen, als in ihrem Jahrhundert. Eloise starrte diese attraktive, schwarzhaarige Frau an. Jetzt erst fielen ihr die dezenten Fältchen unter ihren Augenlidern und Mundwinkeln auf, aber ihr langes volles Haar war pechschwarz, und ihre Haut war keineswegs runzelig, so wie bei allen alten Frauen in ihrem Dorf, die stets bei Wind und Wetter hart auf den Ackerfeldern arbeiten mussten. In ihrem Jahrhundert war eine 56 jährige Frau mindestens schon eine Uroma, eine grauhaarige alte Maus, mit einer krächzenden Stimme die am Stock ging und ihr Leben längst hinter sich hatte und nur noch Lebensweisheiten von sich gab. Plötzlich schnellte die Panzertür nach oben und Ike erschien mit zwei mächtigen Blumensträußen.
„Ich habe alles mitangehört. Mit vergackeiern meint Liebes, ob du sie verarschen willst, Mom“, grinste Ike. „Wie ich sehe, habt ihr zwei hübschen Ladys euch schon vorgestellt.“
„Ike!“, rief Eloise erfreut, rannte auf ihn zu und umklammerte ihn stürmisch.
Ike ließ die Blumensträuße fallen und umarmte sie zärtlich. Minutenlang hielten sie sich fest, wobei Eloise freudig weinte. Ike küsste ihre Stirn, streichelte über ihre kupferrote Haarmähne, hielt ihre Schulter fest und blickte sie ernst an.
„Liebes, hör mir jetzt genau zu! Du musst jetzt tapfer sein und noch eine Weile hier im Krankenzimmer verweilen. Du darfst auf gar keinen Fall dieses Zimmer verlassen! Meine Mutter, deine Schwiegermutter, benötigt unbedingt eine Bluttransfusion, um wieder gesund zu werden. Danach werde ich mich um dich kümmern. Vertraue mir bitte!“
Eloise blickte ihn tränenüberströmt an und nickte hektisch.
„Ich vertraue dir. Alles was du gesagt hast, ist ja wirklich wahr. Ist deine Mutter etwa krank? Oh, wie schrecklich!“
„Ja, Liebes. Sonst würde sie nicht im Krankenhaus liegen. Sie ist sogar sterbenskrank, auch wenn es grad nicht so aussieht. Ich komme wieder und dann werde ich dich aufklären, wie es weitergeht. Hast du das verstanden?“
Eloise wischte sich die Tränen aus ihrem Gesicht und nickte abermals hektisch.
„Ich warte hier so lange auf dich. Meine Schwiegermutter muss unbedingt wieder gesund werden. Unbedingt!“, sagte Eloise schniefend, während sie Amelie besorgt ansah. Amelie lächelte, dann umarmte sie ihren Sohn und weinte ebenfalls Freudentränen. Ike hatte seine Mutter drei Jahre lang nicht gesehen, Amelie dagegen ihren Sohn nur zehn Stunden lang nicht.

Nachdem die Panzertür heruntergeschnellt und Eloise nun alleine im Krankenzimmer war, blickte sie traurig zum Boden. Sie betrachtete ihre nackten Füße und genoss die angenehme Wärme aus der Fußbodenheizung, die von ihrer Schwiegermutter extra für sie auf 20 Grad Celsius heruntergeschaltet wurde. Nun empfand es Eloise angenehmer.
„Hoffentlich wird meine Schwiegermutter ganz schnell wieder gesund. Sie ist doch so nett. Aber jetzt bin ich hier ganz alleine. Was soll ich jetzt bloß tun?“
„Das ist nicht korrekt, Geehrte van Broek. Meine Wenigkeit ist auch noch anwesend und werde Sie betreuen. Was darf ich für Sie tun, Geehrte? Vielleicht jetzt doch einen Schluck Wasser?“
Eloise blickte erschrocken hinter ihre Schulter, aber lächelte sogleich. Der medizinische Roboter Doreen 21-C-21 rollte surrend auf sie zu. Seine leuchtenden Lämpchen signalisierten ein freundliches Lächeln.
„Du hast Recht, du sprechendes Dingsbums. Ich bin froh, dass wenigstens du bei mir bist.“
Sie kniete vor dem medizinischen Roboter und blickte ihn verheißungsvoll an.
„Erzähle mir bitte alles, was du über die Zukunft weißt.“
Die LED-Leuchten des Roboters verzierten sich waagerecht, weil er ratlos war.
„Über die Zukunft? Geehrte van Broek, ich kann Ihnen nichts über die Zukunft berichten, weil diese noch bevorsteht.“
„Ja aber, wir befinden uns doch grad in der Zukunft. Oder etwa nicht?“, erwiderte Eloise verwundert aber fasste sich sogleich an die Stirn. Jetzt erst begriff sie, dass sie sich in der Gegenwart des 25. Jahrhundert aufhielt und selbst ein Roboter die Zukunft nicht vorhersagen könnte. Sie atmete einmal kräftig durch.
„Na schön. Dann erzähle mir halt, was in den letzten fünfhundert Jahren alles so geschehen ist. Ich werde auch ganz mucksmäuschenstill sein und dir artig zuhören. Du solltest wissen, dass ich sonst diejenige bin, die Geschichten erzählt“, lächelte sie.
Der Roboter neigte seinen ovalen Kopf seitlich und blinkte fragend mit seinen leuchtenden Augen drein. Damit war die metallische Krankenschwester sichtlich überfordert. Der weibliche Roboter war schließlich keine Geschichtslehrerin.
„Über derartige Informationen wurde ich leider nicht programmiert, Geehrte. Aber da Sie nun in Kürze entlassen werden, dürfte ich Ihnen jetzt eine Citrus-Brause servieren, wie Sie es gewünscht hatten“, antwortete der Roboter, wobei die LED-Leuchten wieder ein Lächeln signalisierten. Eloise aber winkte ab.
„Nö. Wenn du mir nix über die Zukunft oder über die Vergangenheit oder sonst was sagen kannst, dann will ich deinen blöden Tee auch nicht haben“, erwiderte sie beleidigt mit verschränkten Armen.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Ich bedanke mich für deinen netten Kommentar,
Else. Das nächste Kapitel steht nun bereit, gelesen
zu werden.

LGF


Francis Dille (16.04.2023)

Hallo Francis, spannend und lebensecht geschrieben. Welch ein toller Roman. Du hast es wirklich drauf.

Else08 (14.04.2023)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Die Belfast Mission - Kapitel 05  
Die Belfast Mission - Kapitel 04  
Die Belfast Mission - Kapitel 03  
Die Belfast Mission - Kapitel 02  
Die Belfast Mission - Kapitel 01  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De