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6 Seiten

Play the Game - Teil 3

Schauriges · Kurzgeschichten
Zuerst waren Alex‘ Gedanken immer noch um die Fragen gekreist, wo er hier gelandet war, wie das alles sein konnte und wer hinter alldem steckte. Da das Spiel aber gnadenlos weiterging und er sich auf jeden einzelnen Sprung konzentrieren musste, blendete er diese Gedanken aus, denn sie führten ja zu nichts.
Stattdessen fixierte er sich auf das, was er tun musste, nämlich immer wieder mit dem richtigen Schwung abspringen, mit den Füßen sicheren Halt finden, auf der nächsten Plattform bleiben. Zwischendurch hatte er noch einmal erlebt, wie eine andere Mitspielerin aus dem grünen Team die Säule verfehlte und in die Tiefe stürzte, wo ihre Schreie schnell in ein kehliges Röcheln übergingen, das sie alle noch einige weitere Spielzüge begleitete und sie daran erinnerte, dass jeder unbedachte Schritt ihr letzter sein konnte.
Spätestens von da an waren sie alle voll auf das Spiel konzentriert, keiner sprach ein Wort mit den anderen, sie wurden mehr und mehr zu den Spielfiguren, die sie wohl sein sollten. Keine Kraft vergeuden, die Gedanken nicht abschweifen lassen, einfach tun, was sie tun sollten oder vielmehr mussten. Alles andere spielte gerade keine Rolle, nur das Spiel war wichtig, ihr Überleben.
Besonders kritisch wurde es, als Alex zum ersten Mal eine Spielerin aus dem blauen Team vor sich überspringen musste. Nun, ein Überspringen war es eben nicht, er musste zu ihr auf die Plattform und dann weiterspringen. Das hieß, er musste noch vorsichtiger sein, um nicht selbst in die Tiefe zu stürzen oder die junge Frau, die er von Youtube kannte, hinunterzureißen.
Ihr Name fiel ihm nicht ein, auf jeden Fall aber wusste er, dass sie einen Beautykanal betrieb und vor einiger Zeit wegen irgendwelcher Werbedeals mit fragwürdigen Firmen in die Kritik geraten war. Irgendwie hatten alle, die hier waren, schon einmal heftige Kritik oder Shitstorms bekommen, doch Alex dachte in diesem Moment nicht weiter darüber nach, weil er voll darauf fixiert war, beim jetzt noch knapperen Platz auf der Säule Halt zu finden.
Die Youtuberin reichte ihm die Hand, zog ihn nah an sich heran, was es ihm leichter machte. Er spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte, sah ihre Augenlider nervös flattern. „Danke“, raunte er ihr zu, dann tauschten sie trippelnd die Positionen und schon sprang er weiter zum nächsten Spielfeld und dann noch eines weiter.
Er musste sich auf diesen Wahnsinn einlassen, alles andere konnte ihn oder andere das Leben kosten. Das wurde ihm in diesem Moment klar und es stieg so etwas wie Kampfgeist in ihm auf. Er wollte dieses Spiel durchhalten, er wollte es bis zum Ende schaffen. Und dann wollte er denen, die für all das hier verantwortlich waren, gehörig in den Arsch treten.
Die Wut tat gut. Sie gab ihm Kraft, sie half ihm, fokussiert zu bleiben. Alles zu seiner Zeit sagte er sich, jetzt spielte er dieses Spiel und Spiele waren nun einmal dazu da, sie zu gewinnen.

Einige Runden später kam es dann zum ersten Mal dazu, dass jemand rausgeworfen werden musste. Felix hatte eine Zwei gewürfelt und zwei Felder vor ihm stand ein Mitspieler aus Team Grün.
„Rücke zwei Felder vor“, forderte die Stimme, „wer von euch auf der Plattform bleibt, spielt weiter.“ Diese Regel ließ erst einmal alle erstarren. Sollte das also heißen, dass der rausgeworfene Spieler nicht zurück zum Start musste, dass es nicht darum ging, wer an der Reihe war, sondern dass schlicht nur einer überleben konnte?
„Möge der bessere gewinnen“, kam es jetzt von den Monitoren und ein hässliches Lachen erklang. Darum ging es also bei diesem Spiel. Nicht etwa um Regeln, sondern allein um das Recht des Stärkeren. Sie sollten sich gegenseitig in die Tiefe stürzen.
Alex wurde flau im Magen, er meinte fast, sich übergeben zu müssen. „Das ist nicht fair!“, rief jemand, „So gehen die Regeln nicht!“ Wieder lachte die Stimme auf, es klang gehässig und voller Vorfreude auf das, was kommen würde, kommen musste. Keiner wagte es mehr, noch etwas zu sagen, sich zu beklagen. Einige sahen einander an, Ratlosigkeit lag in ihren Blicken. Und Angst.
Als ob das, was sie bisher erlebt hatten, nicht schon schlimm genug war. Jetzt brach das Spiel auch noch seine eigenen vermeintlichen Regeln und sorgte dafür, dass sie einander... dass sie einander töten mussten. Alex trat von einem Fuß auf den anderen, hätte gerne etwas gehabt, um sich daran festzuhalten. Doch es gab keinen Halt, es gab nur diese erbarmungslose Tiefe überall und den sicheren Tod, der auf jeden wartete, der bei diesem Spiel versagte oder auch nur einen Augenblick unaufmerksam war.
Es war gnadenlos, es war menschenunwürdig, es war widerlich. Spätestens jetzt war er sich sicher, dass es eben kein Spiel war, kein Prank, sondern die bittere Wahrheit eines psychisch kranken Gehirns. Wer sonst konnte sich so etwas ausdenken? Wer sonst konnte unschuldige Menschen in eine solche Situation bringen? Nur ein Psychopath.
„Mach deinen Zug“, ertönte jetzt wieder die Stimme und riss sie alle aus ihrer Schockstarre. Felix schwitzte, seine Hände zitterten, er sah sich hektisch nach allen Seiten um. Dem anderen Spieler erging es kaum besser, auch er war bis zum Äußersten angespannt, beobachtete jede Regung seines Kontrahenten. „Los Felix, du schaffst das“, hörte Alex jetzt Xenia rufen. Sie wollte ihm Mut machen. „Ja, mach ihn fertig“, rief Alex nun selbst und war im gleichen Augenblick erschrocken über seine Worte.
Die Körper beider waren gespannt und verharrten noch einem Moment in ihrer jeweiligen Position. Felix, der zum Sprung ansetzte, der andere, der möglichst guten Halt auf seiner Plattform zu finden suchte. Alle anderen wagten es nicht, den Blick von den beiden abzuwenden, noch einen Laut von sich zu geben oder auch nur zu blinzeln. Es war totenstill im Raum, die Zeit schien für einige Sekunden stillzustehen.
Dann spannten sich Felix‘ Beine, er holte Schwung und setzte zum Sprung an. Kraftvoll, die Arme nach vorne gestreckt und so voller Wucht, dass sein Gegner dem nichts entgegenzusetzen hatte. Er rutschte nach hinten weg, sein Fuß glitt über die Kante, er verlor den Halt. Im Fallen versuchte er noch, sich an Felix festzuhalten und ihn mitzureißen, dann stürzte er in die Tiefe und ein letzter Schrei drang zu ihnen herauf als er auf den Spitzen aufkam.
Felix hingegen musste aufpassen, sich noch abzubremsen, beinahe wäre er selbst zu weit nach vorne gesprungen, doch es gelang ihm schließlich, er fand einen festen Stand, riss instinktiv eine Faust in die Luft. Erst dann blickte er über die Kante nach unten, ließ den Arm wie in Zeitlupe sinken, musste sich nun wohl der Erkenntnis stellen, was gerade passiert war.
Alex sah zu Xenia und zu Maxim. Eigentlich hätten sie jubeln müssen, denn ihr Freund hatte es schließlich geschafft, war noch am Leben. Allerdings war Alex‘ Hals wie zugeschnürt und er war sich sicher, dass es die beiden anderen ganz genauso empfanden. So sahen sie einander nur an, dann zu Felix, doch der wich ihren Blicken aus.
Er sah immer wieder über die Kante der Plattform, auf der er stand, dabei zitterten seine Knie, so dass er schließlich zunächst in die Hocke ging, sich dann hinsetzte. Sein Gesicht verbarg er in den Händen. Weinte er, fragte Alex sich. Auch, wenn es angesichts der Situation erklärbar gewesen wäre, so wunderte es ihn, denn bisher hatte er Felix noch nie wirklich emotional erlebt.
Wenn sie gemeinsam zockten, zeigte Felix keinerlei Skrupel, ging immer voran und kannte kein Zögern. Egal, um welches Spiel es ging, egal, wer sein Gegenüber war. Doch das waren Spiele. Dieses Spiel war eine absurde, eine schreckliche, eine völlig perfide Realität.
Warum waren gerade sie hier hineingeraten, fragte Alex sich jetzt. War es Zufall? Oder waren sie speziell ausgesucht worden? Aber warum? Nun ja, er erinnerte sich an böse Kommentare, die sie häufiger bekommen hatten. Sie würden alles für Klicks tun, hieß es oft, würden unehrlich sein, nur, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, würden ihre Zuschauer letztlich betrügen. Taten das nicht alle?
Hater gab es immer. Meistens Neider, Trolle, selten jemanden, der im Affekt ausgesprochene Drohungen wahr machen konnte. Oder jemand, der über die Möglichkeiten verfügte, sie auf diese Weise in die Tat umzusetzen. Immerhin hatte diese ganze Arena ja gebaut werden müssen und sie alle waren entführt worden. Das erforderte sicher mehr als kurze Aufregung darüber, dass ein Video oder Stream im Internet vielleicht falsche Versprechungen machte.
Wie sehr er sich auch den Kopf zermartern würde, all das hier ergab keinen Sinn, zumindest keinen, den er erkennen konnte, solange er mitten in diesem Spiel, in diesem Irrsinn steckte. Ja, es machte ihn wütend, das musste er sich eingestehen. Er hasste es, nicht Herr der Lage zu sein, nicht selbst entscheiden zu können. Leider gab es wohl keinen Ausweg. Zumindest nicht so lange dieses Spiel andauerte.
Danach würde er denjenigen, die dafür verantwortlich waren, schon auf die Schliche kommen. Er würde sie anzeigen, würde nicht eher Ruhe geben, bis sie ihre gerechte Strafe bekamen. Diese Mischung aus Wut und Hoffnung hielt ihn aufrecht, gab ihm zumindest das Gefühl einer übergeordneten Gerechtigkeit in dieser völlig surrealen Situation.

Alex und die anderen würfelten weiter, sprangen so viele Felder vor, wie sie springen mussten, versuchten konzentriert zu bleiben, auch wenn die Angst und auch die Wut es nicht eben leichter machten. Zum Glück kamen sie gut voran, meist eben ohne sich dem Kampf mit anderen stellen zu müssen.
Dann allerdings traf es Maxim. Er musste auf ein Feld springen, auf dem eine junge Frau stand, ebenfalls Influencerin, Alex kannte sie sogar, auch wenn ihm gerade der Name nicht einfiel. Sie war zierlich, kleiner als Maxim und sie hatte Panik.
Ein scheinbar unkontrollierbares Zittern hatte von ihrem Körper Besitz ergriffen, denn sie ahnte, was kommen musste. „Bitte tu es nicht“, flehte sie in Maxims Richtung, der nur noch drei, nur noch zwei Felder von ihrem entfernt war. „Was soll ich denn tun?“, rief er zurück.
Beide sahen sich ratlos an, während Maxim nun auf das benachbarte Feld sprang. Er wollte es nicht tun, keiner hier wollte es tun, es war schließlich das Spiel, das sie dazu zwang. Doch hatten sie wirklich keine andere Möglichkeit als dem Folge zu leisten? „Was passiert, wenn ich sie nicht runterwerfe und wir einfach beide dort stehenbleiben?“, rief Maxim jetzt nach oben zur Decke gewandt.
Sie alle blickten auf die Monitore, die aber schwarz blieben. Stattdessen öffnete sich eine Luke über der Säule, auf der Maxims Gegnerin stand. Ein Pendel, an dem die Klinge einer übergroßen doppelseitigen Axt hing, schwang herunter, sauste dicht über dem Kopf der Influencerin vorbei. „Dann entscheidet das Los“, ertönte die Stimme unheilvoll.
Maxim wie auch seine Gegnerin starrten mit vor Schreck aufgerissenen Augen auf das Beil über ihren Köpfen und erstarrten für einige Sekunden. Es schwang jetzt zwischen den beiden Säulen, was keinen Zweifel daran ließ, dass es heruntergefahren würde, wenn Maxim nicht sprang.
„Es tut mir leid“, rief er der anderen zu, holte Schwung und sprang. Mit ausreichend Schwung, die Arme wie zuvor schon Felix nach vorne gestreckt, da dies die beste Strategie zu sein schien. Allerdings reagierte seine Kontrahentin blitzschnell, wich zur Seite aus, balancierte auf der Kante, während Maxim an ihr vorbei sprang und sich dann nach vorne nicht mehr abbremsen konnte.
Er verlor den Halt, kreischte in einem einzigen hohen Ton auf, dann sah Alex seinen Körper in die Tiefe stürzen. Er hielt sich instinktiv die Ohren zu, weil er den Todesschrei seines Freundes nicht hören wollte, und wandte den Blick ab.
Maxim war tot. Unwiederbringlich. Es war real, das wurde ihm jetzt noch viel schmerzlicher bewusst als bei den Spielern, die er nicht so gut kannte. Es war absoluter Wahnsinn, was sie hier durchmachen mussten, ein Battle Royale, das einem völlig kranken Hirn entsprungen sein musste. Und sie alle konnten nichts tun als sich dem Spiel zu ergeben, sich darauf einzulassen, ganz egal, was sie dafür tun mussten.
Wie in Trance verfolgte Alex die nächsten Spielzüge, wünschte sich, er würde aus einem Traum aufwachen. Nein, es war kein Traum. Es war der größte Mist, den er je erlebt hatte, das Schlimmste, was er sich hätte ausmalen können, der absolute Horror.
Kurz darauf war ein Spieler an der Reihe, der nur vier Felder hinter Alex stand. Dieser warf den Würfel in die Mitte, vier Augen zeigten nach oben. Alex war mit einem Schlag wieder vollkommen fokussiert. Vier Sprünge, vier Felder, nur einer von ihnen würde diesen Zug überleben.
Wieder brach ihm kalter Schweiß aus. Er beobachtete den anderen genau. Der wich seinem Blick aus, konzentrierte sich auf den ersten Sprung. Er fand sicheren Halt auf der Säule, setzte sofort zum nächsten Sprung an. Auch der gelang. Ohne Zeit zu verlieren, vermutlich ohne sich selbst Zeit zum Nachdenken zu gewähren, sprang er vor aufs nächste Feld.
Nur noch etwa einen Meter war er von Alex entfernt. Nur noch einen Sprung. Auch Alex spannte jetzt alle Muskeln an, wollte sich auf seine Instinkte verlassen. Seine Atmung war flach, sein Blick starr auf den anderen gerichtet. Die nächste Bewegung konnte seine letzte sein oder aber ihm noch etwas Zeit verschaffen. Im Grunde wusste er nicht einmal, was besser war.
 
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