Kapitel 16 – Freundschaft
Spät am Abend plagte Ike das schlechte Gewissen, als er mit dem Fuhrwagen im Stockdunkeln das Pferd nach Hause dirigierte. Außerdem hatte der Alkohol ihm ziemlich zugesetzt. Zwar konnte er seinen Alkoholpegel mit einer Injektion augenblicklich neutralisieren, ebenso würde er seine Platzwunden am Kopf mit speziellen Haftpflastern ohne nähen heilen können, jedoch war sein quälender Zweifel mit keiner Medizin zu bekämpfen.
Ike war wieder nüchtern, saß niedergeschlagen am Küchentisch und stocherte lustlos in seiner Mahlzeit herum. Eloise tischte gerade eine dampfende Schüssel Kartoffeln auf, wobei sie ihn unentwegt anblickte. Er hatte ihr von dem Szenario im Nelson`s Pub anstandslos berichtet. Wie sonst hätte er ihr auch das geschwollene Auge, seine verstauchte Hand, all die Schrammen und seine aufgeplatzte Lippe erklären sollen?
„Ach Liebes, scheinbar habe ich es völlig falsch angegangen. Anstatt nun Freundschaft mit Bob und den Anderen zu schließen, habe ich sie mir jetzt endgültig zu Feinden gemacht. Was soll ich bloß nur tun?“, fragte er seufzend.
Laika trabte langsam auf ihn zu, stellte ihre Vorderpfoten auf die Stuhllehne und schleckte über seine Wange. Ike drückte seinen Schäferhund beiseite.
„Aus Laika! Was soll das? Mach entweder sitz oder platz!“, schnauzte Ike verärgert.
Der Hund gehorchte. Laika hockte sich, gähnte ausgiebig und legte sich daraufhin jauchzend bäuchlings unter den Küchentisch. Beide Befehle hatte Laika brav ausgeführt.
Ike war ratlos. Im 25. Jahrhundert schloss man zwar mit Auseinandersetzungen dieser Art ebenso wenige Freundschaften, dafür aber war die Kompromissbereitschaft derartige Streitigkeiten wieder zu kitten erheblich leichter, als es ihm in der vergangenen Welt möglich erschien. Einmal Feind, immer Feind, machte er bislang die Erfahrung. Die meisten Akteure machten auf ihn den Eindruck, dass sie oftmals nachtragend reagierten, selten verziehen und den Respekt, den sie ihm entgegen brachten, beruhte lediglich auf Furcht. Furcht vor einer Kündigung. Für das arbeitende Völkchen hatte Stolz und Ehre noch allerlei Bedeutung, und so mancher wäre sogar bereit dafür zu sterben. Auf ihr Wort, welches mit einem Handschlag besiegelt wurde, konnte man sich noch verlassen und darauf bauen. Ganz anders als in seiner Welt.
Die meisten Werftarbeiter hegten eine abgrundtiefe Abneigung gegen ihn, davon ging er zumindest aus. Bob hielt es ihm leibhaftig stets vor Augen. Jetzt im Nachhinein erschreckte ihn sogar der unbändige Hass, welchen Bob ihm entgegenbrachte. Vielleicht vermochte Eloise ihm einen Ratschlag zu erteilen, der möglicherweise fruchten könnte. Schließlich war es ihre Welt und sie kannte ihre Mitmenschen weitaus besser, als er selbst.
„Ach, ihr Männer seid doch alle gleich“, fuhr Eloise ihn säuerlich an, wobei sie ihm hektisch die Kartoffeln auf seinen Teller auftat. „Immer müsst ihr so viel trinken und dann prügelt ihr euch, wie Rabauken, anstatt euch zu vertragen und einen schönen Abend zu haben. Allesamt gehört ihr in einen großen Sack gesteckt und dann immer kräftig mit dem Teppichklopfer draufgehauen!“
Ike blickte sie mit seinem geschwollenen Auge hilflos an.
„Okay, da ist was dran. Und welchen klugen Rat wirst du mir nun geben, Liebes?“, fragte er erwartungsvoll.
Eloise überlegte. Sie spitzte ihren Mund, tippte mit dem Finger drauf und blickte zur Decke.
„Entschuldige dich einfach beim armen Bob. Du hast ihn schließlich vor all seinen Freunden bloßgestellt, indem du ihn verprügelt hast.“
Ike ließ sofort Gabel und Messer auf seinen Teller fallen.
„Was? Wie bitte? Armer Bob?“, empörte sich Ike. „Diesem Schweinehund gehört die fristlose Kündigung! Wahrscheinlich hatte er die Schlägerei sogar geplant! Du warst nicht dabei gewesen aber ich versichere dir, dass er mich ständig provoziert hatte. Ich bin sein Vorarbeiter und kann unmöglich vor versammelter Mannschaft klein beigeben. Eine Entschuldigung würde mich lächerlich darstellen lassen. Man würde denken, dass ich ein schwacher Vorarbeiter wäre. Dem werde ich eher …“
„Papperlapapp!“, unterbrach sie ihn garstig. „Falls du von seiner Aufrichtigkeit überzeugt bist und meinst, dieser Mann ist es wert dein Freund zu sein, musst du diesen ersten demütigen Schritt wagen. Ich glaube nämlich, er hat dich nur deshalb provoziert, weil er genauso wie du ein Sturkopf ist und es nicht einsieht, um deine Freundschaft zu betteln.“
Eloise stürzte sich auf seinen Schoss, umklammerte ihn und schmiegte ihren Kopf zärtlich gegen seine Brust.
„Ich meine damit ja nicht, dass du dich auf ein Podium stellen und vor versammelter Mannschaft lautstark um Verzeihung bitten sollst. Aber du musst ihm deine Hand reichen. Der Klügere gibt nämlich nach, sagte meine Großmutter immer, wenn ich mich früher mit meinen Brüdern Paddy und Albert gestritten hatte.“
Ike streichelte über ihren Kopf und blickte nachdenklich auf die dampfenden Kartoffeln. Der Klügere gibt im 20. Jahrhundert also nach? Wusste er gar nicht. In seinem Jahrhundert gilt man als ein Schwächling, wenn man seine Fehler zugibt. Nur wer die coolsten Sprüche parat hat, kann sich geschickt aus der Misere befreien und seine Kontrahenten lächerlich darstellen lassen, um letztendlich als der Sieger angesehen zu werden. Ike schnappte sich ihren geflochtenen Zopf und kitzelte wiedermal damit ihre Nase. Eloise kicherte und rächte sich, indem sie ihn in die Seiten kniff.
„AUA!“, stieß es aus ihm wehleidig heraus.
„Was ist?“, fragte Eloise aufgeschreckt.
„Meine Rippen tun mir doch weh, Liebes … Wegen verdomme Bob“, antwortete er schmerzverzehrt.
Am nächsten Morgen, als die Firmenschelle wieder pünktlich um 6 Uhr morgens rasselte, betrat Ike – mit einem geschwollenen Auge und verbundenem Handgelenk – die Schreinerwerkstatt, wobei er sein schlechtes Gewissen mit einer autoritären Erscheinung geschickt überspielte und statt wie gewöhnlich kumpelhaft, diesmal äußerst ernst und unnahbar seinen Leuten begegnete. Er hätte zwar das blaue Auge und die verstauchte Hand mit seinem Medikit behandeln können, aber das wäre zu auffällig gewesen.
Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass sich niemand arbeitsunfähig gemeldet hatte, obwohl so mancher humpelte und einen verbundenen Arm sowie genähte Platzwunde zu beklagen hatte. Was ihn aber wirklich überraschte war, dass ihn niemand missmutig anblickte. Im Gegenteil. Seine Arbeiter schienen allesamt gut gelaunt zu sein, klopften ihm auf die Schulter und lobten sogar den gestrigen Nachmittag. Selbst der Nieter Jefferson kam extra von der Helling in die Schreinerwerkstatt herbeigeeilt und bedankte sich bei ihm händeschüttelnd für die gestrige Einladung im Nelson`s Pub, obwohl Ike ihn um mindestens einen Schneidezahn erleichtert hatte. Und da sie sich gestern sehr nahe gekommen waren, erlaubte sich Jefferson ihn sogar beim Vornamen zu nennen, als wären sie die besten Freunde.
„Du bist ein wahrer Pfundskerl, Ike. Es gibt nichts Besseres, wenn das Freibier in Strömen fließt und anschließend eine wilde Keilerei angezettelt wird“, meinte Jefferson grinsend. „Das war wahrhaftig ein Heidenspaß! Aber zukünftig möchte ich mich mit dir nicht mehr anlegen wollen.“
Ike verschlug es die Sprache, denn sogar einige geschundene Männer aus dem Olympic-Team klopften ihm anerkennend auf die Schulter, obwohl er ihnen eine reingehauen hatte.
Die gestrigen Ereignisse im Nelson`s Pub sprachen sich rasch herum: Der Holländer hat sich mit McMurphy und vielen anderen angelegt. Der kann sogar Kung Fu, erzählten sie respektvoll.
Wie dem auch sei. Die meisten Werftarbeiter, die ihn hinter seinem Rücken bloß abfällig den Holländer oder der Adonis mit den weißen Zähnen betitelt hatten, nannten Ike von nun ab van Broek. Oder sie sagten weiterhin: Der Holländer, weil sie es so gewohnt waren. Aber nun klang es wesentlich freundlicher.
Nur Bob verhielt sich ihm gegenüber weiterhin distanziert. Mürrisch schnappte er sich einen Besen und fegte mit blauen Augen die Werkstatt aus. Ike schlich sich vorsichtig von hinten an ihn heran, schnappte dann seine Schirmmütze und setzte dafür seinen Bowler auf dessen Kopf. Einen Moment blickten sich beide nur regungslos an.
„Du hast einen verdammt harten Schädel, Freundchen“, lächelte Ike und rieb sich dabei demonstrativ seine Stirn. Dann blickte er auf seine verbundene Hand. „Dir eine zu verpassen, hätte beinahe meine Knöchel gebrochen.“
Bob zuckte mit den Achseln und schaute ihn dabei ernst an.
„Dein Bums ist aber auch nicht von schlechten Eltern“, antwortete er mit seiner knurrigen Stimme. Langsam verzierte sich sein mürrisches Gesicht zu einem schelmischen Grinsen.
„Komm schon, Bob. Lass uns die Hand reichen. Für heute übernimmst du die Führung. Ich muss Zuhause noch was erledigen. Ich ernenne dich in meiner Abwesenheit zum stellvertretenen Vorarbeiter. Was sagst du dazu? Übrigens gelang es mir, dass Nelson dein Hausverbot wieder aufgehoben hat. Benimm dich also zukünftig“, sagte Ike wobei er mahnend mit dem Zeigefinger wankte.
Bobs zugeschwollenen Augen weiteten sich überrascht. Damit hätte er niemals gerechnet.
„Du ernennst mich in der Tat zum Stellvertreter als Vorarbeiter?“, fragte er verwundert. „Und-und Nelson hat das Hausverbot tatsächlich aufgehoben? Wie hast du das hingekriegt? Dafür danke ich dir. Jetzt hast du was gut bei mir. Du bist am Stammtisch willkommen, mein Freund“, antwortete er fröhlich und kniff ihm in die Bauchseite, woraufhin Ike kurz vor Schmerzen aufschrie und Bob schadenfreudig lachte.
Der Rasselwecker zeigte 1:46 Uhr, als Ike schlaftrunken seine Augen öffnete. Wie immer hatte er einen unruhigen Schlaf und wachte meistens um genau dieselbe Uhrzeit auf, obwohl er erst um 3:30 Uhr aufstehen musste. Vorsichtig schlüpfte er aus dem Bett, damit Eloise nicht erwacht. Nur Laika bemerkte es, dass ihr Herrchen aufgestanden war und folgte ihm sofort.
Leise schlich er die Treppe hinunter in das Badezimmer. Hinter dem technologischen Spiegel hatte Ike eine Mikrokamera installiert, nuschelte nun einen Zahlencode vor sich hin und steckte sich einen Mikrosender ins Ohr. Sogleich schaltete ein überdimensionaler Monitor in der Sicherheitszentrale sein übermüdetes Gesicht frei. Eine Liveschaltung aus der Vergangenheit war nun zustande gekommen.
Über einhundert Agenten, die vor ihren Computern saßen und pausenlos TTA-Kunden während ihrer Zeitreise beobachteten, wurden gerade Zeuge von dem, was Ike zu berichten hatte. Agent Henry und die Psychologin aus dem Allemande-Sektor, Frau Dr. Heinzmann, verfolgten seine Botschaft auf einem gesonderten Monitor.
Ein Psychologe begleitete die Schleuser während ihrer Mission und stand diesem zehn Stunden unentwegt zur Verfügung. Die psychologische Betreuung gehörte zum Missionsprogramm dazu und war gesetzlich vorgeschrieben. Immerhin verbrachten die Schleuser oftmals einige Jahre in der vergangenen Welt, verließen ihre eigenen Familien und lebten in einer völlig fremden Welt. Besonders die nahestehenden Personen, hauptsächlich der neue Lebenspartner, könnte zu ungeahnter Problematik führen, woraufhin die schauspielerische Fassade mancher Schleuser zerbröckelte. Berücksichtigt werden musste zudem, dass die meisten Schleuser irgendwann in Lebensgefahr schwebten, abgesehen von dem immensen Leistungsdruck, der jeden Geheimagenten auf den Schultern lastete.
„Merde, wie verdammt nochmal siehst du denn aus? Ist dir etwa eine Dampfmaschine über die Visage gerollt?“, eröffnete Henry erstaunt das Gespräch, als er in Ikes ramponiertes Gesicht blickte.
„Alles Gut, Henry. Ich habe nur ein paar Freundschaften geknüpft“, antwortete Ike übermüdet mit nacktem Oberkörper.
Henry zuckte mit seinen Augenbrauen und gedachte sogleich, das Thema anzusprechen. Ike konnte ihn nur hören aber nicht sehen und eine Liveschaltung aus der Vergangenheit über den Satelliten, dauerte bei einem optimalen Funksignal allerhöchstens 40 Sekunden an.
„Heute ist Mittwoch, der fünfzehnte Dezember 1909. Die Auswanderer werden heute Vormittag erscheinen“, hauchte Ike niedergeschlagen, streckte sich und öffnete eine der obersten Kacheln. Ein Geheimfach, darin sich seine Medizin verbarg. Gierig verschlang er einige Aspirin Tabletten.
„Verdammter Alkohol. Mein Herz rast wie eine Dampflok, außerdem dröhnt mir trotz Neutralisierung der Schädel. Nie wieder werde ich Alkohol trinken! Wie lange bin ich schon auf Zeitreise?“
Ike versuchte krampfhaft zu schauspielern, denn er wusste von der Genialität dieser Psychologen, denen ohnehin die modernsten Gerätschaften zur Verfügung standen, um durchschaut zu werden. Nur ein falsches Wort, allein nur eine unbedachte Gestik könnte ausreichen, seinen wahren Gemütszustand zu verraten.
„Alles klar, Junge. Du bist jetzt genau neununddreißig Minuten auf Zeitreise. Heute um exakt 9:30 Uhr deiner Ortszeit werden die Auswanderer ungefähr zwanzig Meilen südöstlich entfernt deines Wohnortes teleportiert werden. Ein Schleuserteam wird sie dort mit einem Pferdegespann erwarten. Ich schätze, sie werden gegen zehn Uhr Ortszeit bei dir eintreffen. Wirst du sie persönlich empfangen?“
„Nein“, antwortete Ike. „Ich kann nicht, weil ich auf der Werft bin. Aber sei unbesorgt, Liebes … ähm, ich meine Eloise, wird da sein und sie begrüßen.“
Nur für eine Sekunde leuchteten kurzzeitig seine Augen auf, dann sanken sich wieder seine müden Augenlieder.
„Er hat Probleme“, flüsterte Frau Dr. Heinzmann Henry energisch zu. „Eindeutig!“
Henry betätigte sogleich die Stummtaste und unterbrach somit die Verbindung.
„Was denn für Probleme, Frau Doktor?“, fragte Henry genervt. „Okay, er musste sich prügeln. Sicher, er wird ständig gemobbt, das alles war aber vorhersehbar und damit wird er allemal fertig.“
„Nein, das ist es nicht. Vermutlich liegt ihm mehr an seiner Lebenspartnerin, als erwünscht. Die Frequenz seines Pulses stieg minimal an, als er diese Akteurin erwähnte. Henry, er ist erst seit knapp vierzig Minuten auf Zeitreise. Ein Abbruch der Mission wäre jetzt noch ertragbar. Lass uns die Mission sofort abbrechen! Er ist der falsche Schleuser für die Belfast Mission. Ich schlage einen geeigneteren Schleuser vor: Marko Rijken.“
Henry blickte sie überrascht an.
„Doktor Heinzmann, wollen Sie mir ernsthaft weismachen, Ike hätte sich etwa in dieses Mauerblümchen verguckt? Niemals! Van Broek ist ein abgebrühter Eisklotz. Der wechselt seine Freundinnen wie seine Unterwäsche. Die einzige Frau die ihm wirklich etwas bedeutet, ist seine kranke Mutter. Lesen Sie seine Akte, er hatte in Southampton ohne zu zögern einen Befehl ausgeführt und einen TT ausgeschaltet. Das besagt alles!“
„Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Schleuser sich in eine Akteurin verliebt. Letztendlich wird es die Mission nur behindern. Henry, beauftragen Sie umgehend Schleuser Marko Rijken für diesen Einsatz. Er ist Schleuser Ike van Broek immerhin eine Mission voraus und hatte diese Problematik bereits hinter sich. Auf Schleuser Rijken ist diesbezüglich nun Verlass!“
Henry schüttelte mit dem Kopf und atmete entnervt tief durch.
„Frau Doktor Heinzmann … Jeder unserer Schleuser hat gewisse Fähigkeiten. Marko Rijken ist unser Mann im Mittelalter, denn DAS ist sein Zeitalter. Rijken kann mit dem Schwert und Bogen umgehen, aber handwerklich ist er eine Null. Außerdem ist er ein Hitzkopf und viel zu arrogant, was ihm im Mittelalter zwar Anerkennung bringt, aber für das Zwanzigste Jahrhundert, also für die Belfast Mission, absolut nicht eignet. Wir können jetzt nicht einfach abbrechen. Die Auswanderer haben bereits in der TTA eingecheckt und später werden die Akademiker aus Nieuw Bruxelles ins Jahr 1912 teleportiert. Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie viel diese Herrschaften aus City Nieuw Bruxelles für ihre Zeitreise gelöhnt haben, geschweige denn, die Auswanderer? Außerdem fehlen Rijken die nötigen Referenzen, der hat doch keinen blassen Schimmer vom Schiffsbau. Schleuser Rijken wird die Akademiker nur, wie geplant, im Jahr 1912 betreuen und ins Hotel chauffieren“, redete er hastig auf die Psychologin ein.
Frau Doktor Heinzmann verzog ihren Mund. Sie war mit Henry nicht einer Meinung.
„Sehen Sie ihn sich doch an. Schleuser van Broek ist in einem erbärmlichen Zustand! Die Akteure haben ihn schlimm zugerichtet. Ich bin überdies für das Wohlergehen meines Patienten verantwortlich!“, erhob sie daraufhin nur flüsternd ihre Stimme, damit die rundherum sitzenden Agenten ihre Debatte nicht verfolgten.
Henry hielt sich nachdenklich die Hand vor dem Mund. Er grübelte, dann deaktivierte er die Stummtaste, sodass Ike das Gespräch wieder nachverfolgen konnte.
„Ike, Doktor Heinzmann vermutet, dich quälen persönliche Anliegen. Bedrückt dich etwas?“, hakte Henry fürsorglich nach.
Nach einer Weile des Funkrauschens meldete sich Ike wieder zu Wort. Die Funkverbindung, die eine vierdimensionale Distanz von über 560 Jahre per Stummtaste angehalten wurde, kam wieder zustande.
„Ach Henry, immer diese Quacksalber. Es ist alles in bester Ordnung. Nur weil ich schlecht gelaunt bin heißt das noch lange nicht, dass es mir nicht gut geht. Steht ihr doch mal tagtäglich mitten in der Nacht auf!“, antwortete er grantig.
„Hey, zügle dich bitte in deiner Ausdrucksweise. Du bist auf Sendung! Jeder in der Sicherheitszentrale sieht dir gerade zu. Alles klar, mein Sohn, du machst deine Sache ausgezeichnet. Bleib weiterhin auf der Hut“, beschwichtigte Henry seinen Rekruten.
Ikes Gesicht auf dem überdimensionalen Monitor verwandelte sich in schwarz-weißes Rauschen. Die Übertragung verzerrte sich. Ike tippte mit dem Finger energisch gegen den Sender, der in seiner Ohrmuschel steckte.
„Was hast du gesagt, Henry? Okay, die Auswanderer werden heute …“
Die Funkverbindung war nun endgültig abgebrochen. Die 40 Sekunden waren um. Dr. Heinzmann blickte Henry kühl durch ihre Brillengläser an. Seine Entscheidung missfiel ihr. Das Wohlergehen von Ike van Broek war ihre höchste Priorität, selbst wenn Ike nicht gleicher Meinung wäre.
„Keine Sorge, der Junge regelt das schon. Sie müssen eines bedenken, Frau Doktor. Ike lebt in einer Zeit, in der noch strikt nach dem Alten Testament gelebt wird. Auge um Auge, Zahn um Zahn, und Belfast war ohnehin schon immer ein Pulverfass gewesen. Dass er möglicherweise in Prügeleien verstrickt wird, war abzusehen. Er ist ein sehr guter Kampfsportler, davon habe ich mich persönlich selbst überzeugt.“
„Möglich, vielleicht täusche ich mich auch. Ihre Entscheidung, Henry. Ihre Verantwortung“, lenkte Dr. Heinzmann schließlich ein.
„Das ist sie verdammt nochmal immer … Meine Verantwortung“, konterte Henry und strich sich dabei nachdenklich beide Hände über das Gesicht.
„Was für Auswanderer werden kommen? Mit wem sprichst du überhaupt?“
Plötzlich erblickte Ike im Spiegel, wie Eloise am Türrahmen anlehnte und gähnte. Sie hatte wie immer sein Schlafhemd übergezogen. Die Ärmel waren ihr viel zu lang, und der Saum verdeckte beinahe ihre Knie.
„Ähm …Tja, weißt du Liebes“, stockte Ike. „Ich ähm … Ich probe gerade eine Rede, weil ich mich heute Mittag vor Mister Andrews und einigen Korrespondenten der White Star Line rechtfertigen muss, weil ich die Kapazität der Mannschaftskabinen für die Emigranten zu engräumig halte und deshalb …“
„Ach so“, winkte sie lächelnd ab. „Du Ärmster. Deine Aufregung kann ich sehr gut nachempfinden und hätte an deiner Stelle auch verflixten Bammel. Du hast mir ja erzählt, dass mit diesem fiesen Engländer Mister Andrews nicht gut Kirschen essen ist. Ihr und eure Titanic immer …“ – Sie gähnte ausgiebig – „Wie … Wie langweilig.“
„Nein, Liebes. Nicht meinen direkten Vorgesetzten Mister Thomas Andrews hatte ich als schwierig bezeichnet, der übrigens ein Ire ist. Sondern Mister Bruce Ismay, der Direktor der White Star Line.“
„Wie auch immer …“, gähnte sie erneut. „Verflixt langweilig.“
Eloise neigte ihren Kopf gegen den Türrahmen. Ihre lange kupferrote Haarpracht glänzte im Lichtschein. Sie lächelte, als wäre bereits die Sonne aufgegangen.
„Weshalb bist du eigentlich schon mitten in der Nacht wach? Um diese Uhrzeit solltest du doch noch schlafen“, wechselte Ike geschickt das Gesprächsthema.
„Ach, wenn du nicht im Bett liegst, kann ich auch nicht mehr schlafen.“
Ihre grünen Augen funkelten verliebt, als sie auf ihr Hand schmatzte und ihm einen Kuss entgegenpustete. „Ich werde jetzt deine Brotbüchse zubereiten, Ike van Broek“, hauchte sie verführerisch.
Sie lehnte ihren Kopf weiterhin gegen den Türrahmen und blickte ihn sehnsüchtig an. Sie wartete scheinbar auf etwas. Ihr Lächeln verzauberte ihn immer wieder. Ikes schlechte Laune entschwand daraufhin. Faszinierend sah er sie durch den Spiegel an und lächelte.
„Ja Liebes, ich liebe dich auch“, antwortete Ike in das Spiegelbild, hindurch er sie schmunzelnd beobachtete.
Eloise zupfte wieder die langen Ärmel zurecht, schmatzte auf ihr Handgelenk und pustete ihm abermals einen Kuss zu, bevor sie lächelnd in die Küchenstube verschwand. Noch einmal lugte sie zaghaft an der Türschwelle und beobachtete ihn kurz durch den Spiegel, wie er nachdenklich sein geschundenes Gesicht abtastete.
„Du, mein lieber Rabauke … Magst du eigentlich eher Leberwurst oder Blutwurst auf deinem Brot?“, fragte sie lächelnd. Aber ohne eine Antwort abzuwarten sagte sie: „Ich weiß, du magst lieber die Blutwurst“, giggelte Eloise und eilte in die Küchenstube.
Ikes Heiterkeit entschwand. Als Eloise verschwunden war, öffnete er hastig die obersten Fliesenkacheln, schnappte sich die Vitamintabletten und schluckte einige davon. Er blickte leicht besorgt in den Spiegel und atmete schwermütig auf. Es ließ sich leider nicht vermeiden, dass er die Owens nicht persönlich empfangen konnte. Im Hauptquartier von Harland & Wolff stand eine aufklappbare schwarze Tafel, worauf ständig mit Kreide nach versierten Handwerkern ausgeschrieben wurde. Unter anderem suchte die Schiffswerft nach einem weiteren fähigen Elektriker für das Titanic-Team. Ike empfahl sogleich seinen vermeintlichen Onkel, Charles Owen, der daraufhin ohne ein Vorstellungsgespräch von der Geschäftsführung blindlings eingestellt wurde. Ike hatte sich bislang hervorragend bewährt, das Unternehmen profitierte von seinen außergewöhnlichen Kenntnissen. Insbesondere der Konstrukteur der Titanic, Mr. Thomas Andrews, wollte seinen fähigen Vorarbeiter nicht mehr missen und so meinte die Geschäftsführung, dass man einem Verwandten von Mr. van Broek jederzeit bedenkenlos einen begehrten Arbeitsplatz anvertrauen könnte.
Ike verstaute die Pillendose wieder in das Geheimfach, darin außerdem seine EM-23 Pistole versteckt war, klappte die Fliesenkacheln zu und war davon überzeugt, dass Eloise die Auswanderer aus der Zukunft problemlos empfangen würde. Es wird schon gutgehen, dachte er sich.