Kapitel 22 – Gewöhnlicher Alltag
Nordirland 1910
Ein halbes Jahr war nun verstrichen. Die Superschiffe erlangten von Monat zu Monat mehr an Gestalt; alles verlief planmäßig, genauso wie es zukünftig in den Sachbüchern geschildert werden würde. Aufgrund der vorhersehbaren Ereignisse, die Ike bekannt waren, schlich sich eine gewisse Routine in sein Leben ein weshalb er seit einiger Zeit dazu neigte, etwas arglos und unbeschwert seinen Pflichten nachzugehen. Seine täglichen Kontrollgänge durch die Werkstätten sowie auf den Helgen hatte er zu Missionsbeginn noch gewissenhaft eingehalten und den Warenimport stets überwacht, nun aber widmete er diese Angelegenheiten nur noch flüchtige Blicke zu, oder ging seinen Verpflichtungen manchmal tagelang gar nicht nach.
Ike hatte sich trotz anfänglichen Schwierigkeiten prächtig in diesem fremden Jahrhundert eingelebt und wurde seiner Fahrlässigkeit erst bewusst, als er eines Tages wiedermal unbekümmert durch die Schreinerwerkstatt stolzierte, obwohl diesmal ein Fotograf anwesend war und dies sogar ganz groß auf der schwarzen Tafel im Hauptquartier mit Kreide aufgeschrieben wurde. Er hätte an diesem Tag die Tafel unbedingt beachten sollen!
„Meine Herren, bitte schauen Sie in die Kamera während Sie Ihre Arbeit verrichten!“, rief der Fotograf, bevor er die schwarze Abdeckung von der Kamera über seinen Kopf stülpte und sein Assistent das Blitzlichtpulver im Lampenschirm entzündete. WUPP – Qualm stieg empor. Das Foto wurde geschossen.
Dieser Augenblick wurde soeben für die Ewigkeit auf eine schwarz-weißen Fotografie festgehalten, darauf Ike deutlich mit seinem Bowler zu sehen war und er, aufgrund dieser unangenehmen Überraschung, obendrein belämmert drein schaute. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er zukünftig in dutzende Sachbüchern abgebildet sein könnte, obwohl er gar nicht existieren durfte.
Henry hätte es ihm zwar nicht groß erläutern müssen, aber er tat es damals in Vincenzo`s Bar dennoch: „Pass bloß auf, dass du nicht versehentlich auf die Titelseite einer Zeitung erscheinst, dass du überhaupt von irgendjemanden abgelichtet wirst. Schließlich hast du in diesem Jahrhundert nichts zu suchen!“
Ike schritt dem Fotografen selbstbewusst entgegen und war fest entschlossen, das verräterische Negativ zu beschlagnahmen.
„Hey, Sie da! Fotoplatte abliefern und zwar sofort! Ohne schriftliche Erlaubnis dürfen Sie in meiner Werkstatt nicht fotografieren!“, forderte Ike ihn auf, indem er energisch mit dem Finger lockte. „Sie verstehen mein Herr, wegen Spionage.“
Der Fotograf jedoch belächelte ihn nur.
„Hören Sie, Mister. Sie mögen vielleicht ihren Handwerkern und Lehrbuben Befehle erteilen können, mir dagegen noch lange nicht! Ich darf mich Ihnen vorstellen: Mein Name ist Mister R.J. Welch. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, Sir.“
Dann schnappten seine Assistenten die Fotoausrüstung und verschwanden grußlos aus der Werkshalle, wie auch Mr. Welch, der ihm keinen weiteren Blick würdigte. Ike erstarrte, denn er wusste, dass Mister R.J. Welch ein bekannter Fotograf aus Belfast war, der von Lord Pirrie persönlich dazu angeheuert wurde, die Bauarbeiten der Titanic sowie Olympic fotografisch zu dokumentieren. Seine Vorgehensweise war also völlig legal und dass er Ike abgelichtet hatte, dagegen konnte er nun nichts mehr unternehmen.
Der Werfteigner Lord Pirrie hatte noch weitere Fotografen vertraglich verpflichtet und sogar einen Kameramann dazu beauftragt, die Fortschritte der Bauphasen in sogenannten bewegten Bildern festzuhalten. Ike rückte seinen Melonenhut etwas zurück, kratzte sich an der Stirn und schaute dem Fotografen zerknirscht hinterher. Er musste sein Missgeschick also anstandslos hinnehmen und nach Beendigung der Mission eventuell mit einer saftigen Konventionalstrafe rechnen, falls diese Fotografie nun in irgendeinem Sachbuch tatsächlich erscheinen würde.
Die Owens hatten nun die Hälfte ihres Probejahres im anfänglichen 20. Jahrhundert hinter sich. Nun betrachteten sie ihre Umgebung nicht mehr gar so fasziniert, wie sie es anfangs getan hatten. Sogenannte antike Mobiliare gehörten ab sofort zum alltäglichen Gebrauch und wurden von ihnen nicht mehr wie zu Beginn, ehrfürchtig und wie ein rohes Ei behandelt. Demzufolge scheute Anne bald auch nicht mehr davor zurück, die Küchenstühle ebenfalls wie es Eloise tat, als Tritthilfe zu missbrauchen, wenn sie die Spinnenweben an den Decken sowie Staub von allen Schränken säuberte. Ebenso wenig bewunderte Anne nicht mehr weiterhin die originalen Gemälde von zukünftig berühmten Künstlern wie Picasso und Monet, welche die Stubenwände dekorierten und Charles gaffte keinem Automobil mehr interessiert hinterher, sondern moserte stattdessen herum, weil sein Budget für ein Vehikel bislang immer noch nicht ausreichte.
Zwischen Anne und Eloise entwickelte sich eine wahre Freundschaft. Annes Befürchtung, dass Eloise sich nach ihrer Unterredung an Ike wenden würde, war nicht eingetroffen. Denn es war nicht einmal eine Stunde verstrichen, als es erneut an ihrer Türe geklopft und Eloise reumütig um Verzeihung gebeten hatte.
„Es tut mir leid, Anne. Verzeihe mir bitte. Ich habe mich töricht verhalten und meinen Missmut an dir ausgelassen. Trotzdem, ich werde die Hoffnung niemals aufgeben und täglich zum HERRN beten, dass Ike und ich bald ein Baby bekommen, damit er mich endlich heiratet.“
Anne neigte leicht ihren Kopf seitlich und blickte sie gütig an. Sie tat sich schwer dabei, ihre mitleidigen Gefühle zu unterdrücken und ihr stattdessen gar Hoffnungen zuzusprechen. Sie wusste genau, so lange Ikes Mikrochip aktiviert war, blieb jegliche Aussicht auf eine Schwangerschaft chancenlos. Außerdem bemitleidete sie Eloise zutiefst, weil sie sich nichts Sehnlichstes wünschte, als eine gemeinsame Zukunft mit Ike. Aber Ike wird nach Beendigung der Mission aus ihrem Leben für immer verschwinden müssen.
„Ich wünsche es euch vom Herzen, dass ihr irgendwann ein Kind bekommt. Möge Gott deine Gebete erhören“, hatte Anne ihr trotzdem geantwortet. Eloise hatte sie daraufhin umarmt und sich für ihr Mitgefühl bedankt, weil sie ernsthaft davon ausging, dass Anne ihren Herzenswunsch nun täglich in ihr Nachtgebet mit einbeziehen würde.
Anne und Eloise verbrachten sehr viel Zeit miteinander. Wenn die Männer ihrer Pflicht auf Queens Island nachgingen, tätigten beide Frauen gemeinsam den Haushalt. Dabei bekam Anne des Öfteren auch die etwas unangenehmere Charaktereigenschaft von Eloise zu spüren, diese ebenso temperamentvoll war, wie ihre liebenswerte Seite. Denn sobald Eloise mit einem geflickten Rock erschienen war und ihr Haar hochgewuschelt und es mit Wäscheklammern provisorisch fixiert hatte, mutierte sie zu einem griesgrämigen Putzteufel, dem man es niemals recht machen konnte. Dann huschte sie hektisch umher, war keinesfalls für ein Späßchen aufgelegt, blickte Anne stets über die Schulter und begutachtete kleinlich ihre getanen Hausarbeiten. Wo auch immer Anne mit dem Putzlappen sauber machte, kontrollierte Eloise sofort und wischte oftmals erneut über die Schränke.
Ständig bemängelte Eloise, dass sie nicht gründlich genug und viel zu langsam putzen würde, warf ihr manches Mal sogar vor, ohne ihre Hilfe würde sie gar schneller vorankommen. Eloise mochte nie mit ansehen, mit was für einem Schneckentempo – wie sie es stets ausdrückte – Anne die Fußböden kehrte. Dann öffnete sie die Haustür und Fenster, entriss ihr einfach den Besen und fegte dynamisch, bis der Staub im einfallenden Sonnenlicht glitzerte.
„So wird das gemacht, meine Dame. Zum Trödeln haben wir nämlich keine Zeit!“, motzte sie dann.
„Aber Eloise“, sprach Anne behutsam auf sie ein. „Du wirbelst doch nur den ganzen Staub auf, anstatt zu kehren. Du musst gemächlicher fegen oder noch besser, wir schaffen uns einen elektrischen Staubsauger an. Was hältst du davon? In Amerika benutzt man bereits beinahe in jedem Haushalt …“
„Was? Elektrischer Staubsauger? Wenn ich so was schon höre. Das würde dir so passen!“, giftete sie gereizt. „Solchen Firlefanz brauchen wir nicht! Das ist sowieso wieder nur Spielerei für die reichen Leute, weil sie zu faul zum Kehren sind. Sind wir etwa Millionäre, die sich solch ein Kinkerlitzchen leisten können? Nein! Der Boden wird gefegt und die Teppiche werden ausgeklopft, wie eh und je. So hat es schon selbst meine Großmutter getan und so wird es auch weiterhin gemacht. Basta!“
Eloise geriet ebenfalls schnell in Rage, wenn Waschtag angesagt war und Anne wiedermal die schmutzigen Kleidungstücke falsch oder gar nicht aussortiert hatte.
„Ich habe es dir jetzt schon mindestens hundertmal erklärt!“, meckerte sie, wobei eine Wäscheklammer aus ihrer hochgewuschelten Haarmähne regelrecht abschoss, weil sie beim Schimpfen hektisch mit dem Kopf schüttelte.
„Die weiße Wäsche gehört NICHT mit den dunklen Klamotten zusammen in eine Blechwanne. Und die Socken, sowie die Unterwäsche, werden IMMER in einem extra Eimer aufbewahrt.“ – Sie schüttete die Blechwanne mit der schmutzigen Wäsche kurzerhand aus – „Jetzt sortierst du die Kleidungstücke gefälligst richtig. So, das hast du jetzt davon, bist du es endlich kapierst!“
Beim Kochen schaute Eloise ihr besonders kritisch auf die Finger, schließlich war die Küche ihr persönliches Königreich und ihren geliebten Herd behandelte sie wie eine Schatztruhe, obwohl die Küchenzeile genau genommen Anne gehörte. Wehe dem, eine Gabel lag achtlos herum oder Anne hatte wiedermal einen Kochtopf dorthin eingeräumt, wo er nicht hingehörte. Ganz zu schweigen davon, wenn verschmutztes Geschirr immer noch im Waschbecken lag.
Als Anne einmal alleine eine Hühnersuppe gekocht und ihr das Ergebnis stolz präsentiert hatte, hatte Eloise zuerst prüfend in den Kochtopf hinein geschaut und mit einem Kochlöffel darin herum gerührt, bevor sie gekostet hatte.
„Die Möhrchen sind viel zu dick geschnitten und das Suppenhuhn hättest du mindestens zehn Minuten länger köcheln lassen müssen. Das sehe ich doch, weil viel zu wenige Fettaugen drin sind. Die Brühe wird bestimmt nur nach heißem Gemüsesaft schmecken, und niemals nach einer kräftigen Hühnersuppe“, mäkelte sie. „Außerdem hast du schon wieder den Sellerie vergessen.“
Anne biss sich auf ihre Lippe, griff nach dem vorgeschnippelten Sellerie und als sie gerade dabei war, das Gemüse in die Suppe beizugeben, blickte Eloise sie großäugig an.
„Na-na-na-na! Das ist ja wirklich verflixt mit dir. Du wirst doch wohl nicht das Sellerie ungekocht in die Suppe tun wollen?! Du machst es dir wohl gerne einfach, stimmt’s? Tisch unseren Männern doch gleich eine rohe Sellerieknolle auf. Du wirst jetzt schön eine separate Pfanne nehmen, etwas Butter hinzugeben und den Sellerie langsam dünsten lassen“, grinste sie höhnisch. „Aber ja nicht zu lange und auch nicht zu kurz dünsten! Nimm halt die Eieruhr wenn du dir unsicher bist“, sagte Eloise jedes Mal, wobei sie sich mit diesem Tipp mittlerweile über Anne lustig machte.
Denn Anne nahm Eloise äußerst ernst, wenn es um die Hausarbeit ging und beherzigte ihren Ratschlag die Sanduhr selbst dann zu benutzen, wenn sie die schmutzige Wäsche auf dem Waschbrett rubbelte. Und Eloise schaute dann kichernd hinter der Gardine versteckt zu, wie sie tatsächlich ständig auf die Eieruhr schaute und sich nach der Zeit richtete, während sie die schmutzige Wäsche in die Blechwanne tauchte und rubbelte.
Oftmals übertrieb Eloise und behauptete einfach, Anne würde das Essen ständig versalzen oder zu viel Muskatnuss oder sonstiges Gewürz verwenden. Oder zu wenig gewürzt. Wie auch immer; Anne konnte es Eloise einfach nie recht machen und sobald sich der Kuchen im Backofen bräunlich färbte, wich sie nicht mehr von ihrer Seite, weil sie befürchtete, Anne lässt den Kuchen sowieso anbrennen.
Aber sobald Eloise wieder in ihren karierten Rock schlüpfte und sich einen Zopf geflochten hatte, war sie wieder das liebenswürdige Landmädchen mit dem hinreißenden Lächeln, die immer für ein Späßchen bereit war. Dann klopfte Eloise zaghaft an ihrer Schlafzimmertür, wobei sie meistens einen selbst gepflückten Blumenstrauß in ihren Händen hielt und schüchtern fragte, ob sie ihre Haare bürsten und eine Zopfschnecke flechten dürfte. Anne war zwar am Abend immer fix und fertig, weil die blutjunge Akteurin sie tagsüber oftmals regelrecht terrorisierte, aber insgeheim erkannte sie Eloises warmherzige Seele und bat sie stets freundlich herein.
Obwohl es Anne oftmals widerstrebte, ihr herrisches Gehabe während der Hausarbeit anstandslos hinzunehmen, sie dann Abends eigentlich in Ruhe gelassen werden wollte, wies sie die Akteurin niemals zurück. Eloise war zwar noch sehr jung, trotzdem sah es Anne ein, dass sie ihr sehr viel beibringen konnte und steuerte somit einiges dazu bei, dass sich Anne im 20. Jahrhundert erfolgreich integrieren konnte. Allerdings hegte Anne mittlerweile den Verdacht, dass Ike ihr aufrichtige Gefühle entgegenbrachte. Die Art und Weise, wie beide ständig miteinander schäkerten und die Geschenke, die Ike ihr täglich mitbrachte, ließen ihre Vermutung verdichten. Charles dagegen schien diese verbotene Liebe bisher noch nicht gewittert zu haben.
Das Verhältnis zwischen Charles und Eloise blieb weiterhin angespannt und er fragte sich täglich insgeheim, weshalb nur hatte der Schleuser ausgerechnet solch eine unausstehliche Kratzbürste zu seiner Lebenspartnerin auserwählt, die ihn egal was er tat ständig kritisierte und zurechtwies. Eloise war mitunter ein weiterer Beweggrund, weshalb Charles sich dem letzten Tag seines Probejahrs entgegen sehnte. Sein Entschluss stand längst fest – sobald Ike van Broek wieder zurück in das 25. Jahrhundert beordert wird, würde Charles dieses Teufelsweib von seinem Grundstück jagen. Es interessierte ihn absolut nicht, wie Eloise danach alleine zurecht kommen würde. Nichtsdestotrotz hatte sich Charles positiv entwickelt, sodass Ike mittlerweile seine Integrierung bedenkenlos zusagen würde, bis auf eine einzige Angelegenheit, die dem Schleuser bislang irritierte:
Als Ike eines Tages an der Elektrikerwerkstatt vorbei gelaufen und zufällig in das geöffnete Tor hineingeblickt hatte, hatte er Charles dabei erwischt, wie er mit seinen zugeteilten Vorarbeiter Carl Clark scheinbar eine aufgelockerte Unterhaltung führte. In jenem Augenblick meldeten seine inneren Sensoren einen Masteralarm und er fühlte sich wie ein wilder Stier, dem man mit einem roten Tuch provozierte. Wieso in Teufelsnamen verstehen sich die Beiden, fragte er sich. Er hatte doch damit gerechnet, dass Clark seinen angeblichen Onkel schikanieren würde. Zudem hatte Charles bislang am Abendtisch nie erwähnt, dass er sich mit Mr. Clark scheinbar gut verstehen würde, sondern hatte stets verkündet, dass er sich von Clark beobachtet fühlt und dies ihm unangenehm sei. Irgendetwas scheint da doch nicht zu stimmen, vermutete Ike.
Sofort war er hinter die Werkstatt geeilt, kletterte kurzerhand die Feuerwehrleiter hinauf und beobachtete die Männer mit seiner modifizierten Nickelbrille durch die Dachverglasung, wobei er die zwei Männer nahe heranzoomte. Carl Clark fasste Charles an die Schulter und spazierte mit ihm gemächlich durch die Tischreihen, wobei beide eine rege Konversation abhielten. Diese Situation war äußerst befremdlich, zumal Mr. Clark sich selten mit seinen Arbeitern persönlich abgab und erst recht nicht während der Arbeitszeit. Und das Carl Clark sich mit seinen Arbeitern freundlich austauscht, hatte es bislang nie gegeben.
Anhand ihrer Gesichtsausdrücke war deutlich erkennbar, dass beide ausgelassen miteinander plauderten und sogar lachten. Dabei musste Ike doch ernsthaft davon ausgehen, Mr. Clark versuche seinen vermeintlichen Onkel zu mobben.
Dennoch geschah das Gegenteil. Carl Clark bevorzugte seinen neuen Mann sogar und ließ Charles hauptsächlich die anspruchsvollen Arbeiten verrichten, die weniger körperliche Anstrengung abverlangten, oder ließ ihn bei seiner Planung teilhaben, während das Team schuften musste. Charles stand dem verfeindeten Vorarbeiter stets mit Rat und Tat beiseite. Ike, der versteckt hinter dem Schornstein auf dem Werkstattdach hockte, zog nachdenklich seine Nickelbrille ab und grübelte.
Er befürchtete, das Mr. Clark seinem vermeintlichen Onkel nur Freundschaft vorheuchelte, um ihn über sich selbst auszuhorchen. Charles war zwar kein Dummkopf, denn er wusste selbst, dass seine Existenz auf dem Spiel stand und er sich keinesfalls versprechen durfte. Jedoch war Mr. Carl Clark um einiges gerissener und wortgewandter.
„Was zum Teufel hattest du mit Clark zu besprechen?!“, fuhr Ike ihn erst dann barsch an, als sie abends das Gittertor von Harland & Wolff passiert hatten, mit dem Pferdegespann die Stadt verließen und sich grad auf dem Feldweg befanden.
„Nichts Besonderes, wir reden nur über die Arbeit. Weshalb giftest du mich schon wieder so an? Was habe ich verdammt nochmal schon wieder falsch gemacht?“, fragte Charles vorwurfsvoll. „Ich weiß gar nicht, was du gegen Mister Clark hast. Der ist ein guter Chef und schätzt meine Meinung. Ich finde, Mister Clark ist ein prima Kerl und obendrein ist er ein wahres Genie“, schwärmte er. „Während die Elektroinstallation für die Olympic vorbereitet wird, tüftelt Mister Clark längst vorteilhafte Alternativen für die Titanic aus, die er aber anderen Teams vorenthält. Dieser Mann ist unglaublich klug und kennt dutzende Schaltpläne auswendig. Der hat offensichtlich nur seine Arbeit im Kopf und …“
„Ach, halt doch die Klappe!“, motzte Ike. „Clark ist scheinheilig, er versucht dich nur geschickt über mich auszuquetschen und du Idiot, du bemerkst es nicht mal. Ich warne dich! Solltest du dich irgendwie verplappern, kannst du dir deine Auswanderung abschminken. Dann werde ich nämlich entscheiden, dass du mit deiner Familie wieder zurück nach United Europe beordert wirst!“, warnte Ike wütend. „Ich habe schließlich eine Mission zu erfüllen und deinen Kram muss ich nebenbei auch noch irgendwie deichseln. Also pass bloß auf, dass du ja nichts vermasselst!“
Charles aber grinste nur schäbig und zeigte ihm einen Stirnvogel. Sein zugeteilter Schleuser war sicherlich wieder nur eifersüchtig und obendrein schlecht gelaunt, weil er diesen verhassten Vorarbeiter in den höchsten Tönen lobte.
Charles lebte immerhin seit einem halben Jahr mit Ike gemeinsam unter einem Dach und konnte seine Macken mittlerweile gut einschätzen. Auch wenn er von ihm des Öfteren zurechtgewiesen wurde, war Ike dennoch ein umgänglicher Typ, mit dem man letztlich vernünftig reden konnte. Aber beim Thema Carl Clark reagierte er weiterhin ausgesprochen stur, und war geradezu von seiner Ansicht besessen: Der Protestant Carl Clark will ihn hinsichtlich wegen politischen sowie auch religiösen Anlässen aus dem Unternehmen vertreiben. Dabei wurde Charles Owen bei der Geschäftsführung von Harland & Wolff als ein Katholik angemeldet, genauso wie Ike. Charles vermutete, dass es Mr. Clark gar nicht um die Konfession ging sondern nur, weil er Ike einfach persönlich nicht ausstehen konnte. Charles witterte nun, dass er einen äußerst einflussreichen Verbündeten beiseite hatte und dadurch Ikes Macht über ihn geschwächt werden könnte. Denn wenn der verhasste Clark ihm weiterhin beisteht, wäre sein Arbeitsplatz so gut wie gesichert. Dies wäre ganz im Sinne der staatlichen TTA. Dann wäre Ikes Urteil sowieso erst mal zweitrangig. Und Ike wusste ganz genau, falls Charles von seinen wahren Gefühlen zu Eloise erfahren würde, dass er ihn dann komplett in der Hand hätte und erpressbar wäre. So schätzte er Charles jedenfalls ein.
„Dir und Rotschopf kann man es wohl niemals recht machen. Ihr zwei Meckertanten habt euch gesucht und gefunden!“, warf Charles ihm vor. „Ständig heißt es: Onkel Charles zieh gefälligst deine Hausschuhe an, ich putze bestimmt nicht nur deinetwegen; Onkel Charles räum endlich dein schmutziges Geschirr vom Tisch, ich bin nicht deine Dienstmagd und Onkel Charles, missbrauche nicht ständig den Namen des HERRN, nur weil du schlecht gelaunt bist“, äffte er albern nach. „Herrgott nochmal, wie ich und Anne euer ständiges Gemecker satt haben! Ich und meine Familie sind für dieses Jahrhundert tauglich, wage es bloß nicht, im Dezember etwas anderes zu behaupten!“
„Aha, deine ehrenwerte Gattin hat sich also bei dir ausgeheult, dass Eloise sie angeblich schikaniert. War mit schon klar. Sag Anne einen schönen Gruß von mir … Sofern sie sich weiterhin so trottelig anstellt, werde ich ihr keine Arbeitserlaubnis erteilen. Eine Grundschullehrerin hat für die Kinder, hauptsächlich für die Mädchen, als ein Vorbild zu fungieren. Anne jedoch kann immer noch nicht richtig reiten, nicht gründlich waschen, weder selbstständig kochen, anständig putzen, häkeln oder was die Frauen heutzutage sonst noch so tun. Im Grunde kann sie gar nichts. Sie ist für dieses Jahrhundert immer noch absolut untauglich, trotz ihrer Lizenz!“, giftete Ike. „Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht, völlig unvorbereitet in das Zwanzigste Jahrhundert auszuwandern? Ihr solltet Eloise dankbar sein, weil sie deiner Frau kostenlosen Nachhilfeunterricht gibt, weil sie während ihrer Lizenzerwerbung scheinbar nur geschlafen hatte! Der Einzige von euch, der sich tatsächlich für dieses Jahrhundert eignet ist bisher nur euer Sohn Justin! Er entwickelt sich prächtig, die Schuldirektorin spricht lobend über ihn!“
Es war mittlerweile Frühsommer. Die Temperaturen waren noch am Abend angenehm und die Vögel zwitscherten, während die allmählich untergehende Sonne hinter dem Wald orange schimmerte. Ike richtete seinen Bowler etwas tief ins Gesicht, trieb das Pferdegespann weiter voran und blickte stur geradeaus. Charles verschränkte seine Arme und glotzte beleidigt in die grüne Hügellandschaft.
„So, dem Idiot hab ich`s jetzt aber gegeben“, dachte sich Ike hämisch grinsend.
„Blödes Arschloch“, dachte sich dagegen Charles insgeheim und richtete seine Schirmmütze.
Das Wasserpumpen sowie die schweren Blecheimer zu tragen, empfanden die Owens auf die Dauer nicht mehr für so mühselig, wie noch anfangs im vergangenen Winter. Ebenso das Holzhacken und Gemüse anbauen und der Ekel beim Anblick eines geschlachteten Huhns, hatte bei ihnen mittlerweile auch seine Wirkung verloren.
Als Anne nämlich das erste Mal mit ansah, wie Ike mit der Axt ein Huhn geköpft hatte und es daraufhin plötzlich wild herumgeflattert war, obwohl das Blut pulsierend aus dem Halsstummel spritzte, war sie prompt in Ohnmacht gefallen. Charles hatte bei dem Anblick gewürgt, bevor er zur Latrine geeilt war und sich dort bitterlich übergeben hatte. Danach hatte er beschlossen, vorerst nicht einmal eine Hühnersuppe zu kosten. Der dreizehnjährige Justin allerdings hatte dem grausigen Schauspiel interessiert zugesehen, wie das geschlachtete Huhn, trotz dass es geköpft und somit tot war, unkontrolliert über den Hof geflattert war. Völlig erstaunt hatte er zugesehen.
„Boa, wie cool. In der vergangenen Welt gibt es sogar Zombiehühner, die ohne Kopf fliegen können.“
Nicht einmal als Eloise das geköpfte Huhn aufgesammelt und es gerupft hatte, war Anne imstande gewesen zuzusehen. Eloise hatte sich beim Rupfen eine Hühnerfeder von der Nase gepustet.
„Pah … Stadtleute“, hatte sie abfällig gesagt, als ihre rote Haarmähne wiedermal mit Wäscheklammern hochgesteckt war. „Ihr aus der Stadt meint alle, dass ihr etwas Besonderes seid. Dabei stellt ihr euch wahrlich zimperlich an. Ein Huhn gehört entweder in den Backofen oder in die Suppe!“, hatte Eloise vor sich hingemurmelt und Anne dabei grinsend beobachtet, wie sie ziemlich grün im Gesicht torkelnd davon gelaufen war.
Doch der Mensch gewöhnt sich irgendwann an alles. Mittlerweile köpfte Anne sogar selbst Tiere, wenn auch lediglich die gefangenen Forellen, die Eloise aus dem Bach fischte. Auch das Ausnehmen der Fische meisterte sie mit Bravour, lobte Eloise. Aber das Spektakel Hühnchen rupfen überließ Anne jedoch weiterhin Eloise oder Ike. Charles freundete sich nicht sonderlich mit geschlachtetem Vieh an, sondern schaute stets weg oder war einfach nicht anwesend, wenn wieder solche Exekutionen auf dem Hof vollstreckt wurden, damit ihm der Appetit nicht wieder verdorben würde.
Justins anfängliche Angst gegenüber Tieren entschwand vollständig. Laika war längst seine beste Freundin und er liebte es, auf dem Rücken der Pferde zu reiten. Darin stellte er sich rasch geschickt an, was im Gegensatz zu seiner Mutter nicht gerade nachgesagt werden konnte. Der Junge erfreute sich jedes Mal, wenn ihn Eloises Pferd Lukas mit seinen dicken Lippen am Nacken knabberte und er dabei eine kitzelnde Gänsehaut verspürte.
Insgeheim war Ike eigentlich zufrieden gestimmt. Die Familie harmonierte miteinander und trotz kleinen Unstimmigkeiten, die unweigerlich vorkamen, half man sich gegenseitig und letztendlich wurde verziehen. Abends saßen sie gemeinsam in der Wohnstube vor dem knisternden Kamin und hörten Eloise gespannt zu, wie sie ein weiteres Kapitel aus einem Roman von Jules Verne vorlas.
Die von Technik verwöhnten Owens fieberten mittlerweile den Wochenenden stets entgegen, denn dann wurde Samstagabend bis kurz vor Mitternacht Lieder gesungen und von Eloise vorgelesen und am Nachmittag jeden Sonntages, nachdem sie die Kirche besucht hatten, fuhren sie allesamt mit dem Pferdewagen nach Queens Island.
An den Sonntagen schwiegen selbst bei Harland & Wolff die Dampfmaschinen und der Hammer blieb liegen. Schließlich war der siebte Tag der Ruhetag des HERRN.
Das Haupttor der Schiffswerft war jeden Sonntag für jedermann geöffnet, wobei insbesondere die Werftarbeiter mit Picknickkörben ausgerüstet hindurchspazierten und ihren Familien stolz die Schiffe auf den Helgen zeigten. Dies war seit der Gründung des Unternehmens eine Tradition, auf diese Weise knüpften die Arbeiterschichten untereinander Freundschaften und die gemeinsame Arbeit verbanden sie zu einer großen Familie, die sich zukünftig gegenseitig in allen Lebenslagen halfen.
Die Kinder der Protestanten besuchten üblich die Sonntagsschule, weshalb die Familien dieser Glaubensgemeinschaft an diesen freien Tagen oftmals ohne ihre Sprösslinge auftauchten. Die Mädchen mochten es vielleicht weniger interessieren, jedoch waren die Knaben vom Stolz übermannt, wenn der Vater Sonntagvormittags das Klassenzimmer betrat und seinen Sohn persönlich beim Lehrer vom Unterricht befreite, weil er mit ihm gemeinsam die Titanic und die Olympic ansehen wollte. Dies war ein Begrund, für die jeder Lehrer gutem Gewissen seine Zustimmung gab. Die Tatsache, unverhofft aus dem Schulunterricht befreit zu werden, allein dies beglückte so manchen Jungen. Jedoch im Beisein des Vaters die Titanic zu bewundern, von diesem Schiff mittlerweile täglich die Zeitungen berichteten, übertraf selbst die Vorfreude auf Weihnachten und Ostern zugleich, woraufhin jeder Schüler dem Glücklichen neidisch hinterher blickte und zusah, wie dieser mit seinem Vater aus dem Klassenzimmer stolzierte.