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2 Seiten

Die Träumerin von Gleis Nr.12

Trauriges · Kurzgeschichten
© Laura
Ich habe mich auf Bahnhöfen noch nie sehr wohl gefühlt. All die fremden Menschen, die über die Bahnsteige hetzen, einsteigen, aussteigen, warten, sich begrüßen und verabschieden. Regelmäßig spielen sich hier kleine Dramen ab. Leute verpassen Züge, warten vergeblich, dass jemand sie abholt, oder müssen sich tränenreich von ihren Liebsten verabschieden. Auch wenn ich das alles überflüssig finde und mich lieber abwende als zu beobachten, komme ich nicht umhin das ein oder andere doch zu sehen.
Ich bin Bahnsteigkehrer, was soll's, jeder muss von irgendetwas leben. Ich kehre die Bahnsteige, wende mich von Dramen ab und mache mir so meine Gedanken über all die fremden Menschen, die Tag für Tag an mir vorbeiströmen, mir ausweichen und mich gelegentlich auch anrempeln. Ich frage mich, woher sie kommen und wohin sie fahren und was sie hier wohl machen. Ich würde sie gerne fragen, doch wahrscheinlich würden sie mir nicht antworten; sie haben es zu eilig, oder wollen nicht gestört werden. Das merkt man schon, wenn man sie ansieht. Ihre Gesichter sind verschlossen, der Blick starr auf einen Punkt, weit entfernt in der Bahnhofshalle, gerichtet und der Gang abgehackt und zielstrebig. Doch das sind auch keine Menschen, auf die ich achte. Sie sind einfach da und drängen sich mit ihrer abweisenden Ausstrahlung in meine Gedanken.
Die Menschen, nach denen ich Ausschau halte, sind ruhig, sanft und haben den Blick auf ihr Inneres gerichtet. Man glaubt immer, sie träumen gerade; von Sonnenschein und ihren Geliebten und von warmen Wind im Haar. Immer, wenn ich solche Menschen sehe, freue ich mich und halte im Kehren inne und sehe ihnen zu, wie sie träumen. Doch sie werden immer seltener, es scheint, als begrabe die Welt ihre Träumer unter Eile, Verschlossenheit und Traurigkeit.
Einmal sah ich einen von ihnen sterben.
Es war Herbst und der Nebel schien sogar bis in die Bahnhofshalle vorzudringen, legte sich wie eine feuchte Decke über die Bahnsteige und machte die Welt grau. Ich hatte sie bei einem meiner Rundgänge am Gleis Nummer 12 entdeckt. Sie saß auf einer der Wartebänke, den Blick auf die feuchten, grauen Gleise geheftet und lächelte das zufriedene Lächeln der Träumer. Sie schien schon eine Weile dort zu sitzen, denn ihre Haare waren bereits feucht vom Nebel und hingen ihr in dicken schwarzen Strähnen in die Stirn. Ich fragte mich, ob sie jemanden verabschiedet hatte oder auf jemanden wartete. Sie saß einfach da, ruhig, als gäbe es nichts Natürlicheres als im Nebel auf einer Bank auf dem Bahnsteig am Gleis Nummer 12 zu sitzen und zu träumen. Als ich gegen Mittag wiederkam, saß sie noch immer dort; eine kleine lächelnde Insel inmitten von starren Gesichtern. Doch da konnte ich bereits die ersten Anzeichen entdecken. Sie wirkte nicht mehr ganz so friedlich, ihre Augen hatten den Glanz verloren und die Fremden um sie herum schienen ihr näher zu kommen, verdeckten mir immer öfter die Sicht. Das ist natürlich nichts Ungewöhnliches auf einem Bahnsteig, auf dem es von Menschen wimmelt, doch bei ihr war es anders. Sie schien zwischen den anderen zu verschwinden, wurde immer mehr wie sie, bis meine kleine Träumerin schließlich hinter einer Mauer aus Abweisung und Traurigkeit verschwand und nur noch eine Fremde da war. Am Nachmittag sah ich sie noch einmal, ein letztes Mal. Sie träumte nicht mehr, sondern lief mit schnellen Schritten an mir vorbei.
Es war ein trauriger Tag für mich und seitdem kehre ich den Bahnsteig von Gleis Nummer 12 nur noch sehr ungern, aber einer muss es ja machen.
 
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Kommentare  

Die Geschichte gefällt mir! Wie von dir gewohnt schön geschrieben und mit einem zum nachdenken anregendem Thema!
Ich bin zwar kein Bahnsteigkehrer aber ich bin auch einer dieser Träumer die ab und zu auf den Bahnsteigen Rumgeistern! Nur je länger man dort bleibt desto mehr steckt einen die Umgebung an da hast du recht!


Schwarzer Reiter (31.07.2002)

Traurig schön...schön traurig. Eine Geschichte zum Mitfühlen. Volle Punktzahl.

Stefan Steinmetz (19.02.2002)

....und ich hab Mist geschrieben !!
ALSO NOCHMAL
Obwohl Geschichten mit depressiven Inhalt,so empfinde ich Deine Geschichte,nicht unbedingt meine Welt sind,muss ich Dir ein Lob aussprechen.
Du hast die Geschichte sehr schön zu Papier gebracht,ein toller Schreibstil!


Wolzenburg-Grubnezlow (17.02.2002)

Obwohl Geschichten mit depressiven Inhalte nicht unbedingt meine Welt sind,so empfinde ich Deine Geschichte,muss ich Dir aber ein Lob aussprechen.
Du hast die Geschichte ist sehr schön zu Papier gebracht.Ein toller Schreibstil.


Wolzenburg-Grubnezlow (17.02.2002)

Eine wunderbar gefühlvolle Geschichte, der schreibstil hat mich echt tief beeindruckt ...

Jingizu (15.02.2002)

Hallo Laura!

Wieder eine sehr gute Kurzgeschichte von Dir! Wer hat nicht schon selbst einmal die Leute auf dem Bahnhof beobachtet und sich gefragt wohin sie eilen? Kaum ein Leser wird jetzt noch auf einem Bahnsteig stehen, ohne an die Geschichte zu denken und sich zu fragen, ob man vielleicht selbst ein Träumer ist oder einmal war...

Liebe Grüße! Claus


Claus (15.02.2002)

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