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4 Seiten

Du sollst nicht töten

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Der schrille Klang einer Autohupe löst ihn aus seiner Erstarrung. Die Welt bewegt sich plötzlich wieder, Menschen hasten vorbei, Autos rollen dröhnend die Straße entlang. Das entrüstete Quietschen kleiner Kinder - wie lang hat er den Laut nicht mehr gehört. Vierzehn Jahre. Nach all dieser Zeit schmerzt es fast in den Ohren, bis in die Augen scheint es durchzudringen. Er schließt sie und sieht plötzlich sein eigenes Kind vor sich. Sieht, wie der Kleine aufgeregt vor einem Spielzeugladen herumhüpft und plappert. Hört sein verzweifeltes Krähen, als ihn die Eltern einfach weiterziehen, ohne auch nur einen Blick auf die Schätze hinter dam Glas zu werfen. Wider Willen muß er lächeln, mitten auf der Straße, die Sonne im Gesicht und erstmals wieder freie Luft in der Nas. Nach der langen Zeit gehorchen ihm seine Mundwinkel nicht gleich, aus dem Lächeln wird vorerst eine Grimasse. Aber er selbst sieht es nicht, und die Entgegenkommenden wollen es nicht sehen; strömen, schwimmen an ihm vorbei. Er öffnet die Augen und geht langsam weiter. Vor ihm stolpert ein junger Mann, und wiederum holt ihn die Vergangenheit ein. Graubraune Erde, ein ausgetretener, staubiger Kreis. Ausgetreten von müden, sich schon aufgebenden, schuldigen Füßen. Der Blick bleibt am Boden, man will niemanden sehen, nur graue Hosen und anonyme staubige Sandalen. Jemand stolpert, der Wärter ruft ihm höhnend zu: "Weitergehen, genießt doch den kleinen Spaziergang!" Jeden Tag für eine lange Stunde. Eine halbe Stunde danach noch unfähig, weiter als fünf Meter gerade zu gehen.
Er schüttelt sich und geht weiter, den Blick am Boden. Was er wahrnimmt sind kleine, graue Pflastersteine, Kaugummis und Papierstückchen. Er erinnert sich und hebt erleichtert den Kopf. Vor sich bemerkt er Grün, helles Grün von frischen Blättern. Das Verlangen, endlich wieder die kratzige Rinde eines alten Baumes zu fühlen, überrascht ihn. Er lächelt wieder - über sich selbst, und diesmal gelingt es anstandslos.
Als er über das weiche Gras schlendert, denkt er an seinen letzten Spaziergang auf einer Wiese. Er versucht sich zu erinnern, und zögerlich steigen einzelne Bilder in ihm auf. Dunkler Wald vor ihm, weiches Gras unter ihm und dahinter - kreisendes, parkendes, blau-rotes Licht, Mützen und Stiefel überall, ein Lautsprecher. "Kommen Sie zurück, Sie machen alles nur noch schlimmer! Bleiben Sie stehen, sage ich!" Damals war es ihm noch unmöglich, sich der Stimme einer uniformierten Gestalt zu widersetzen; "dein Freund und Helfer" würde gerecht handeln. Die Fahrt im Polizeiauto war unangenehm, kaltes Rot an den Händen, und immer das Gefühl zu träumen.
Die alte Parkbank ist unter der hellen Frühlingssonne warm geworden, er lehnt sich zurück und streckt das Gesicht der Wärme entgegen. Kein Vergleich zu den Stahlgitterbänken der letzten Jahre, die immer mit graubrauner Erde bedeckt waren. Der Lärm, der aus den Käfigen drang, war meist harmlos - Bälle wurden getreten, gedrippelt; Tore und Körbe verfehlt. Nur hin und wieder das dumpfe Geräusch von Schlägen, Keuchen und leises Wehklagen. In diesem Fall waren die Wärter schnell zur Stelle, und die Folgen waren von außen verschlossene Käfige und merklich schlechteres Essen. Das war allerdings doch ?nur eingebildet?. Wärter konnten sehr überzeugend sein, auf der anderen Seite des Gitters.
Er erhebt sich wieder, setzt seinen Weg fort. Nach Hause, egal, was ihn dort erwarten mag. Auf der Straße herrscht derselbe ungewohnte Tumult wie immer; es wird noch länger dauern, bis er sich wieder damit anfreunden kann. Ein in der Sonne glänzendes Hausschild blendet ihn, mit schwarzer Farbe auf braunem Grund steht dort: "Verteidiger in Strafsachen". Die Grimasse auf seinem Gesicht hat diesmal wenig von einem mißglückten Lächeln. "Verteidiger in Strafsachen" wiederholt er leise.
Er sieht ihn wieder deutlich vor sich, den Verteidiger in Strafsachen. Korrekter Anzug, korrekter Scheitel, korrekt gebundene Krawatte, schleimiger Heuchler. Kurz vor einem Karrieresprung stand er, der Fall am besten schnell abgewickelt, um Kopf und Zeit freizuhaben für wichtigere Dinge. Klare Sache, zweifacher Mord. Betrunken nach Hause gekommen. "Betrunken?" Gefeuert, die Firma mußte Stellen abbauen, klare Sache. Kommt betrunken nach Hause, sieht Frau und Sohn. Frau beginnt Streit, will ihn nicht betrunken sehen. Verdächtiger zieht Pistole und bedroht sie. "Pistole?" Wahrscheinlich Schwarzmarkt, unsichere Gegend hier. Ehefrau will ihn jedenfalls zurückhalten, will ihm die Pistole aus der Hand reißen, ein Schuß fällt. Der Sohn, heißgeliebtes Kind - er stand ungünstig, klare Sache. Verdächtiger rastet aus und erschießt auch seine Frau, läßt Tatwaffe neben Getötete fallen und flüchtet zu nahegelegenem Wald. Gott sei Dank war Polizei schneller, aufmerksame Nachbarn, klare Sache, Herr Richter.
Noch heute, mitten auf der Straße, vor dem Emailleschild, kann er die Tränen nicht zurückhalten. Klare Sache, Herr Richter... Der Schriftzug verschwimmt vor seinen Augen. Er wendet sich ab. Zu klare Sache. Vierzehn Jahre, dank mildernder Umstände: Alkohol, Gerangel mit seiner Frau. Seine Frau! Er vermißt sie noch immer. Warum hat sie das getan? Warum hat sie den gemeinsamen Sohn mit hinein gerissen? Vielleicht hätte er doch mit ihr zu einem Facharzt gehen sollen. Aber sie wollte doch nie. "Jeder Mensch hat Depressionen, hin und wieder. Sonst geht es mir wirklich gut." Ihr Blick, ihre braunen Augen. "Es geht vorbei." Er hätte ihr alles geglaubt.
Die Sonne verdunkelt sich ein wenig. Er schaut zum Himmel, bemerkt, daß es bald regnen wird. Mit dem Handrücken wischt er sich über die Augen. Tränen waren verpönt. Wie oft hatte er es gehört: "Schau, der Familiendoppelmörder heult! Nein, wie süß." Dabei wußte er genau, daß in vielen Zellen nachts die harten Polster Schluchzen verschlucken mußten. Aber nicht am Tag, niemals vor den anderen. Trotzdem - es ist jetzt vorbei, endgültig, nach vierzehn Jahren.
Er geht jetzt schneller, obwohl ihm ein wenig Regen nichts ausmachen würde. Angepaßte Bürger gehen jedoch schneller, wenn Wolken aufziehen. Er will sich anpassen.
Endlich - sein Haus. Leerstehend, seit über zehn Jahren. Eigentlich unmöglich, aber es ist so. Kurz konnte es vermietet werden, aber die Familie fühlte sich nicht wohl, sah die Toten des Nachts im Geist vor sich - ein Geisterhaus.
Er sucht den Schlüssel, drückt ihn ins verrostete Schloss, die Tür quietscht auf. Der Flur liegt dunkel vor ihm. Ein allerletztes Mal sieht er alles vor seinen Augen: Heller Flur, alles dreht sich. Sein eigener Atem riecht nach Alkohol. Er stößt ungeschickt die Tür auf, steht in der Küche. Seine Beine geben nach: nie wird er den Anblick vergessen können. Rotes Blut, überall. Er torkelt zu ihr, sieht die Pistole, greift ohne nachzudenken zu. Er spielt mit dem Gedanken, ihr nachzufolgen. Das Metall liegt schwer in seiner Hand. Ein Zettel... der Zettel.
Er hält ihn wieder in seiner Hand Vierzehn Jahre lang sein treuer Begleiter. Doch für den Verteidiger in Strafsachen, wie alles andere, klare Sache. "Gefälscht, ungeschickt gefälscht." Im schwachen Licht, das durch die Flurfenster ins modrige Haus fällt, kann man kaum die verblaßten, abgehakten Buchstaben erkennen. Doch er braucht sie nicht zu sehen. Er kennt sie längst auswendig, ihre letzten Gedanken. "Ich bin mit mir am Ende, ich weiß nicht mehr weiter. Unser Sohn und ich, wir gehen dorthin, wo wir es besser haben werden. Ich liebe dich." Und darunter, fast unleserlich: "Verzeih mir."
Depression Deluxe
 
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Kommentare  

mir fehlen die worte... ich kann mich meine vorkommentatoren nur anschließen... klasse geschrieben...

*Becci* (12.01.2003)

Kann mich meinem Vorschreiber nur anschließen. Obwohl ich Geschichten, die mir gefallen oder mich zum Nachdenken angeregt haben sonst gern weiterspinne, wage ich es diesmal nicht. Die nächste "Depression Deluxe" ist vorprogrammiert. Und ich denke nicht, dass Dein Protagonist in unserer Jung-Dynamisch-und-Skrupellos-Spaßgesellschaft Hilfe über dem Mindestsatz der Krankenkasse finden wird. Mitgefühl sowieso nicht, denn dafür erntet niemand Profit.
Bedrückend, anrührend - und viel zu gut für nur fünf Punkte.


Gwenhwyfar (05.07.2002)

Autsch! Obwohl ich es bereits ahnte, tat der Schluss doch weh. Deine Geschichte weckte Gefühle, das ist das Wichtigste, was eine Geschichte tun sollte. Geniale Idee und leider nur allzu realistisch. Trauer und Wut kamen beim Lesen in mir auf.

Stefan Steinmetz (24.05.2002)

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