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3 Seiten

Das Wiedersehen

Trauriges · Kurzgeschichten
Sechs Uhr dreiunddreißig. Der Berufsverkehr fängt an, und langsam wird es voll auf der Autobahn. Meine Augen brennen. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren, um nur ja rechtzeitig in der Klinik zu sein. Um acht sollst du entlassen werden. Entlassen in meine Obhut.

Dein behandelnder Arzt hat mir bereits am Telefon erzählt, was auf mich zukommt. Ich höre noch seine Worte:
„Ja, einen sehr schweren Schlaganfall. Wir können vom Glück sagen, dass er den überhaupt überlebt hat. Nein, außer seinem Kopf und dem Daumen der linken Hand kann er gar nichts mehr bewegen. Totale Lähmung. Richtig, das Sprach- und das Sehzentrum sind ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Natürlich wären wir Ihnen gern behilflich, einen Platz in einem entsprechenden Pflegeheim.... Ach, das kommt für Sie nicht in Frage? Sie möchten die Pflege selbst übernehmen? Dann gestatten Sie mir, dass ich Ihnen meine Bewunderung ausdrücke... Nein, das ist kein Kompliment, sondern mein völliger Ernst. Sie sind eine außergewöhnlich mutige Frau. So etwas findet sich heute eher selten, wenn es mir gestattet ist, das anzumerken.“

Mutige Frau, ha. Wenn der gute Mann wüßte...

Seit zwei Tagen kommen nun noch unerklärliche Panikattacken hinzu, hat man mir bei meinem letzen Anruf gestern abend berichtet. Du musstest mehrfach mit Luminal und Valium ruhiggestellt werden.

Wirklich eigenartig. Du hast dein ganzes Leben lang vor nichts Angst gehabt, eher im Gegenteil. Für meinen Geschmack warst du immer ein bisschen zu furchtlos. Was also fürchtest du jetzt?

Du kommst also heute mit zu mir. Warum auch nicht? Mich hat beinahe selbst der Schlag getroffen, als ich vor über einem Monat den Brief des Sozialamtes im Kasten fand. Gott, was habe ich gekämpft, habe Eingaben gemacht, einen Widerspruch nach dem anderen eingelegt. Doch nicht einmal mein Anwalt konnte mir helfen. So sind die Gesetze, hieß es. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Zahlen müsste ich, hatte er mir erklärt, und dass die Sozialbehörde nicht in Vorleistung treten werde, solange ich das Meine noch nicht getan hätte. Natürlich könnte ich auch vor Gericht ziehen, doch es könnte dauern, bis irgend jemand irgendwo irgendwann zu irgendeiner Entscheidung kommt. Und in der Zwischenzeit wäre ich dennoch für dich verantwortlich.

Da nehme ich die Dinge doch lieber selber in die Hand.

Oh Mann, der Döner, den ich mir vor einer halben Stunde gegönnt habe, liegt mir wie ein Stein im Magen und verursacht mir Sodbrennen. Ich konnte es kaum erwarten weiterzufahren, deshalb habe ich die köstliche Brottasche achtlos in mich hineingestopft, die einzelnen Bissen nur halb zerkaut hinuntergewürgt, schnell, schnell, und mit zu viel kalter Cola runtergespült. Und jetzt brennt mir die Säure Löcher in die Magenwände. Oder sollte es etwas anderes sein, was da brennt?

Komisch, dass ich mich trotz der endlos langen Zeit noch so gut an dich erinnern kann. Nicht an dein Aussehen, natürlich. Aber an alles andere. Vor allem an deinen Geruch. Nach Bier, nach kaltem Zigarrettenrauch, nach Schweiß. An deine Stimme – nicht, wie es klingt wenn du sprichst, aber dein Röcheln, dein Stöhnen, deinen stoßweisen Atem habe ich noch wie gestern im Ohr. Hastige Nummern im Keller, wenn ich die Wäsche aus der Maschine holen musste. Oder im Badezimmer. Oder auch im Bett, nachts, heimlich, verstohlen, meine Schreie erstickt von meiner kleinen Nackenrolle. Und immer die Angst, dass "sie" nichts davon mitbekommt. Sie, die eigentlich dafür zuständig gewesen wäre, deine Lust zu stillen, längst aber selbst schon keine Lust mehr dazu hatte. Nicht nur meine Angst hast du mich tragen lassen – nein, auch deine. Ich habe deine Drohungen noch ihm Ohr, falls sich meine Schuld erweisen sollte, wenn es aufflöge. Trennung war noch die harmloseste davon.

Ich habe den Mund gehalten. All die lange Zeit. Habe kein Sterbenswort gesagt. Als die Trennung dann tatsächlich erfolgte, ging sie von mir aus. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen, nichts mehr voneinander gehört. Natürlich habe ich nie im Leben damit gerechnet, überhaupt je wieder von dir zu hören. Aber da habe ich meine Rechnung eben ohne das Sozialamt gemacht.

Ich weiß noch, ich hatte eines Tages ein Buch geschrieben, und ich habe in diesem Buch von dir erzählt. Von meinem Hass, meiner Trauer, meiner grenzenlosen Verlassenheit. Und als es dann fertig war, bin ich damit in den Wald gefahren. Dort habe ich es verbrannt, und dann bin ich auf den noch glühenden Ascheresten herumgetrampelt, habe geheult und getobt wie eine Verrückte. Jesus, wenn mich da jemand gesehen hätte! Aber es hat mir gutgetan. Danach war es vorbei. Zumindest bis vor kurzem dieses elende Schreiben kam.

Nun gut, da man es scheinbar unbedingt von mir erwartet, habe ich alles vorbereitet für dich. Vor einem Zustand wie dem, in dem du dich jetzt befindest, hast du dich doch immer gefürchtet? Doch der wird nicht lange anhalten, das verspreche ich dir.

Wusstest du, das einer meiner Ex-Lover Vertreter für einen Pharmakonzern ist? Mit ziemlich zuverlässigen Quellen? Nein? Vierundzwanzig Ampullen Morphium, und Bargeld ist immer noch das beste Mittel gegen lästige Fragen.

Da kommt schon die Ausfahrt, hier muss ich rechts ab. Die Klinik ist dann nur noch etwa fünfhundert Meter weiter, in dem Waldstück da drüben.

In ein paar Minuten bin ich bei dir, Vater.
 
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Kommentare  

Die Geschichte hat mich wie ein Schlag ins Gesicht getroffen. Bin schwer beeindruckt.
Fünf Punkte


Tom (16.11.2003)

Da sieht man es mal wieder: so viele Worte braucht man gar nicht um eine Geschichte gut zu erzählen.
Gefällt mir sehr gut.
Gruß


Gaga (16.05.2003)

Ich gebe es zu, ich habe die Story zweimal plus die kommentare durchlesen müssen... bis ich begriff um was es da wiklich ging... echt super geschrieben... wow... man versteht die Frau und wie wolzenburg schon sagte... "man kann ihr nicht böse sein"...

*Becci* (03.07.2002)

Erstaunlich viel Wandlungen in einer kurzen Geschichte.Zuerst die Frau die sich auf was sehr Schweres einstellt,einem fast gelähmten Menschen zu helfen.Ihrem Mann denkt man.Dann die Wende,sie tut es nur weil die Ämter sie im Stich lassen.Plötzlich kommen die Erinnerungen an die verkorkste Jugendzeit,an das Vaterschwein.Man ahnt sie hilft trotzdem,denn inzwischen dürfte dem Leser klar sein,es ist ihr Vater den sie abholt.Ihrem Peiniger von früher muss sie nun zur Seite stehen.Die Gedanken an die späte Rache drängen das Bild der guten Tochter zur Seite,sie plant einen Mord.
Man kann ihr nicht böse sein.
Eine klasse Gescichte,die überhaupt kein Mitleid für das Vaterschwein aufkommen lässt.


Wolzenburg (26.06.2002)

Schade, dass sie das Buch verbrannt hat. Sie hätte es "Papi" vorlesen können, während sie ihn Tag für Tag immer mehr...
Fein, dass er bereits Panikattacken hat. Man gönnt es ihm wirklich.
Schon seltsam, wie solche Geschichten eine archaische Rachsucht im Leser zu wecken vermögen. Was soll ich sagen: Volle Punktzahl.


Stefan Steinmetz (13.06.2002)

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