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3 Seiten

Hilflos

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Gebrochene Augen flehen aus dunklen Ecken. Stumme Schmerzensschreie überwinden Zeit und Raum und erreichen mich in dunklen Stunden.

Nicht die richtige Kaste. Keine Chance. Und ein verdrängtes Schuldgefühl.

Der unglückselige Tag beginnt friedlich. Brennende Sonne lockt mich früh aus dem Bett. Vor dem
Hotelfenster rauschen Palmenzweige im Wind. Der kleine Straßenverkäufer preist schon seinen Zuckerrohrsaft an. Herrlich erfrischend aus ungespülten Gläsern! Kinderarbeit? Nun ja, aber er
sieht doch so fröhlich aus! Am Abend geht er bestimmt hungrig zu Bett. Es wird ein heißer Tag.

Eine Fahrt nach Agra wäre doch genau das Richtige, findet mein Schatz, der sich in Delhis Museumsdickicht und miefigem Straßenverkehr nur langweilt, und klopft sich den Wohlstandsbauch. Das Monument der Liebe als krönender Abschluß des Urlaubs. Ein Weltwunder im Schnelldurchlauf und auf Kodak-Papier gebannte lächelnde Momente. Ein Hauch von Romantik für unser nüchternes Leben.

Das Taj Mahal rührt mich zu Tränen. Gleißende Sonne bricht sich im strahlend weißen Marmor und blendet mich. Aus verkniffenen Augenwinkeln erkenne ich bestes Kunsthandwerk und atemberaubende Pracht. Die lächelnden Momente für Schatz´ Kamera ertrage ich nur mit Sonnenbrille. Amerikanisches Fast-Food ist das Sahnehäubchen unserer indischen Romanze.

Der Rückweg ist ermüdend. Müde Glieder quetschen sich in einem zu engen Reisebus. Meine europäischen Beine sind zu lang für indische Sitze. Zwischen den Reihen schläft ein Kind auf
einem Reissack. Hindi-Pop dröhnt in meinen Ohren. Der Fahrer singt so begeistert wie schlecht. Meine Fensterscheibe ist kaputt. Der Fahrwind bläst in meine Ohren und läßt dem Sänger nur
noch fetzenweise Chancen, mein Gehör zu quälen.

Die Nacht überfällt uns. Innerhalb einer halben Stunde ist es dunkel. In den Dörfern ist schon
wieder der Strom ausgefallen. Eine gelegentliche Fackel am Straßenrand ersetzt die Straßenbeleuchtung und ist ein einsames Zeichen von Zivilisation. Ich nicke ein, der Schatz
schnarcht schon lange.

Mit einem Ruck hält der Bus auf der staubverwehten Piste. Eigentlich heißt sie Highway, aber
die Wüste siegt und erlaubt nur einen schmalen Fahrstreifen. Die Innenbeleuchtung des Busses funktioniert natürlich nicht, aber auf Schatz´ beleuchteter Uhr sehe ich, daß es bald Mitternacht
ist.

Draußen ertönt ein lauter Schrei. Langgezogen und schmerzvoll. Der Busfahrer steigt aus und
mit ihm einige Fahrgäste. Wieder ertönen Schreie, draußen höre ich Männer reden. Sie scheinen
zu streiten. Ihre Stimmen klingen aufgeregt. Ich will aussteigen, aber Schatz läßt mich nicht.
Er ist besorgt, aber ich muß wissen, was passiert ist. Ich drängele mich an seinen Knien
vorbei, mit einem Spagat über Reissack und Kind verlasse ich den Bus. Hinter mir zuckt
Schatz gleichgültig mit den Schultern.

Draußen in der Nacht steht eine Gruppe von Männern. Heftiges Gestikulieren begleitet ihre laute Diskussion.

Auf der anderen Fahrbahn steht ein LKW. Seine Lampen sind eingeschaltet und beleuchten das
düstere Szenario. Wrackteile liegen auf der Piste und haben unseren Bus und andere Fahrzeuge
zum Halten gezwungen. Am Straßenrand sitzt eine Frau. Keiner der Männer beachtet sie. Leise
weint sie mit gesenktem Kopf. Ihre Schultern zucken. Ein Mann mit blutverschmiertem Hemd irrt
zwischen den Wrackteilen hin und her. Was jetzt nur noch zerrissenes Blech und Schrott ist,
war bis vor kurzem noch ein Mini-Van.

Wieder ein qualvoller Schrei. Die Stimmen der Männer werden noch lauter. Ich nähere
mich ihrem Kreis. Die Männer treten zur Seite. Nein, ich schüttele Kopf. Kein Doktor,
leider! Vor mir liegt eine Frau. Ihr Gesicht ist blutverschmiert. Unter ihr breitet sich ein
dunkler Fleck aus. Irre Augen schauen ziellos durch die Gegend, wandern von einem Gesicht
zum anderen. Sie schreit und schreit. Blut quillt aus ihrem Mund.

Telefon gibt es hier nicht. Die Männer reden weiter und weiter. An ihren Tilaks und Bärten, den Turbanen und Gewändern kann ich erkennen, wer Hindu, Moslem oder Sikh ist. Bei der Frau kann ich es nicht erkennen. Die Männer wohl auch nicht, und das scheint auch der Grund ihrer Diskussion zu sein. Möglicherweise ist sie eine Kastenlose, eine Unberührbare, wer will sich daran die Finger
schmutzig machen! Endlose Poojas und Reinigungszeremonien wären die Folge, und die Priester
sind heutzutage auch so teuer. Zu geizig für eine gekaufte Absolution, die ein besseres Karma
im nächsten Leben brächte! Eine blutige Hand streckt sich mir entgegen. Ich stehe erstarrt und
bin hilflos. Was könnte ich tun, Laie, der ich bin! Die Männer wirken bedrohlich, ich habe
Angst vor einem Fehler. Welche Konsequenzen würden mich hier erwarten?! Erinnerungen an Erste Hilfe, trotzdem bewege ich mich nicht.

Die Diskussion scheint sich dem Fahrer des LKWs zuzuwenden. Der Unglücksengel ist ins Gestrüpp der Steppe entschwunden. Das Fahrzeug steht führerlos auf der Piste und blockiert den Verkehr.
Ein paar Jungen räumen Trümmer von der Straße. Die weinende Frau und der Mann mit dem blutverschmierten Hemd sitzen am Straßenrand. Auch um sie kümmert sich niemand.

Ein Röcheln der sterbenden Frau. Noch mehr Blut fließt aus ihrem Mund, der Worte
formt, die niemand hören will. Stumm schaue ich sie an. Ich schaue, bis ihre Augen brechen.
Schwarze Augen ohne Licht, für immer stumpf und tot. Die Diskussion stoppt sekundenlang und
setzt sich in emsiger Geschäftigkeit fort. Gierige Hände berühren die Unberührbare. Goldene
Armreifen werden heruntergerissen, Ohrringe verschwinden in Hosentaschen. Hände, die jetzt
keine Reinigungszeremonie mehr benötigen, fassen Arme und Beine und räumen den
Diskussionsgegenstand in den Straßengraben. Die Piste ist wieder frei. Die Fahrt geht weiter.
Der Fahrer stimmt ein fröhliches Lied an.

Zurück bleiben die Frau und der Mann. Immer noch sitzen sie am Straßenrand. Zurück bleiben
die gebrochenen Augen, der auf so religiös-praktisch indische Art entsorgte Kadaver. Keine
Hand, die die Augen schließt. Kein Schal, um sie zu bedecken. Der schmückt ab heute Nacht die
Gattin daheim, zusammen mit den Ohrringen.

Schatz zuckt nur mit den Schultern. So ist das Leben hier. Warum ich auch gucken gehen mußte!
Seit wann so fatalistisch, mein Lieber?! Beschämt kann ich nicht mehr einschlafen.

Die gebrochenen Augen und ein Gefühl des Versagens sind meine so ungern hervorgeholten Reisesouvenirs.


© Heike Hagenguth 07/2001




 
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Kommentare  

Nein, kein Reisebericht und (@Gwenhwyfar) auch keine Satire, aber wirklich 5 Punkte wert.
Deine Erzählung ist so plastisch, dass sie wirklich Bilder in mir weckt. Die Gnadenlosigkeit des Lebens in Indien, die Desillusion einer Touristin. Der Stil mit den kurzen Absätzen ist hervorragend, auch die Wortwahl möchte ich hervorheben.
Und sie ist gnadenlos bitter, wenn man auch noch so einen "Schatz" hat..


Susan (02.02.2004)

Habe die Geschichte erst jetzt gefunden.
Ich will um meiner Seelenruhe nicht hoffen, dass sie auf tatsächlichen Erlebnissen der Autorin beruhen....oder??
Ich kenne zwar das Thema des Wettbewerbs nicht, aber was ich herausgelesen habe ist; dass Gesellschaften nicht so unterschiedlich sind, wie sie gelegentlich aussehen. Die Protagonistin verzichtet darauf, sich moralinsauer über die Inder und ihr Verhalten auszulassen. Warum? Weil sie sich ebenfalls aus eigensüchtigen Erwägungen heraus (die Männer sehen so bedrohlich aus, was, wenn ich jetzt was Falsches tue) an der gemeinschaftlichen unterlassenen Hilfeleistung beteiligt. Und "Schatz" zeigt sich nicht menschlicher als die Leichenfledderer.
Manchmal sehen Dinge auf den ersten Blick unterschiedlich aus, machen wir uns entrüstet auf den Weg, Unterschiede hervorzuheben anstatt Gemeinsamkeiten zu unterstreichen. Aber wehe, man sieht genauer hin...
Kein Reisebericht. Aber eine ziemlich grausame (auch selbstkritische) Gesellschaftssatire. Und alle Male 5 Punkte wert.


Gwenhwyfar (16.10.2002)

Verstörend und realistisch. Die Aasgeiergesellschaft umspannt den gesamten Globus. Der (noch) Lebenden durfte aus pseudoreligiösen Gründen nicht geholfen werden, die Tote durfte man dagegen schamlos berauben.

Stefan Steinmetz (01.04.2002)

Diese Geschichte ist sehr gefühllos beschrieben worden, als ob die Hauptperson keinerlei Bezug zu dem Gesehenen hätte. Ein stilller Beobachter sozusagen. Irgendwie fehlt mir die „Begegnung“ in dieser Geschichte. Reisebericht kann man sowas nennen. Ein kalter Reisebericht. Der Unfall auf dem Highway (war es denn einer?) ist in meinen Augen keine Begegnung. Begegnungen lösen schliesslich etwas aus, verändern etwas, was hier nicht der Fall ist. Auch der Titel passt nicht zu der Geschichte. Hilflos erscheint mir die Hauptperson nicht, eher gefühlskalt.

SabineB (Jurorin) (01.09.2001)

Wie ein Reisebericht klingt das für mich aber nicht. Hört sich ja an, als ob man im Urlaub ständig über sterbende Leute stolpert und nicht weiß was man tun soll. Ich finde die Geschichte ganz gut. (Möchte jetzt keine Diskusion ankurbeln, ist nur meine Meinung)

esmias (27.08.2001)

tut mir leid, aber das ist ein reisebericht und keine kurzgeschichte für den wettbewerb. so arg das auch klingen mag, aber so sehe ich das! genre verfehlt.

Marco Frohberger (26.08.2001)

mmmh noch eine indische Begegnung... diesmal nicht der triefende Kühlschrank und Stromabschaltungen... undausgedürrte Flussbette, keine Taxi-...nein, Teksi- Begegnung... diesmal eine kleine grausame Steigerung eines Reiseberichtes... ich traue mir schon garnicht mehr, auf die nächste Story zu klicken... vielleicht ist diese Begegnung ja noch steigerbar und du hast auf deiner Reise auch noch der Beschneidung eines kleinen Mädchens... beigewohnt... und es als Begegnung hier eingestellt...

Teleny (03.08.2001)

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