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10 Seiten

Für alle Fälle...

Romane/Serien · Fantastisches
© Maui
Wissen Sie, eigentlich bin ich ein etwas altmodischer Mensch...und das ist auch der Grund dafür, dass ich manchmal unabsichtlich in Situationen gerate, die sich von der Masse der in Zeitungen nicht erwähnten Unwahrheiten abheben. Ich sammle. Bücher. Alte Bücher. Ein spezielles Exemplar davon zumindest war Anlass für einen reizenden Familienkrach. Aber unser Haus steht noch. Zumindest weitestgehend. Und falls Sie jetzt denken, wir hätten kleine bauliche Veränderungen oder fehlende Haustiere etwa einem kleinen privaten Rosenkrieg zu verdanken, so irren Sie sich. Das waren alles die...aber halt, ich möchte jetzt doch gern der Reihe nach erzählen.

Es begann am Vortag des 9. Geburtstages meines Sohnes. Wie es sich gehört, hatte ich seine komplette
Wunschliste im Kopf. Das lag sicherlich daran, dass ich ein guter Vater bin und sie außerdem seit einem Monat ca. zweimal täglich (nur für den Fall, dass ich mit 35 bereits senil zu werden beginne) vorgebetet bekam. Sämtliche pädagogischen Hinweise auf Zusammenhänge zwischen schulischen Versagen und drastischen inhaltlichen Kürzungen seiner Liste schien er zu ignorieren. Obwohl er natürlich alt genug war zu wissen, dass selten alle Wünsche erfüllt werden, entwickelten sich die Diskussionen über Masse und Qualität seiner Geburtstagsgeschenke zu einem -langsam lästigen- Ritual zwischen uns beiden.
Also zog ich nach der Arbeit los, das Kaufhaus meines Vertrauens mit meinem Besuch zu beehren. Sein Geschenk lag dort schon bereit, neben vielen anderen seiner Art. Ein für meine Begriffe sündhaft teures Computer-Spiel mit dem klangvollen Namen "Dragons at War" hatte es ihm angetan. Man konnte am Ende des Spieles zum Drachenlord werden, stand auf der glitzernden Verpackung. Aber erst, nachdem man in etlichen fairen, oder unfairen Kämpfen seinen Mitdrachen die Köpfe abgerissen hatte, ihre Nester in Flammen aufgehen ließ und sämtliche Babydrachen verspeist hatte. Nun, wenigstens starben in diesem Spiel keine Menschen.
Ich ließ es mir noch hübsch einpacken, da ich in diesen Dingen wahrlich keine Leuchte bin und machte mich dann auf den Weg, den Kauffrust mit einem Frustkauf zu kompensieren. Diese Worte lassen vielleicht den Verdacht entstehen, ich hätte das Geburtstagsgeschenk nur unwillig gekauft. Unfug. Ich musste nur gerade daran denken, dass anlässlich des morgigen Geburtstages der Besuch meiner Schwiegereltern bevorstand. Eigentlich dachte ich seit einiger Zeit schon an nichts anderes. Meine Schwiegermutter die bestimmt als erstes ein paar herzliche Worte über meine "gute Figur" verlieren würde und ihr Gemahl der mich bestimmt fragen würde, ob meine Firma wenigstens dieses Jahr die Steuern zu zahlen in der Lage wäre (er arbeitet beim Finanzamt).
Kennen Sie die Stimmung, in der man sich nach solchen Gedanken befindet?
Dann ist Ihnen vielleicht auch das Gefühl, etwas dagegen tun zu müssen nicht fremd. Mir hilft da, zumindest ein wenig, der Erwerb eines neuen (alten) Buches um die düsteren Vorstellungen darüber, was der nächste Tag bringen würde, ein wenig aufzuheitern. Ich schlenderte durch die belebten Strassen vom Kaufhaus weg in Richtung Altstadt. Dort gibt es herrlich restaurierte Gässchen mit Läden voller Kitsch und Ramsch für Touristen und stilvolle Restaurants (natürlich sämtlich überteuert) mit schweren hölzernen Decken und hyroglyphischen Speisekarten. Nicht weit davon allerdings gibt es noch ein paar Straßen mit Häusern, die noch keinem gierigen Immobilienhai in die Hände gefallen sind. Statt Goldschrift über den Ladentüren abblätternde Farben und Risse im Verputz. Und Läden, in denen man eine Weile stöbern kann, ohne einen gelangweilt wirkenden Verkaufsassistenten zu stören.
Wenn man das Sammeln alter Bücher als Hobby betreibt, kennt man auch die nächstgelegenen Antiquariate, umso erfreuter war ich jetzt in dieser ruhigen Gegend eine neue Fundstelle mit dem Namen "Für alle Fälle" zu finden. Voller Erwartung betrat ich den nicht sehr hellen Laden, um drinnen einer freundlichen älteren Dame gegenüber zu stehen.
"Sie interessieren sich für Bücher?", waren Ihre ersten Worte. Auf mein verblüfftes Schweigen lachte sie mit einer ungewöhnlich hellen, jungen Stimme. "Ich sehe das an ihrem Blick, solch Wissen ist keine Zauberei" versicherte sie mir immer noch lächelnd. Trotzdem hatte ich für einen Augenblick den Verdacht, dass es gerade das war. Zauberei. Ich löste den Blick von ihren merkwürdigen Augen und schob meinen unsinnigen Verdacht in die hinterste mentale Kerkerzelle und eröffnete ihr mein Anliegen:
"Sie haben Recht. Was ich besonders suche, ist eine Originalausgabe vom Struwwelpeter." Diesmal lachte sie nicht. "Damit wenden Sie sich vielleicht doch besser an Sothebie´s. Die haben so etwas manchmal:"
entgegnete sie trocken. Ich hatte sie gar nicht ärgern wollen und versuchte einzulenken:
"Nichts für ungut, war nur ein Scherz. Ist ja sowieso nicht meine Preisklasse. Darf ich mich mal umsehen?"
"Sicher".Sie war anscheinend immer noch nicht bereit, mir zu verzeihen.
Ich senkte meinen Kopf demütig und noch immer um Verzeihung bittend über die in Kartons aufgereihten Bücher. Fast auf Anhieb blieb mein suchender Finger am schmalen Band eines Kinderbuches hängen. So ist das bei mir, entweder suche ich stundenlang, bis ich etwas finde, oder etwas macht "Klick", so wie jetzt. Mit einiger Mühe fummelte ich das aus einzelnen, ordentlich verleimten und grellbunten Pappseiten bestehende Büchlein heraus. Auf den wenigen Seiten ohne ein einziges Wort schienen die hässlichsten Geschöpfe, die sich menschliche Fantasie ausdenken kann miteinander zu konkurrieren. Trolle Gnome...
Nur auf der letzten Seite war so etwas wie eine Fee, die mir plötzlich zublinzelte. Ich klappte das Buch zu und öffnete es sofort an der gleichen Stelle. Nichts. Es musste ein Lichtreflex gewesen sein, der mich getäuscht hatte. Trotzdem musste ich dieses Buch einfach haben. Mit trockener Stimme sagte ich:
"Dieses hier."
Sie sah mich merkwürdig an.
"Sind Sie sicher, dass Sie sich dieses leisten wollen?"
Ich drehte das Buch, bis ich einen kleinen herzförmigen Aufkleber mit einer handgemalten 5,- darin sah.
"Das ist durchaus im Rahmen meiner Möglichkeiten" versicherte ich ihr.
"Den Preis meine ich nicht", sagte sie darauf abweisend.
Jetzt wollte ich es unbedingt haben.
"Verkaufen Sie es zu dem Preis hier, oder nicht?"
Sie sah mich jetzt fast wütend an.
"Sicher."
"Gut, dann nehme ich es."
Mit dem Blick einer Mutter, die darauf wartet, dass das unartige Kind sich auf den heißen Ofen setzt
begann sie mit funkelnden Augen das Büchlein in Seidenpapier einzuschlagen und tippte darauf wortlos den Betrag in ihre schmiedeeiserne Kasse.
Als ich befremdet von ihrer Unhöflichkeit grußlos den Laden verlassen wollte, schien sie sich eines Besseren zu besinnen und rief mir nach:
"Eins noch. Denken Sie daran, die Fee ist eine gute Fee."
Ich wusste nicht, ob diese Worte ein Versuch sein sollten, einen potentiellen Kunden nicht zu vergraulen, oder das Gegenteil. "Äh." war daher alles was ich herausbrachte.
Ich quetschte mich durch die Tür, dabei "Auf Wiedersehen" murmelnd, ohne es zu meinen und machte mich auf den Weg nach hause, wo anderes auf mich wartete.

***

Als mein Sohn Robby uns weckte, war die Sonne noch immer im Tiefschlaf, genauso wie wir. Andrea hielt sich gar nicht erst mit langen Reden auf und zog sich die Decke einfach wieder über den Kopf. Typisch. Robby bemerkte mein Zögern und kam auf meine Seite des Bettes. Ungefähr seit er drei ist, beherrscht er die Leute-ich-bin-schon-wach-Mimik. "Kommst Du mit, Geschenke auspacken Papa?", fragte er in jenem Ton, den alle Eltern kennen. "Robby hast Du schon mal auf die Uhr gesehen?" fragte ich. "Komm schon, ich kann sowieso nicht mehr schlafen" (und Du auch nicht) in Gedanken hinzusetzend machte er meine pädagogischen Anwandlungen zunichte. Damit wenigstens Andrea noch ein wenig Ruhe hatte, schlich ich mich in drei Teufels Namen mit ihm nach unten.
Langsam wach werdend, fiel mir wieder ein, dass wir ja seit gestern Abend Gäste hatten, die gern lange schliefen. Einerseits hätte es mir nichts ausgemacht, meine lieben Schwiegereltern mit einem fröhlichen Geburtstagslied für Robby zu wecken, aber andererseits überwog das Bewusstsein dass damit die letzten ruhigen Minuten des Tages vorbei wären. Also legte ich den Finger auf die Lippen, als wir an Ihrem Zimmer vorbeiliefen und ging betont auf den Zehenspitzen. Robby grinste. Er war alt genug, um meine Ambivalenz gegenüber meinen Schwiegereltern zu verstehen, obwohl ich versucht hatte es ihn nicht merken zu lassen.
Mein Geschenk war ein voller Erfolg. "Mensch Papa, ein echter Heuler, voll cool" war sein Kommentar.
Wie groß seine Freude war, merkte ich außerdem daran, dass ich ihn nur mit Mühe davon abhalten konnte, sofort den Computer anzuwerfen und das Spiel auszuprobieren. Heroisch bekämpfte ich die Vorstellung ihn an den Computer zu lassen und derweil noch ein wenig an der Matratze zu horchen. "Später" tröstete ich ihn. "Lass dir mal ´n paar neue Sprüche einfallen, okay?" war seine wohl formulierte Antwort. Aber er grinste immer noch. "Gehen wir nachsehen, was für Kuchen Mama besorgt hat?" Damit waren wir wieder auf einer Wellenlänge. Ich grinste zurück und machte dann den vergeblichen Versuch, als erster in der Küche zu sein.
Nicht allzu lange danach wurde die Ruhe des Hauses durch die geschäftigen Geräusche der anderen Erwachenden endgültig gestört. Wir waren inzwischen im Wohnzimmer. Robby kaute immer noch, als er plötzlich auf den Videorecorder deutete.
"Der ist ja an". Als ich mir das Gerät ansah, stellte ich fest, dass er Recht hatte. Allerdings waren die Akkus leer, die Filmkassette schien benutzt zu sein. Als ob jemand eingeschaltet und dann bis zum Ende der Akkus laufen gelassen hätte. Ich wechselte die Akkus, um mir den Film anzusehen. Vielleicht war ja zu erkennen wer an dem Gerät herumgespielt hatte. Auf dem kleinen LCD-Bildschirm war zuerst nicht viel zu sehen. Es begann mit wilden Schwenks durch das Zimmer, dann kam ein Focus auf ein Bild von Hyronimus Bosch an unserer Wand. Was ich als nächstes sah, veranlasste mich, den Recorder an den Fernseher anzuschließen.
Ich spulte ein wenig zurück, und drückte erneut die Play-Taste.
Robbies Kommentar bestand nur aus einem Wort: "Krass".
Offensichtlich sah er das Gleiche, wie ich. Das Buch. Aus dem neuen Laden. Es lag offen auf dem Tisch, wo es doch eigentlich verpackt sein sollte. Im Augenblick stieg gerade ein Troll heraus, blinzelte in die Kamera und verschwand mit einem Sprung aus dem Gesichtsfeld. Robby und ich sahen sprachlos zu wie immer merkwürdigere Gestalten sich aus den Seiten lösten und davon hüpften. Die letzte, ein knorriger Wurzelgnom, blieb neben dem Buch stehen und schien die letzte Seite daran hindern zu wollen, sich zu öffnen. Der Troll, der als erstes ins Bild gekommen war, erschien erneut, diesmal mit dem Klammergerät von meinem Schreibtisch. Er klammerte die wie es schien sich heftig wehrenden letzten Seiten zusammen, so dass sie sich nicht mehr ohne weiteres öffnen ließen. Es folgen weitere schnelle Schwenks in alle Zimmerecken, gefolgt von einem Plumps. In dem Augenblick begannen die Schreie. Die kultivierte Stimme meiner Schwiegermutter mit der sie sonst meine Fehler aufzuzählen pflegte war um mindestens zwei Oktaven höher geworden. Das erste Bild was ich vor Augen hatte, war Tante Sally (aus Huck Finns Abenteuer) wie sie auf einem Stuhl stand, von Schlangen umringt. Ich verbis mir ein Grinsen und rannte mit Robby nach oben, von wo die Schreie kamen. Auf der Treppe saß der Troll, der zuerst auf dem Film zu sehen war. Mit seinen spitzen Zähnen produzierte er ein Geräusch, das wie ein kaputtes Getriebe klang. Zwischen seinen Händen hielt er ein Küchenmesser, mit dem er jetzt herumzufuchteln begann. Ich griff mir einen Stuhl und versuchte, ihn damit in Schach zu halten. Im Nu hatte sich ein Stuhlbein in einem Wirbel von Sägespänen aufgelöst. Ich schluckte. "So kommst du ihm nicht bei", ließ sich Robby, der neben mir stand, vernehmen. Überhaupt schien er der Situation viel Heiteres abgewinnen zu können. "Papa, liest Du manchmal auch eins von den Büchern, die Du sammelst"?
"Robby, was soll die Frage", war meine etwas hilflose Antwort. Inzwischen war auch das zweite Stuhlbein von dem Troll mit der Effizienz einer Maschine kunstgerecht verkürzt worden. "Robby, wenn Du eine Idee hast, raus damit", sprudelte ich hervor, während sich das dritte Stuhlbein zu den Spänen auf unserem Teppich gesellte. Als der zähneknirschende Troll sich an das letzte Bein machte, riss Robby die Wohnungstür auf. Die Sonne warf einen breiten Lichtstrahl in unseren Flur, vergoldete mit Ihrem Licht die Terrazzo-Platten des Weges, unsere Eingangstür, unseren Flur und... ließ den Troll versteinern. "Wie hast Du das gemacht?", stotterte ich.
"Ich gar nicht. Die einzig korrekte Methode, um mit Trollen fertig zu werden. Findest Du in jedem zweiten Märchen. Echt." Er zog sich ein wenig zurück, als ich hörbar einatmete.
"Robby, diese Überheblichkeit hast Du nicht von mir".
"Von wem sonst?" Bevor ich eine pädagogisch ausgewogene Antwort auf seine Bemerkung formulieren konnte, setzten oben die Schreie wieder ein. Vorbei an dem versteinerten Troll und dem nunmehr leeren !!! Vogelkäfig rannten wir die Treppe hoch. "Hoffentlich ist dort oben nicht noch ein Troll" japste ich. "Hoffentlich nichts Schlimmeres als ein Troll" verbesserte mich Robby. Oben angekommen schickte ich ihn in Andreas Zimmer, während ich ins Gästezimmer stürmte. Meine Phantasie hatte mir ein ziemlich genaues Bild geliefert; meine Schwiegermutter stand auf dem Tisch, vor dem kein Troll, sondern eine riesige Spinne saß. Mein Schwiegervater saß im Bett, die Decke bis an die ängstlich geweiteten Augen gezogen.
Die Spinne hatte die Größe eines ausgewachsenen Schäferhundes und sah viel gemeiner aus. Eins ihrer acht haarigen Beine tastete sich am Tischbein entlang, ihr gelber Geifer hatte unschöne Flecken auf unserem Teppich hinterlassen. Das war offensichtlich auch das erste, was meiner Frau auffiel, die eben den Raum betrat. Mit den Worten:" O, Du Ferkel" stürzte sie sich nur mit einem Schuh und dem Mut der Hausfrau die ihre Wohnung in Gefahr sieht, bewaffnet auf das Tier. Ihr Timing war so perfekt, daß die Spinne den Pfennigabsatz ihres Schuhs im Auge hatte ehe wir uns alle bewegen konnten. "Treffer", kommentierte Robby die Szene. Die Spinne war verletzt, aber noch nicht geschlagen. Deshalb hob ich zur Freude meiner Bandscheiben meine Schwiegermutter von Tisch, während Andrea ihren Vater aus dem Bett zog. Während die Spinne in rasender Wut gegen die Wand anrannte, verließen wir das Zimmer und knallten die Tür hinter uns zu. Alle Köpfe drehten sich zu mir.
"Warum seht Ihr mich so an?"
"Warum wohl?", fragte meine Schwiegermutter mit tückischem Blick. "Hast Du etwas damit zu tun?", fragte nun auch Andrea. Das Gesicht, das sie dabei machte, kannte ich gut. Robby rettete mich:" Die kommen aus einem Buch."
"Robert, obwohl Du ein lieber Junge bist, glaubt Dir Deine Oma nicht alles". Der diese Worte begleitende strafende Blick schloss mich mit ein. Robby wurde rot." Es stimmt aber Oma, wir wollten es erst auch nicht glauben. Aber wir haben es sogar auf Video. Die kamen alle aus dem Buch."
"Stopp", rief Andrea", heißt das, dass es hier noch mehr Spinnen gibt?".
"Genau genommen, nein", war meine ehrliche Antwort.
Robby, der plötzlich mit einem "Wusch" in seinem Zimmer verschwand enthob mich vorerst weiterer Erklärungen. Kurz darauf erschien er mit einem Globus in der Hand. Auf ihn deutend sagte er: "Eigentlich sollte es mein Baseball-Schläger werden" und zuckte mit den Schulter.
"Was war es?", fragte ich ihn. "Ein Frosch" war seine lakonische Antwort. "Vor Fröschen braucht man aber keine Angst zu haben", mischte sich da erneut seine Oma ein. "Der in meinem Zimmer sabbert aber ganz doll", meinte Robby. "Außerdem ist er 2 Meter groß", flüsterte er mir zu. Wenn man 9 Jahre ist, kann man das alles tatsächlich als eine Art von Abenteuer ansehen, aber ich ließ im Geiste meinen Rechner mitlaufen und addierte entstandene und noch kommende Schäden. Außerdem überlegte ich, wie man in einem Versicherungsbericht Schäden durch Riesenfrösche plausibel machen könnte.
Als wir an der Treppe angelangt waren, sahen wir, dass der Troll Gesellschaft bekommen hatte. Den Wurzelgnom. Er war zwar nur etwa 50 cm groß, aber als er das Maul aufriss, sah ich sehr viele, sehr spitze Zähne. Hinter uns hatte die Spinne es geschafft, das Gästezimmer durch die Wand zu verlassen. Ein schleimiges Platschen hinter Robbies Tür deutete darauf hin, dass der Frosch sich ihr anschließen wollte.
Robby warf den Globus in Richtung des Gnoms. Das Biest schnappte danach und, da es ein von Wut und Angst beflügelter und damit recht kräftiger Wurf war, kugelte es in Richtung Tür davon. Wir rannten alle die Treppe herunter zu unserem Wohnzimmer, zusätzlich motiviert durch die Schmatz- und Knirschgeräusche in unserem Rücken. Hier war - vorerst noch - Viecherfreie Zone. Robby lief zum Videorecorder und schaltete ihn erneut ein. "Hier, seht Euch das an, die kommen wirklich aus dem Buch". Ich blickte starr auf den Fernseher, vor allem weil ich Andreas strenge Blicke auf mir ruhen fühlte. Vermutlich hatte sie bei den ersten Bildern begriffen, dass meine Sammelleidenschaft uns dieses Buch ins Haus gebracht hatte.
In Gedanken versunken sah ich noch einmal die letzte Szene, als der Troll die letzte Seite zuklammerte. Und plötzlich verstand ich den letzten Satz der Verkäuferin die mir das Buch verkauft hatte.
"Wir brauchen das Buch, sucht es".
"Willst Du schon wieder ablenken?" fragte meine Frau mit blitzenden Augen.
Das Buch ist das einzige, was uns jetzt möglicherweise helfen kann. Ich erkläre es Dir später, Schatz. Ehrenwort ."
"Du wirst uns einiges zu erklären haben, Junge" meldete sich da mein Schwiegervater zu Wort. Ich konnte Ihm nicht widersprechen. In einer Geste der Resignation hob ich die Arme. "Später. Bitte helft uns das Buch zu finden." Die Geräusche, die sich langsam über die Treppe näherten, bewahrten uns vor weiterem Streit. Wir alle begannen ziemlich planlos das Zimmer zu durchsuchen. Robby, der mit seinen 9 Jahren die Augen eines Falken hatte, rannte schnurstracks auf das Bücherregal zu und zog tatsächlich das richtige Buch heraus. "Dumme Viecher": war sein Kommentar. Wir alle gingen zu Ihm.
Keinen Augenblick zu früh. Sie waren da. Als erstes kam der Gnom, dem noch immer der Fuß des Globus aus einem Mundwinkel ragte. Als er uns vor dem Bücherregal zusammengedrängt erblickte, knirschte er mit den Zähnen und spuckte uns dann die Überreste der Welt vor die Füße. Die ihm folgende Spinne hatte noch immer den Schuh im Auge, was aber nur ihre Wut zu vergrößern schien. Dahinter patschte der Frosch ins Zimmer und ich sah, dass es kein einfacher Frosch war. Ich warf mich auf Robby. Keinen Augenblick zu spät. Die meterlange, mit spitzen Stacheln besetzte Zunge knallte dort, wo er eben noch gestanden hatte gegen das Regal. Ich nahm das Buch und nestelte mit zitternden Fingern an der Heftklammer, die die beiden letzten Seiten zusammenhielt. Ich riss mir in meiner Hast den Zeigefinger auf, ohne zu beachten was hinter meinem Rücken vorging. Ich hörte Schreie, aber ich konzentrierte mich vollkommen auf die vermaledeite Klammer. Als ich sie geöffnete hatte, zog ich die beiden letzten Seiten des Buches auseinander. Und fühlte etwas Feuchtes auf meiner Schulter. Im gleichen Augenblick sprang in einem Silberregen eine kleine Fee aus dem Buch.
"Absentia", waren die ersten Worte, die sie sprach. Die Spinne, der Troll, der Gnom und der Frosch begannen einen wilden Tanz auf der Stelle und flogen, sich dabei verkleinernd auf das Buch zu. Wie von Feenhand begannen die Seiten sich plötzlich zu bewegen und die Geschöpfe aufzunehmen.
Wir sahen uns an.
Mein Schwiegervater rieb sich die Stirn. Der Troll hatte ihn im Vorbeiflug gestreift.

***
Die Fee hatte uns einen langen Vortrag gehalten, ehe sie ebenfalls wieder im Buch verschwand. Meine Frau hatte mir einen weit längeren Vortrag gehalten, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte.
Zerknirscht trug ich das Buch in den Keller, wo unser alter Verbrennungsofen steht und machte
Feuer. Ich legte ein paar Zeitungen in den Ofen, packte zur Sicherheit noch ein paar Holzspäne dazu und steckte das ganze an. Gedankenversunken betrachtete ich das Spiel der Flammen. Das Buch steckte ich in eine Mauerritze. Meine Schwiegereltern waren diesmal früher abgereist. Aber sie würden natürlich wiederkommen. Mit ein wenig Lehm verschmierte ich die Ritze. Für alle Fälle.
 
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Kommentare  

Höhö!
Die Märchenvariante von Jumanji! Horror zum Lachen! Mal was anderes! Herrlich, wie den den Schwiegertigern ans Leder geht!
Ich habe mich beim Lesen köstlich amüsiert. Stinkig wurde ich nur, als er das Superbuch abfackeln wollte (wegen der Schwiegertiger!), aber er hat es ja dann doch gerettet.
Diese Story ist wieder mal Beweis, wie segensreich das Feature zum "Geschichte weiterempfehlen" ist! Ohne den Tipp der Trainspotterin wäre mir dieses literarische Kleinod glatt durch die Lappen gegangen.
Volle Punktzahl!


Stefan Steinmetz (09.11.2003)

Du meine Güte! *lach* Es fing so friedlich an (wenn
man das Geschenke-Besorgen für noch recht junge
Leute als friedlich bezeichnen möchte), und dann
gehts richtig rund. Ich hab mich sehr amüsiert,
sowohl über den Humor, der in dem ganzen
köstlichen Chaos durchblitzt, wie auch über die
sprachliche Umsetzung der Idee an sich, eine
gelungene Mischung aus Fantasy, Kindergeschichte
und Erwachsenenunterhaltung. Sehr merkwürdig,
daß hier bisher noch niemand kommentiert hat. Ich
empfehle die Story mal weiter und dir, im Satz "Ich
hatte sie gar nicht ärgern gewollt" das letzte Wort
gegen ein schlichtes "wollen" auszutauschen. Volle
Punktzahl von mir. :o)


Trainspotterin (30.10.2003)

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