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Chironian Story 006: Die Gabe

Romane/Serien · Spannendes
In unserem Universum gibt es keine Objekte, die sich gleichen oder exakt dieselben Eigenschaften besitzen. Selbst auf kleinster Ebene oder im Innersten gibt es hier feine Unterschiede, auch wenn dieses Objekt exakt gleich aussieht. Überall dort, wo der Faktor Wachstum und vor allem Leben hinzukommt, werden diese Unterschiede umso extremer. Dies gilt für alle intelligenten Lebewesen, die sich nicht nur durch ihr Aussehen, sondern auch durch ihre Charaktereigenschaften, ihre Fähigkeiten und ihr Verhalten von einander unterscheiden.

So sind es auch diese Charaktereigenschaften, unser Agieren und unser Selbstverständnis, die uns zu Individuen machen. Ein wichtiger Teil unserer Persönlichkeit sind Charakterzüge und Fähigkeiten, die uns speziell auszeichnen. Diese Talente stecken in uns, doch erkennen wir sie meist nicht. Oft will man sie auch nicht annehmen, weil man sonst sein bisheriges Leben ändern müsste. Extremsituationen entstehen, wenn diese Talente zu mehr werden, als das was sie zu sein scheinen – für andere Menschen nicht erfassbar und stärker, als jede erdenkliche Eigenschaft – so genannte Gaben, die niemand steuern oder besitzen kann. Das schreckt die Menschen ab und straft die Begabten mit Ignoranz und Ablehnung. Dennoch ist diese spezielle Gabe da, ob man sie nun zu nutzen weiß oder nicht. Es liegt bei jedem Individuum diese Fähigkeit, dieses spezielle Talent anzunehmen und für das Gute einzusetzen, selbst wenn man sein bisheriges Leben hinter sich lassen muss.


Die Gabe

Ein Sonnenstrahl fiel durch das kleine Fenster direkt in ihr Auge. Das schien ihr weder aufzufallen, noch war es für sie störend. Ihr Blick war starr auf einen Punkt fixiert und nicht einmal warme Strahl der Sonne Thulenias, der etwas Licht in den sonst so kargen und düsteren Raum brachte, konnte sie aus ihren Gedanken reißen.

Fünf Tage war es gerade her, dass sich die Monde an einer Position des Himmels vereint und damit ungeahnte Kräfte und Winde auf dem Planeten ausgelöst hatten. Fünf Tage war es her, dass man Zorkon außerhalb der Kolonie im Sandsturm bewusstlos aber dennoch am Leben fand. Fünf Tage war es auch her, dass viele Chironians eine neue Erfahrung machten, die niemand von ihnen bis heute erklären konnte. Dieses Gefühl, diese Gedanken oder Emotionen der anderen erahnen zu können, schien vielen Angst gemacht zu haben. Es redete auch niemand darüber. Es war einfach unmöglich mit logischer Denkweise nachzuvollziehen, was an diesem Abend passiert war. Weder mit naturwissenschaftlichen noch mit medizinischen Gesetzen war dies zu erklären und deshalb gingen die Chironians so schnell wie möglich wieder ihrem Alltag in der so beengenden Kolonie nach.

Einzig Isabel saß an Zorkons Krankenbett und wälzte Gedanken über diesen Tag. „Ach Zorkon... Warum bist Du da draußen gewesen?“ fragte sie leise in den stillen Raum, in dem sonst nur die leisen Geräusche der medizinischen Monitoring-Geräte zu hören waren, die Zorkons Vitalfunktionen überwachten. Doch Zorkon konnte nicht antworten...

Es war auch besser, dass er nichts mitbekommen hatte. Wie ihn die Chironians schon am nächsten Tag vergessen hatten oder gar vergessen wollten. Weder Maldan noch Zorkons bester Freund Sorkon kamen in die Krankenstation, um nach Zorkon zu sehen.

Isabel hatte auch beiläufig mitbekommen, dass Skaat mit seiner älteren Schwester Rhynia stritt, weil sie ebenfalls in tyn, draußen in der gefährlichen Landschaft Thulenias gewesen war. Das hatte niemand in der Kolonie wirklich mitbekommen. Isabel konnte das auch einfach nicht verstehen, wie man so einfach sein Leben aufs Spiel setzen kann. Hatte Rhynia nicht mitbekommen, was mit Zorkon passiert war? Musste auch sie mit ihrem Leben spielen? Das war doch kein Scherz!

"Hallo mein Kind!" hörte Isabel plötzlich. Lilana, die Ärztin der Kolonie, eine etwas schmächtige, schlanke Frau, war fast unbemerkt in den Raum gekommen. Isabel ärgerte sich. Sie war kein Kind mehr und Lilanas Kind schon gar nicht. Doch die nächste Frage "Na wie geht es unserem Patienten, Isabel?" ließ Isabels Ärger wieder ein wenig verfliegen.
"Ich denke ganz gut. Zumindest das EKG und die Herzfrequenz sehen normal aus. Nur die Gehirnaktivität macht mir ein wenig Sorgen. Er scheint nichts zu träumen... ist das normal?" antwortete Isabel fast fachmännisch.
"Das siehst Du ganz richtig. Die Gehirnströme sind fast gleich null. Ehrlich gesagt wundert mich das ein wenig. Nur manchmal schlagen sie so massiv aus, in einer Art und Weise, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich kann mir das nicht erklären..."
Etwas ratlos blickte Lilana auf Zorkons Daten, die sie auf dem Display am Ende des Krankenbettes ablas. Sie wunderte sich. "Isabel, was war da?" Sie deutete auf große Spitzen einer sonst sehr flachen Linie hin.
Isabel zuckte mit den Achseln. Sie wusste es nicht. Woher auch?
"Mir ist einfach nicht klar, was ich davon halten soll. Ob das nun ein Fehler des medizinischen Monitoring Programmes war oder ob das wirklich ein so massiver Ausschlag durch starke Gehirntätigkeit gewesen ist."
Lilana zögerte, um mit dem nächsten Satz fortzufahren.
"Ich fürchte aber, dass wir Zorkon nie wieder so herstellen können, wie er einmal war. Ich denke mir, dass es für ihn fast besser ist, dass er in diesem Tiefschlaf oder Koma bleibt, statt miterleben zu müssen, wie er nur mehr als halbtauglicher Chironian hier sein Leben dahin fristen muss."
Isabel schaute auf. Sie konnte es nicht glauben. Gab jetzt nun auch noch Lilana Zorkon auf?
"Das meinst Du jetzt aber nicht ernst?"
"Oh doch Isabel...
Das Leben hier auf Thulenia ist anstrengend und wie soll er das meistern, wenn er etwa nur mehr einen Teil seines Gehirns richtig verwenden kann oder etwa Teile des Hirns so geschädigt sind, dass er zum Beispiel nicht mehr gehen kann?"
"Lilana... das ist nicht Dein Ernst? Das kannst Du ihm nicht antun, dass Du ihn jetzt auch noch aufgibst."
Das Entsetzen war in Isabels Augen abzulesen. Jeden Moment konnte sie los weinen. Tränen sammelten sich schon in ihren Augen.
"Ihr werdet ihn doch nicht einfach sterben lassen? Noch lebt er!"
"Isabel. Ich muss auch im Interesse der Kolonie denken. Wer soll ihn sonst sein ganzes Leben pflegen. Vielleicht wacht er auch nie wieder auf?"
"Dann mache ich das!" kam sehr entschlossen die Antwort von Isabel.
"Sind wir denn hier schon alle so egozentrisch und gefühlskalt geworden, dass wir jemanden aus unserer Mitte einfach so zur Seite legen? Das kann ich einfach nicht glauben. Nein... NEINN!!!"
"Ich sehe ja, mein Kind, dass Dein Herz am richtigen Fleck ist. Doch darfst Du nicht vergessen, dass Du Dich damit ein Leben lang um ihn kümmern wirst müssen. Das kann durchaus der Fall sein."
"Aber wir wissen es doch noch gar nicht, dass er einen Schaden erlitten hat! Wie kannst Du ihn jetzt schon aufgeben? Ich verstehe das nicht... nein..."
"Isabel... ich habe schon so viele Chironians aufgeben müssen. Weit aussichtsreichere Fälle als Zorkons. Viel schmerzhaftere Fälle..." Lilana schluckte kurz und rang ein wenig nach Luft. Es schien sie nun doch ein wenig mehr emotionell mitzunehmen, als ihre professionelle Kühle und Gelassenheit aussagte.
"Ich habe schon viele sterben sehen... weit qualvollere Tode... habe das Leid erlebt, das etwa ein Stolleneinbruch auf Nyrvulia verursachte. Die Opfer und die vielen, vielen Toten. Oder die hunderten Verletzten und Leichen, die die Massaker der Tusallaker während ihrer Razzien in der Lagern hinterlassen haben."
Lilana wendete sich ab. Sie wollte nicht mehr weiter über dieses Thema reden und schien es sofort verdrängen zu wollen.
"Aber Du bist doch Ärztin Lilana! Wie kannst Du da so abgestumpft sein und deinen Patienten mit so einer rationalen Kälte begegnen? Noch dazu wo Du Zorkon kennst, seitdem er auf dieser verfluchten Welt ist. Wie kannst Du da ihm einfach schon aufgeben?"
"So einfach ist das ja gar nicht Isabel... nur kann ich mir als Arzt kein Mitleid leisten, sonst trifft mich das selbst. Du selbst hast so ein großes Talent für Medizin und mit Patienten umzugehen. Eines wird dir aber sicher im Weg sein. Du würdest mit Deinen Patienten mitleiden und das würdest Du nicht lange durchhalten."
Isabel gefiel die Richtung nicht, in die die Diskussion nun zu verlaufen drohte.
"Das mag schon sein Lilana. Doch ist Zorkon nicht irgendein Patient, sondern mein Halbbruder und ich seine Halbschwester. Ich bin alles, was er noch neben Maldan hat..."
"Glaubst Du Isabel, dass es mir leicht gefallen ist, meine Freundin Natali dahinsiechen zu sehen und auch gar nichts tun zu können, als ihr die Schmerzen zu lindern?"
Lilana gab ein paar Einstellungen in das Monitoring Display ein. Dann wollte sie den Tropf checken, über den Zorkon mit Medikamenten und Nahrung versorgt wurde.
"Ah ich sehe, dass Du den Tropf schon gewechselt hast. Hast Du denn auch die Kanüle richtig angeschlossen?"
Isabel nickte.
"Isabel... das hast Du ausgezeichnet gemacht. Du hast ein großes Talent für die Medizin."
Lilanas Augen wandten sich Isabel zu und als ob sie Isabel beschwören wollen würde, blickte sie ihr tief in die Augen und meinte:
"Weißt Du, ich bin auch nicht mehr die Jüngste und mir kann auch etwas zustoßen. Ich brauche eine Nachfolgerin. Willst Du nicht Ärztin werden? Du hast eine Gabe dafür. Ich sehe das... alleine wie Du mit den Geräten umgehst oder was Du ein ausgezeichnetes Verständnis für Medikamente hast..."
"Nein" sagte Isabel lapidar. "Ich habe kein Interesse mir auch noch von berufswegen eine Gefühlskälte aneignen zu müssen."
Die Enttäuschung und Wut über diese Aussage war Lilana im Gesicht abzulesen. Sie verstand das einfach nicht.
"Isabel, ich verstehe Dich nicht. Willst Du Dein ganzes Leben lang in den Himmel träumen? So dumm kannst Du ja gar nicht sein, dass Du so eine Chance nicht aufgreifen würdest. Ärztin zu werden, ist so ein dankbarer Beruf... ja sogar eine Berufung und nur ganz besondere Persönlichkeiten, wie Du, haben ein Talent für die Medizin. Ich habe es nie so leicht und nie so eine Möglichkeit gehabt, wie Du. Ich habe mir alles schwerst erarbeiten müssen und hatte das Glück auf Nyrvulia unter 10000 begabten chironischen Mädchen von den Tusallakern als Medizinerin ausgebildet und gefördert zu werden. Ich kann Dir Wissen vermitteln, dass sonst niemand mehr hier auf Thulenia hat. Willst Du nicht dieses Wissen weitergeben können?..."
"Nein" kam erneut die Antwort.
Lilana drehte sich enttäuscht um und geht ging wütend Richtung Türe. Da blickte sie sich doch noch einmal um...
"Du musst auch noch zu mir kommen, wegen Deiner Fruchtbarkeitsuntersuchung. Du bist alt genug, um Kinder zu bekommen und wir müssen Dich nun deswegen untersuchen."
"Nein... wieso sollte ich das machen lassen? Ich habe noch nicht vor Kinder zu bekommen und schon gar nicht unter diesen Bedingungen und ohne Liebe und ohne fixen Partner. Vor allem schreckt mich dieser herzlose Umgang unter uns ab. Ich will meinen Kindern sicher keine solche Zukunft antun."
Die Zornesröte stieg Lilana in das sonst so bleiche Gesicht. "Du glaubst wohl, dass Du nun hier überall aus der Reihe tanzen kannst? Isabel, Du bist keine Prinzessin und ob es Dir nun passt oder nicht, wir sind nun mal alle hier und jeder hat seinen Teil dazu beizutragen, dass wir Chironians hier überleben und dass wir auch in unseren Nachkommen überleben. Reiss Dich gefälligst zusammen! Du weisst genau, dass unser Genpool nicht groß genug ist, so dass jede weibliche Chironian Kinder bekommen muss. Sonst verkleinert sich der Genpool und die Chironians würde in ein paar Generationen an schwersten Gendefekten leiden. Willst Du das verantworten?"
Sie blickte Isabel streng an und war sich ihrer Argumente sehr sicher...
"Nein... ohne Liebe und ohne Geborgenheit, werden unsere Nachkommen schon gar nicht überleben. Wenn ich Kinder haben will, dann nur mit einem Mann, den ich liebe..."
Lilana explodierte nun regelrecht. So viel Widerrede war sie einfach nicht gewohnt. "Dir hätte jemand mal ordentlich Disziplin und Gehorsam einbläuen müssen. Meine Liebe! Niemand nimmt sich so viel heraus wie Du. Ich selbst hätte gerne Kinder bekommen und wäre gerne Mutter geworden. Das war mein größter Wunsch auf Nyrvulia. Selbst unter den schlimmsten Bedingungen, die man sich nur vorstellen kann. Doch die Tusallaker haben mir das genommen, haben mich zu einer halben Frau gemacht, in dem sie mich gequält, misshandelt und vergewaltigt haben, bis ich keine Kinder mehr bekommen konnte. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie das ist, zu wissen, dass man keine Kinder bekommen kann. Ich wünsche Dir das nicht... also lass die Untersuchung machen!"
Nun verließ Lilana den Raum fast fluchtartig. Sichtlich wollte sie auch kein weiteres Streitgespräch führen und sich auch an ihre Vergangenheit zu erinnern, tat ihr wirklich weh.

Isabel sah noch für einen Moment hinter Lilana her. Hatte Lilana vielleicht wirklich recht? Konnte es sein, dass Isabel ein Talent für Heilkunde und Medizin hatte? Gekonnt klickte Isabel auf das Display am Kopf des Bettes, um den Status von Zorkons Gehirnaktivitäten über den letzten Zeitraum anzeigen zu lassen. Die Daten machten Sinn für sie. Sie erkannte, wie wenig Aktivität da war. Lediglich die Spitzen ragten wie Berge aus der flachen Linie heraus. "Komisch... Heute Nachmittag. Und kurz am Vormittag." sprach sie sich selbst zu. Dabei erinnerte sie sich, wann sie so undefinierbare Gefühle hatte, wie sie am Equilibriums Abend verspürt hatte. Aber das konnte auch ein Zufall sein.

Isabel seufzte. "Ich möchte nicht wissen, wie das für die nächste Generation wird, für unsere Kinder Zorkon. Ach..."
Doch niemand konnte das hören, niemand eine Antwort geben...

Isabel hätte so gerne jüngere Geschwister gehabt. Aber in der Kolonie war sie selbst eine der Jüngsten. Isabel stellte sich immer vor, Lehrerin zu werden, wie es ihre Mutter Mirona war. Aber noch gab es nur wenig Kinder in der Kolonie. Die älteren Chironians waren zu alt geworden, um noch Kinder zu bekommen und die jüngere Generation sollte bald damit beginnen die dritte Generation an Chironians in die Welt zu setzen.

Aber wie würde es für die nächste Generation werden? So wie für Isabel? Sie lebte oft in ihren Träumen, um den harten Alltag, das monotone Leben, das Eingesperrtsein und die Enge zu ertragen, auf der die Chironians lebten. Streitigkeiten waren fast vorprogrammiert. Es herrschte schon seit Monaten eine bedrückende Stimmung in der Kolonie. Viele hatten sich wohl auseinander gelebt. Kaum jemand hatte die Möglichkeit für sich Freiraum zu schaffen oder ein wenig Abstand zu gewinnen, um wieder einmal durchzuatmen und auszuspannen.

Der Raum erschien Isabel so still, dass sie glaubte, ihre Gedanken wahrnehmen zu können. Wie oft hatte sie sich schon vorgestellt, wie es auf Chironia, dem Heimplaneten der Chironians wohl sein mag. Viel hatte sie bisher nicht erfahren können. In der Datenbank des Boardcomputers waren alle Vermerke auf Chironia, genauso wie auf Nyrvulia und die Geschehnisse, die die kleine Gruppe der Chironians in dieser Lage brachte, passwortgeschützt worden und somit für den Zugriff gesperrt. Wovor sollten die jungen Chironians, die nach ihrer Vergangenheit und ihrer Herkunft fragten, geschützt werden?

Isabel wusste, dass aber etwas Furchtbares passiert sein musste. Sie wusste auch, dass die Chironians auf Nyrvulia versklavt gewesen waren und in Arbeitslagern für eine andere Rasse arbeiten hatten müssen.
Wenn Isabel mit Maldan über Chironia redete, dann erkannte sie aus dem Klang seiner Stimme diese Melancholie und Traurigkeit, die jedes Wort über ihren Heimatplaneten begleitete. Maldan erzählte ihr auch, dass schon seit Generationen niemand mehr wusste, wo Chironia lag. Wie hatte das passieren können? Eine so hohe Kultur, eine so hohe Zivilisation, die über Jahrtausende schon zu Raumflug fähig war, konnte doch nicht ihre eigenen Wurzeln, ihren Heimatplaneten vergessen und verlieren? Die Antwort darauf konnte und wollte niemand geben... Kriege, Bürgerkrieg, Katastrophen, Auswanderung, Vertreibung konnten das nicht erklären. Doch Isabels Phantasie malte sich Chironia genau aus. Von den großen grünen Bergen, den blauen Meeren und Seen und den wunderschönen Städten und Orten. Wie ein Paradies lebte Chironia in ihren Träumen und Vorstellungen weiter und sicher auch in Maldans Gedanken. Doch kann Chironia so ausgesehen haben? Seit der Diaspora der Chironians war doch jeder Kontakt verloren gegangen. Wo war Chironia? Wo? Existierte es überhaupt?

Isabel wusste, dass Chironia schön sein musste. So schön, dass sie während sie sich Chironia ausmalte zu summen begann. Die Melodie gefiel ihr und so begann sie "Me a ae cry blu" zu singen. Das Lied handelte von dem empfundenen Schmerz, den man empfindet, wenn man von einem Geliebten für lange Zeit getrennt ist. Die Melodie war traurig und tröstlich zugleich und Isabel fühlte sich immer ein wenig melancholisch, wenn sie die Verse vor sich hin sang. Sie hatten für sie eine eigene Bedeutung – assoziierten ihr grüne Wiesen, große, schroffe Felsen und Berge, wundervolle, weiße Städte und einen klarblauen, wundervollen Himmel… Und doch musste Chironia noch viel schöner sein, als ihre Phantasie es jemals ausmalen konnte.

Als Isabel vor einigen Tagen am Hauptcomputer nach Liedern gesucht hatte, fand sie zwei seltsame Dateien. Eine Textdatei mit dem Text des Liedes und eine Tondatei, die die Noten beinhaltete. Isabel wusste nicht genau, wo sie die Dateien zu "Me a ae cyr blu" ("Ich habe eine unendliche Traurigkeit") her hatte. Die Suche hatte sie einfach ausgegeben. Die Melodie schien aber sehr untypisch zu sein, irgendwie mystisch und alt, verklärt und ungemein schön. Kaum ein Ton schien in ein ihr bekanntes Tonsystem der Chironians zu passen, auch die Notation war seltsam. Erst als sie "so" ("klingen") drückte, konnte der Computer mit den Noten etwas anfangen und spielte ihr die Melodie vor. Es war schon seltsam. Isabel spielte die Melodie mindestens 20 Mal ab und jedes Mal schien sie ein neues feines Detail zu erkennen.

Als sie ein wenig nachforschen wollte, woher dieses Lied stammte, erhielt sie einen Warnhinweis, dass sie sich in einem passwortgeschützten Bereich eingeloggt hatte. Der Verfasser war unbekannt, lediglich war hier zu lesen "Traditionell und Volksweise aus Gineve-y-mön, Gineve-ÿn, Na?vusea und Vöxzalea". Sie hatte noch nie etwas von diesen Gineve Bergen oder einem Land Gineve gehört, noch schien der Computer darüber Auskunft geben zu wollen. Auch die Suche nach den beiden erwähnten Städten führte sie zu einem Bildschirm, auf dem "Kein Zugriff! Passwort geschützter Bereich" stand.

"...
me ne-ma fon ai nox
xoi me ?ön de te
qa te ne aud me vox?
me voi me van-te"

Isabel liebte diese Stelle, den Schluss. Er gipfelte in einem Crescendo an Gefühlen, die sie gut verstehen konnte. Und Stille ("nox") war es auch, die sie in der Kolonie quälte. Mehr Lachen, mehr Gesang, mehr freundliche Worte, das war es, wonach sie sich sehnte.

Die Zeit verflog. Aus Minuten wurden Sekunden und aus Momenten Bruchteile eines Augenblicks. Die Sonne Thulenias raste gerade zu über den Himmel dem Horizont zu und im Zimmer der provisorischen Krankenstation schien man regelrecht die Schatten mitverfolgen zu können, wie sie immer länger und länger wurden, bis schließlich kein Sonnenstrahl mehr durch des kleine Fenster fallen konnte. „Isabel!“ Isabel schrak auf. „Ja? Hallo? ... Wer ist da?“ Sie hatte das Gefühl, dass sie jemand angesprochen hatte. Da ist doch jemand? Doch im inzwischen dunkel gewordenen Raum war niemand bis auf Zorkon, der in dem Bett lag. „Ach Zorkon! Jetzt höre ich auch noch Gespenster, obwohl niemand da ist.“ Sagte sie leise in Richtung Krankenbett. Diese ungewöhnliche Wahrnehmung hinterließ aber ein mulmiges Gefühl. „Habe ich das jetzt gehört? Oder habe ich mir das jetzt gedacht? Das war doch real?“ Ein Blick durch den Raum schien sie aber zu beruhigen. „Ach“ seufzte sie und lange dauerte es nicht, dass Isabel wieder in ihren Träumen war. Beide Ellbogen tief in das Bett gebohrt, den Kopf auf beide Hände gestützt, saß sie nun an Zorkons Bett.

Im Dunklen war nur noch das fast unmerkliche Heben und Senken der Bettdecke sichtbar. Im grau des Bettes konnte man nur schwer Zorkons flache Atmung wahrnehmen. Isabel konnte es eigentlich nicht fassen, dass ein so starker junger Mann, ihr Halbbruder, so schwach und angreifbar wirkte.

Die Dunkelheit im Zimmer schien Isabels Augen zu ermüden. Auch dass es so still war, machte sie schläfrig und so schloss sie die Augen.

Unmerklich schienen sich die Wände weg zu bewegen. Allmählich befand sich Isabel in einem scheinbar übermässig großen Raum, dessen Wände nicht mehr zu sehen waren. Auch das Krankenbett, die gesamte Einrichtung des Krankenzimmers war auf einmal verschwunden. Selbst der Fussboden war nicht mehr existent. Stimmen klangen aus der Ferne. Viele darunter waren ihr vertraut, doch sie konnte kein Wort verstehen. Es war, also ob hunderte auf einmal reden würden und so konnte sie nichts genaues wahrnehmen.

Da auf einmal hörte sie die Stimme wieder, die sie schon des öfteren gehört hatte. Nun war sich Isabel sicher. Das musste Zorkon sein.

"Isabel! Hilf mir! Bitte!"

Sie konnte es nicht glauben. Wo war sie da und wo war Zorkon? "Hier bin ich Zorkon! Hier!" Aber sie sah nichts. Weder Zorkon noch irgendeinen Anhaltspunkt, der ihr half sich zu orientieren.

"Zorkon, wo bist Du?"

"Hier! Isabel! Hier!" klang es fast von nebenan. Doch wie sollte sich Isabel in dieser Leere bewegen? Sie versuchte es, doch nichts schien sich zu ändern.

"Ich bin hier gefangen Isabel. Ich komme nicht mehr weg!" erklang es erneut verzweifelt aus dem Nichts.

"Zorkon! Ich verstehe nicht, wie Du hier her geraten konntest. Was ist das hier? Wieso kommst Du nicht zu Bewusstsein?"

"Ich kann mich nur erinnern, dass ich meine Mutter gesehen habe, bevor ich im Sturm gestolpert bin und mir der Sauerstoff ausging. Bin ich vielleicht schon tod?"

"Nein Zorkon, Du liegst im Krankenzimmer. Bist aber seit Tagen nicht mehr zu Bewusstsein gekommen. Was hast Du überhaupt da draussen gemacht?"

"Ich wollte..." da wurde seine Stimme stiller und kaum mehr hörbar für Isabel. "Zorkon! Zorkon!" rief sie verzweifelt. "Was ist los?"

Dunkelheit umgab sie immer noch und so sehr sie auch versuchte, Zorkons Stimme zu hören, sie konnte diese nicht mehr wahrnehmen. Doch was sollte sie nun tun?

Sie erinnerte sich an die Zeit vor dem Equilibrium und wie sie sich mit Zorkon gestritten hatte und wie weh ihr das getan hatte, dass er sie aus ihren Träumeien riss und ihre Fantasien zu zerstören versuchte. Isabel wusste aber, dass Zorkon nicht von Grund auf böse war. Gerade der Tod seiner Mutter hatte ihn wohl noch verbitterter gemacht. Da schoss es ihr durch den Kopf, dass Zorkon gerade seine Mutter erwähnt hatte. Er konnte sie doch gar nicht gesehen haben. Wie auch? Natali war vor etlichen Tagen gestorben und nun sollte er sie gesehen haben?

Isabel versuchte sich den Tag von Natalis Tod ins Gedächtnis zu rufen. Den Tag, an dem sie selbst Natalis letzte Atemzüge miterleben musste. Plötzlich verflog die Finsternis ein wenig und Isabel war auf einmal in Natalis Zimmer zurückversetzt. Natali lang in ihrem Bett. Das Gesicht bleich wie das Tuch, das sie zuhüllte und ohne einen Atemzug. Isabel wusste, dass sie tot war und da sah sie Zorkon am Bett knien und mit glasigen, aber abwesenden Augen auf seine Mutter blicken. Es schien alles so real, doch als Isabel Zorkon sagen wollte, dass sie nun an einem besseren Platz ist, konnte sie kein Wort hervorbringen, auch wenn sie es noch so stark versuchte.

War das hier die Welt in der Zorkon lebte? In den Träumen, der Vergangenheit? Plötzlich erfasste sie ein starker Schmerz, sie riss sich von diesem Bild los und dieses verflüchtigte sich auch so schnell wie es gekommen war.

Isabel war wieder in der Leere dieses Raumes. Dunkelheit umgab sie. Doch sie konnte es sich nun ausmalen, wie sie zu diesen Bildern gekommen war. Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, was alles an diesem Tag passiert war, als sich die Monde an einer Position des Himmels zusammenfanden. Sie stellte sich vor, dass sie sich durch die Luftschleuse nach draussen bewegen würde.

Die Leere des Raumes schien zu weichen und die Landschaft Thulenias, ausserhalb der Kolonie lag plötzlich vor ihr. Vor ihr kletterte Zorkon auf einen Hügel.

Isabel versuchte Zorkon zu rufen. "Zo....." doch die Worte blieben unverhallt in ihrem Hals stecken.

Zorkon ging von diesem Hügel wieder herunter. In der Hand trug er eine Kiste. Isabel versuchte den schnellen Schritten Zorkons zu folgen. Doch in dieser seltsamen Realität war das Fortbewegen für Isabel äußerst anstrengend. Sie musste öfters Mal entspannen. Denn um sich zu bewegen, musste sie sich das vorstellen und das war sehr anstrengend.

Zorkon war auf einmal aus ihrer Sicht verschwunden. Irreal wirkte das gleißende Licht der Sonne Thulenias. Der Boden und die Luft flimmerten. Isabel bewegte sich über eine Geländekante und da sah sie Zorkon auf einer weiten Ebene knien. Sie konnte nicht sehen, was er tat. Aber sie nahm seine Gefühle wahr... Er wirkte befreit, lebendig, wie sie ihn nach dem Tod seiner Mutter nicht mehr erlebt hatte. Irgendetwas schien er geplant zu haben und das setzte er nun um.

Doch schien sich alles auf einmal zu ändern. Er blickte fast erschrocken auf. Die Sonne Thulenias war bereits am Horizont verschwunden. Panik war in seinen Augen zu sehen, als er auf Isabel zukam. "Zorkon! Was ist los?" rief sie, doch die Worte verhalten erneut ungehört. Sie wollte ihn aufhalten, doch er rannte durch sie durch... "Ohhh! Was war das?" Nun verstand sie es, sie hatte seine Erinnerungen an diesen Tag gefunden.

Der Wind wurde immer stärker. Sand wehte um sie herum und verschleierte den Blick. Isabel versuchte bei Zorkon zu bleiben, doch das kostete sie enorm viel Kraft.

„NEIN Zorkon! Nein... lauf weiter“ hörte sie plötzlich vor sich, dann einen elektronischen Dauerton. Zorkon rieß sich die Atemmaske vom Gesicht und schleuderte sie weg. Er strauchelte, fiel und blieb regungslos im Sandboden liegen.

"Nein Zorkon! Lauf weiter, steh auf!" rief Isabel verzweifelt. Sie bewegte sich auf ihn zu und wollte ihm aufhelfen, doch das ging nicht. Sie konnte ihn nicht anfassen in diesem surrealen Traum.

Plötzlich richtet sich Zorkon wieder auf. Isabel rief "Ja lauf weiter!"... hörte aber nur Zorkons Gedanken "Isabel? Isabel?".

Da aus dem nichts hörte Isabel eine bekannte Stimme. Natali sprach zu Zorkon. Sie konnte es nicht fassen. Wie war das möglich?

„Zorkon. Ich mache Dir das Equilibrium zum Geschenk. So wie die Monde ihre Kraft konzentrieren, so konzentriere Du auch Deine Suche nach dem Equilibrium. Suche nach dem Einklang zwischen Herz, Gedanken und Kraft. Lass Dir dabei auch helfen Zorkon, auch wenn Du das nicht willst. Ich kenne Dich, Deinen Sturkopf. Du lebst in Extremen. Versuche diese zu mildern und fokusiere Deine Kraft für all die Dinge, die Du erreichen willst. Glaube daran Zorkon... glaube daran...“ Zorkon schrie verzweifelt „Maa!... Maaaaaaa!“... Sein Kopf senkte sich. Zorkon blieb regungslos liegen.

Es wurde immer dunkler. Der Sand, der um sie wirbelte, verschwand und Isabel war wieder in dieser dunklen Leere des Raumes.

Instinktiv wusste nun Isabel, wo sie Zorkon suchen musste. Sie stellte sich wieder das Zimmer von Natali vor. Sie erinnerte sich an die Momente zurück, als sie mit Natali ein letztes Mal geredet hatte. Der Raum änderte sich... da auf einmal sah sie Zorkon. "Zorkon?"...

"Ja... Isabel!" bekam sie nun die Antwort. "Wie kommst Du hier her?"

"Das weiss ich selbst nicht. Du hast mich gerufen. Mehrere Male."

"Aber das ist doch nicht möglich. Ich komme hier nicht mehr weg."

"Ich weiss auch nicht, was hier los ist Zorkon, noch kann ich Dir erklären, wieso ich da bin. Was hast Du eigentlich da draussen in tyn gemacht?"

"Ich habe eine Ebulastaude gepflanzt, damit das Leben nach draussen gebracht wird. Aber woher weisst Du das?"

"Ich habe Deine Erinnerungen erlebt. Und ich denke, die sind auch der Schlüssel, wie Du wieder in die Realität zurückkommst. Ich weiss auch, wieso ich Dich hier gefunden habe. Du lebst zu sehr in der Vergangenheit und kannst Dich nicht von Deiner Mutter lösen. Du siehst ja, sie ist immer noch in Deinen Gedanken und auch wenn sie nicht mehr lebt, so ist sie immer mit Dir. Aber das Leben geht weiter und Du musst Dich von ihr verabschieden."

Zorkon blickte verzweifelt auf Natali hinab. Tränen füllten seine Augen...

Isabel konnte nun nicht mehr, das war einfach zu viel für sie gewesen. Sie wollte noch etwas zu Zorkon sagen, doch da war ihre Kraft am Ende und sie brach zusammen...

Es war morgen geworden in der Kolonie. Schön langsam erwachte das Leben und viele Chironians machten sich daran, an die Arbeit zu gehen. Auch Lilana betrat Zorkons Krankenzimmer, um nach ihrem Patienten zu sehen. Isabel lag am Boden mit Zorkons Decke zu gedeckt und tiefschlafend. "Isabel! Steh auf!" Doch Isabel wurde nicht wach.

Lilana rüttelte Isabel. Doch Isabel wurde immer noch nicht wach. "Kind, was hast Du denn schon wieder getan?" fragte sie sich und wandte sich Zorkons Monitoring Geräten zu. Als sie die Werte der Nacht aufrufen wollte, fuhr sie plötzlich zusammen, als Zorkons kühle Finger nach ihrem Arm griffen.

Zorkon war wieder bei Bewusstsein. Das war für Lilana fast unerklärlich.

Seit langem eine gute und freudige Nachricht für die Chironians. Isabel schlief noch bis zum Abend und träumte von ihrem Chironia.
 
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