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Chironian Story 007: Die Unterwelt (urspr. Die Göttin *)

Romane/Serien · Fantastisches
Unbekanntes lockt. Es lockt so sehr, dass es viele dazu bringt, Spannung und Entdeckungsgeist über die eigene Sicherheit zu stellen. Dieser Kick, diese Anziehung des Neuen, dieser Duft des Abenteuers lässt uns oft Schwellen überschreiten, die uns selbst in Gefahr bringen und uns oft einem, teilweise unbewussten Risiko aussetzen.

Alle großen Entdecker haben oft die größten Risiken auf sich genommen. Wir bestaunen ihre Leistungen. Sie ernten Anerkennung, Ruhm und Ehre für ihnen Mut. Ein Mut, der sie oft an die Grenze des Scheiterns, aber oft auch des Todes gebracht hat. Ist dieses Inkaufnehmen der Gefahr nicht oft arrogant? Ist es nicht Wahnsinn sein eigenes Leben für eine Entdeckung zu riskieren? Dies hat jeder Entdecker für sich selbst zu beantworten. Viele haben aber auch für das genommene Risiko mit dem Leben bezahlt.

Ob nun ein Land zu entdecken, eine Höhle zu erkunden, eine Wüste zu durchschreiten, ein Berg zu erklimmen oder der Weltraum zu erforschen ist, Bedrohungen und Gefahren sind allgegenwärtig. Vernunft und rasches Handeln verhindern oft das Schlimmste in gefährlichen Situationen. Doch lassen sich diese Gefahren immer rationell abschätzen?

Unbekanntes lockt, oder besser gesagt, das Unvorhersehbare lockt. Es lockt auch in Form von neuen Kulturen, neuen Lebensformen, neuen Welten, die es gilt zu entdecken. Welche Risiken erwarten uns dort? Das werden wir nie im Vorhinein wissen...

Die Unterwelt

Rhynia erwachte. Fast erwartete sie, Skaat vor ihrem Bett stehen zu sehn. Seit sie vor vier Tagen wieder in die Kolonie zurückgekommen und fast zusammengebrochen war, hatte ihr Halbbruder sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Skaat war immer schon ein lästiges, kleines Kind gewesen, das die Liebe seiner Schwester gesucht hatte. Und jetzt wollte er natürlich wissen, was in tyn vorgefallen war. Doch sie durfte ihm nicht davon erzählen und um ehrlich zu sein, war Skaat wohl der letzte, dem sie von ihrer Entdeckung berichtet hätte!
Seit drei Tagen nun wartete Rhynia auf eine Gelegenheit, wieder auszubrechen und nach tyn zu gehen. Doch Skaat würde ihr folgen und das konnte sie auf keinen Fall riskieren. Ihre Entdeckerlust und Neugier ließen sie unruhig werden und da sie keine Möglichkeit sah, ihren lästigen Bruder loszuwerden, hatte sie sich wieder intensiv ihren Studien gewidmet, in der Hoffnung, dass Skaat sein Interesse an ihr wieder verlieren würde.
Doch Skaat stand nicht in ihrem Zimmer. Erleichtert stand Rhynia auf und machte sich für den Tag bereit. Sie wand ihre schwarzen, langen Haare in einer Spange zusammen und wusch sich schnell. Ihr Blick blieb am Spiegel hängen. Ein blasses Gesicht mit großen, dunklen Augen sah ihr entgegen. Unter der hohen Stirn glänzten zwei stark geschwungene Augenbrauen und eine zierliche, spitze Nase saß über den fast weißen, dünnen Lippen.
Lange sah sie gedankenverloren auf ihr Spiegelbild. Vor ihren Augen sah sie wieder einmal diese unermessliche Höhle in dem unnatürlichen Licht, dessen Quelle die phosphoreszierenden Steine im natürlichen Fels waren. Rhynia hatte sich die Unterlinge, wie sie die Wesen bei sich genannt hatte, in allen möglichen Variationen ausgemalt und fieberte auf ihre nächste, heimliche Begegnung mit ihnen.
Sie zuckte vor dem Spiegel zusammen, als sie das leise zischen der Tür hörte, die sich öffnete. Ohne sich umzudrehen fragte sie den ungebetenen Eindringling, was er hier wolle.
Skaat betrachtete seine Halbschwester, die ihm den Rücken zugewandt hatte. „Wie geht es dir heute?“
Rhynia verdrehte die Augen. „So, wie jeden Tag, wenn ich dich sehe.“
„Na, dann bist du heute ja wieder einmal guter Laune.“
Rhynia seufzte. „Scheint so“, knurrte sie. „Und meine Laune würde sich deutlich verbessern, wenn ich nicht dauernd deine nervenden Fragen beantworten müsste!“
Skaat schüttelte den Kopf. „Ich mache mir nur Sorgen um dich. Du WEIßT, was Zorkon passiert ist. Verdammt, ich bin froh, dass dir nichts passiert ist, aber was hast du in tyn gemacht?“
„Die gute Luft genossen.“
„Ich meine es ernst.“
„Ich aber nicht.“
„Ich habe ein Recht, es zu erfahren.“
„Das hast du nicht! Das ist mein Leben und du hast NICHT das Recht, darin herumzuschnüffeln.“
„Rhynia… Das hatten wir schon einmal…“
Rhynia unterbrach ihn heftig. „Ja, und nicht nur einmal! Also können wir diesen Teil unseres Gesprächs überspringen und gleich zu dem Teil kommen, in welchem du das Zimmer verlässt und mich in Ruhe lässt!“
„Rhynia, kannst du denn nicht einmal vernünftig sein?“
„Halt du mir keine Vorträge von Vernunft! Mein Leben geht dich auch gar nichts an. Jetzt lass mich vorbei!“ Rhynia drängte sich an Skaat vorbei zur Tür.
„Wohin? Oh, lass mich raten… ins Kolonieschiff… zum Studieren.“
„Ganz genau. Warum gehst du nicht zu Deinem Liebchen Isabel auf die Krankenstation. Sie gefällt Dir doch so gut. Dort lernst Du dann vielleicht, wie man mit Halbtoten umgeht! Das kannst du später vielleicht einmal brauchen!“
Skaat zuckte zusammen. Manchmal hasste er seine Halbschwester. „Du hast einen so verdammt morbiden Humor! Du warst noch nie witzig, aber dein Zynismus wird dir eines Tages noch den Hals brechen!“
„Welchen Hals, wo doch mein Rückgrad schon längst gebrochen ist?“
„Lass deinen verdammten Selbsthass nicht an mir aus!“ Skaat stürmte aus dem Raum.
Rhynia atmete auf. Ein schmerzhafter Stich traf sie ins Herz und das war keine körperliche Beschwerde. Verzweifelt ballte sie ihre Hände zu Fäusten und presste ihre Augen zusammen. Dann holte sie tief Luft, verdrängte ihren Schmerz und verließ ebenfalls das Zimmer.

Auch wenn Skaat zornig auf sie war, würde er bald wieder bei ihr auftauchen. Es hatte also keinen Sinn, jetzt nach tyn aufzubrechen. Resigniert ging sie ins Zentrum der Kolonie – Das große Kolonialisierungsschiff, dass sie alle hier her gebracht hatte, und um welches die äußeren Gebäude der Kolonie unter dem Emitterschild aufgebaut worden waren.
Sie kletterte durch die Luke und befand sich jetzt in dem nach Metall und Kunststoff riechenden Deck des Schiffs. Ischea saß vor dem virtuellen Holoprojektor und vertiefte sich in die Rhynia nicht unbekannten Schriftzeichen der Tusallaker. Ischea, die Programmiererin der Kolonie, hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass ihre Arbeit von Rhynia begleitet wurde, die ihr Leben mit Studien in dem Schiff verbracht hatte und ignorierte das Mädchen wie üblich, was Rhynia nur recht war.
Doch Rhynia hatte diesmal nicht vor, sich neben Ischea am Bordcomputer zu betätigen. Sie ging weiter an ihr vorbei in den Maschinenraum und nahm sich einen der Behälter hier vor. Sie hatte seid ihrer Rückkehr damit begonnen, das Schiff nach brauchbaren Geräten für ihre nächste Expedition nach tyn zu durchsuchen. Die Chironians hatten die ihnen wichtigen Geräte schon längst von Bord gebracht. Es interessierte keinen, was mit den Geräten der Tusallaker passierte. Im Gegenteil – sie wurden eher gemieden. Rhynia wusste nicht genau, was auf Nyrvulia passiert war – die Kolonisten redeten nur ungern über die Zeit vor Thulenia und Rhynia wusste nur aus den Schiffsdaten, was damals passiert war. Tatsächlich waren auch diese Informationen nur spärlich und passwortgeschützt. Und Rhynia hatte nicht vor, Maldan, Ischea oder sonst einen der alten Chironians um das Passwort zu bitten. Selbst wenn sie es getan hätte, wäre es sinnlos gewesen – Maldan hielt es für nötig, die damaligen Ereignisse zu verschweigen, aus welchem unsinnigen Grund auch immer.
Rhynia hatte bereits einen zusätzlichen Sauerstofffilter gefunden, genauso, wie eine Infrarotbrille und zusätzliche Temperaturregulatoren, die sie in ihren Schutzanzug einbauen konnte.
Rhynia war beinahe erleichtert, als sie Skaats aufgeregte Stimme hörte, die nach ihr rief. Sie legte dramatisch den beschädigten Wetterberechner zur Seite und erwartete Skaat ergeben. Sie hatte noch ein kleines, nützliches Metallgerät entdeckt, welches leichte Stromstöße aussandte. Im schlimmsten Fall konnte sie sich damit verteidigen. Skaat stürmte in den Maschinenraum.
„Rhynia! Rhynia, komm schnell! Es ist etwas passiert! Es ist Zorkon…! Er ist aufgewacht! Komm endlich!“
Rhynia sah ihren Bruder ungläubig an. Verwirrt lies sie sich von Skaat an der Hand nehmen und mitreißen.

Die Krankenstation war ein ungemütlicher, steriler Raum, in dem es seltsamerweise immer düster zu sein schien. Isabel saß auf der Bettkante und hielt Zorkons Hand, während Lilana einen Meter daneben stand und unwillig die Chironians betrachtete, die sich um das Bett drängten. Tatsächlich war Zorkon aus seinem Delirium wieder erwacht.
Rhynia sah erstaunt auf den Chironian dort im Bett lag und vermochte ihre Gefühle nicht einzuordnen. Skaat drängte sich durch die Leute auf Isabel und Zorkon zu. Er sah erleichtert und glücklich aus und auch wenn Isabel nur Augen für ihren Halbbruder hatte, war es Skaat eindeutig zufrieden, einfach nur in ihrer Nähe zu sein und sie lachen zu sehen.
Nach ein paar wirren Momenten erkannte Rhynia schließlich ihre Chance. Keiner achtete auf sie und so schnell würde auch Skaat sie nicht mehr belästigen. Sie warf einen letzten Blick auf Zorkon, als müsse sie sich überzeugen, dass es ihm gut gehe und drehte sich um.
Sie schnappte sich ihre Sauerstoffmaske mit dem eingebauten Filter und aktualisierte ihr Datapad. Diesmal würde sie sich nicht mehr verlaufen. Aufgeregt und erleichtert ging sie wieder einmal nach tyn.

Der Wind hatte sich gelegt und der Sand lag unberührt da. Rhynia markierte die Route auf ihrem Datapad. Dieses Mal ging sie an der Felswand entlang, von der sie unweigerlich ins Tal und an ihr Ziel gelangen musste. Thulenias Sonne stand hoch und brannte heiß auf sie herab. Dank ihrer Temperaturregulierung war ihr trotzdem angenehm kühl. Gemütlich wanderte sie an dem Felsgrad entlang. Es hatte keinen Sinn, sich zu stressen und ihre Energien sinnlos zu verbrauchen. Außerdem genoss sie tatsächlich die Umgebung und den Spaziergang! Sie hatte keine Angst mehr vor tyn, denn sie wusste jetzt, dass Thulenia nicht so lebensfeindlich war, wie sie angenommen hatte. Geschützt durch ihren Anzug und ihre Maske, konnte sie sich gefahrlos auf Thulenia bewegen. Und auch wenn ihre Sauerstoffvorräte knapp wurden, wusste sie, dass in den Höhlen genug Luft und Licht war, um ihre Reserven wieder aufzufüllen.
Rhynias Schritt wurde leicht und fröhlich. Sie bedauerte, dass sie den Sand durch ihren Anzug nicht direkt spüren konnte, akzeptierte es allerdings als Preis für ihren Ausflug. Verspielt trat sie hin und wieder die Sandkörner vor ihr weg und summte vor sich hin. Die Melodie eines alten Kinderliedes kam ihr in den Sinn. Tja hatte es ihr oft vorgesungen, doch an den Text konnte sie sich leider nicht mehr erinnern, genauso wie der Rest ihrer Erinnerungen an Tja, ihre Mutter nur spärlich waren. Sie wusste nicht mehr, wie Tja ausgesehen hatte. Die Holobildaufnahmen hatte sie sich nie angesehen. Sie hatte sie bisher für nichts sagend und unpersönlich empfunden. Doch an Tjas Stimme konnte sie sich noch ganz genau erinnern. Wie sie ihr ein altes, chironisches Wiegenlied vorgesungen hatte. Verträumt summte sie die Melodie vor sich hin. Wenn sie wieder in der Kolonie war, würde sie sich die Holoaufnahmen ihrer Mutter ansehen! Die Vorfreude darauf erregte sie und überschwänglich tanzte sie vor sich hin. In der Kolonie hätte sie so etwas nie getan, doch hier draußen war sie frei und ihre Probleme schienen so unbedeutend, wie ihr ihr Leben in der Kolonie erschienen war. Hier draußen waren die Probleme nichtig und ihr Leben akzeptiert. Beinahe bedauerte sie, nicht schon früher nach tyn gegangen zu sein. Ihre Erinnerungen an Tja waren schon lang nicht mehr so schmerzhaft, wie sie immer gedacht hatte. Im Gegenteil, sie war jetzt froh, dass sie Tjas Lied in ihrem Herzen bewahrt hatte. Beinahe schien sie ihre Mutter neben sich zu sehen. Sie konnte sie riechen – den Duft ihrer Haare und den Geruch ihrer Haut.
Sie erinnerte sich an die Augen und an Eindrücke, die sie im Gedächtnis gespeichert hatte, als Tja mit ihr gespielt hatte. Und trotzdem konnte Rhynia sich nicht an Tjas Aussehen erinnern. Das Bild war klar und deutlich, doch das Gesicht war nur dunkel, bis auf die Augen, die ihren eigenen so ähnlich waren.
An Tjas Tod konnte sie sich nur noch Bruchstückhaft erinnern. Sie war gerade mal fünf Jahre alt gewesen und hatte nicht verstehen können, was mit ihrer Mutter passiert war. Der Schmerz, dass Tja nicht mehr da war und dafür ein kleines, lästiges Baby ihre Stelle eingenommen hatte, war groß gewesen. Sie hatte damals gedacht, wenn Skaat nicht gewesen wäre, würde ihre Mutter immer noch da sein und mit ihr spielen. Sie wusste nicht, wo Tja war, nur dass es jetzt Skaat gab und ihre Mutter dafür weg war.
Sie hatte Skaat damals dafür gehasst. Und sie hatte sich an dieses Hassgefühl gewöhnt. Skaat war seid dem immer ein Inbegriff von Unwohlsein und Schuld für sie gewesen. Jetzt erst merkte sie, wie weh sie ihm damit getan haben musste und wie Unrecht sie damit gehabt hatte. Tja hatte diese Geburt auf sich genommen und sie hätte sicher nicht gewünscht, dass Rhynia ihren kleinen Bruder so hasste. Jetzt tat ihr Skaat nur noch leid. Seine heimlichen Gefühle zu Isabel und seine Liebe zu ihr, Rhynia, die er nie erwidert bekommen hatte. Außerdem hatte Skaat im Gegensatz zu Rhynia seine Mutter nie gekannt.
Rhynia sah gedankenversunken auf den Boden. Sie hatte Skaat gegenüber immer schon ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch jetzt wusste sie, dass sie es wieder gut machen konnte. Sie durfte sich nicht auf eine Vergangenheit beziehen, die schon Jahrzehnte zurück lag.
Fast war ihr, als würde Tja sie ansehen. Als würde sie die Fehler ihrer Tochter verzeihen und ihr ihren Segen geben. Glücklich schloss Rhynia die Augen und summte immer noch vor sich hin. Sie lächelte dabei und beobachtete die roten Flecken, die sie durch ihre geschlossenen Augenlieder sehen konnte. Danke, dachte sie sich. Danke, Mutter!
Und die kleinen Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf, als sie das Lächeln Tjas auf sich ruhen spürte…


Sie erreichte den Höhleneingang bei vollem Sonnenschein und mit einem seltenen Glücksgefühl. Fast hätte sie vergessen, ihre Position auf ihrem Datapad zu markieren, doch ihre bevorstehende Aufgabe ließ sie wieder zu sich kommen.
Sie kletterte wieder in den Spalt und betrat das Tor. Sofort war sie wieder von Finsternis umgeben, doch diesmal war sie vorbereitet. Sie setzte sich ihre Infrarotbrille von den Tusallakern auf und betrachtete ihre Umgebung, von der sie jetzt jede Einzelheit in einem rötlichen Farbton wahrnehmen konnte. Fasziniert sah sie, dass die Höhle keineswegs nur der Eingang zu einem Wunder war, sondern auch große Bedeutung für die Kultur der Unterlinge haben musste, denn die Wände waren voll von fremdartigen und schönen Linien und Wandbildern. Hier hatte sie einen Teil der Lösung des großen Rätsels um Thulenia vor sich! Obwohl sie die geschlungenen Linien nicht deuten konnte, konnte sie doch die Wandbilder erkennen und was diese erzählten war gleichzeitig faszinierend wie erschreckend.
Die Malerei war über die Jahre verblasst und die Farben waren nur schwer durch den rötlichen Schimmer ihrer Brille zu unterscheiden und trotzdem waren die Bilder von beeindruckender und hochwertiger Kunst. Die hier erzählte Geschichte führte von dem Höhleineingang weiter in die Tiefe, bis sie endlich die großen Höhlen erreichte. Rhynia folgte der historischen Bildgeschichte Thulenias.

Die Sonne, umkreist von genau dreizehn Planeten. Ein paar Schritte weiter war der fünfte Planet zur Sonne hin noch einmal deutlicher aufgemalt. Er sah aus, wie Rhynia es von den Unterlagen aus dem Bordcomputer her kannte: eine blau-grüne Kugel. Die Farben waren für Thulenia untypisch wenn nicht sogar fremd. Sie bedeuteten nämlich Fruchtbarkeit und Leben, während Thulenia nur verbranntes orange-braun zeigte. Versonnen strich Rhynia über die Malerei. So stellte sie sich Chironia vor. Nahe an der Sonne, fruchtbar und grün, wie in dem Gewächshaus der Kolonie. Rhynia kannte auch die Bilder von Nyrvulia: dunkel und von Smog noch mehr geschwärzt. Kalt und unfruchtbar. Rot und gefährlich.
Doch dieses Bild eines Planeten war tatsächlich in grün und blau gehalten.
In dem nächsten Bild erkannte sie eine Stadt. Hochmoderne Bauten und Wesen, die den Chironians sehr ähnelten. Auch behaarte Wesen, die auf vier Beinen liefen und wesentlich kleiner waren, waren abgebildet. Sie schienen alle zufrieden und in der Blütezeit von Technik und Kultur angelangt zu sein. Die Stadt lag an einem Fluss. Rhynia hatte so etwas schönes noch nie gesehen: ein blaues Band, dass von weißem Schaum durchbrochen wurde. Fast hatte Rhynia das Gefühl, als bewege sich dieser Teil des Bildes tatsächlich. Das Ufer des Flusses war gesäumt mit Bänken und große, Rhynia unbekannte Pflanzen wucherten daneben.
Der Himmel war hoch, klar und blau. Ein blauer Himmel mit weißen Wolken. Kein rotes Licht, kein roter Himmel mit unheilvollen dunklen Schwaden, sondern ein beruhigender, blauer Himmel mit weißen und freundlichen Wolken. Rhynia ging weiter. Die Bewohner des Planeten hatten inzwischen die Raumfahrt entwickelt und es folgten weiter Bilder des Universums und der Technik und Zivilisation. Rhynia konnte sich an den Bildern von blau-grauen Flüssen, hellblauen Himmeln und grünen, satten Pflanzen mit seltsamfarbigen Blüten nicht satt sehen.
Als sie jedoch tiefer in die Höhle eindrang, wurde die Geschichte zunehmend beängstigender. Der Himmel wurde dunkler und die Lebewesen hatten unruhige und nervöse Gesichtszüge. Schließlich hatten die Wesen sich dazu entschlossen, in ihre Raumschiffe zu steigen und den Planeten zu verlassen. Doch sie ließen eine große Anzahl von ihrer Art zurück. Die Gesichter dieser Wesen waren unglücklich, verwirrt und verzweifelt. Die Leute flohen vor einem bevorstehenden Schicksal und ließen ihr eigenes Volk zurück.
Ein weiteres Bild voller Elend. Kinder, die sich angstvoll an ihre Eltern pressten und Leute, die in die Leere starrten, alle verbittert und traurig. Der Himmel war dunkel.
Doch das blieb nicht lange so: bald erhellten kleine Feuer den Himmel. Die Leute stoben jetzt entsetzt in alle Richtungen und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Doch für viele war es bereits zu spät. Der Himmel wurde von einem roten Feuer erhellt und verbrannte. Die zurückgelassenen Bewohner vielen betend zu Boden. Einige von ihnen wurden von den Trümmern, die aus dem Himmel fielen, erschlagen, andere verglühten einige Zeit später in einem grausamen Licht, das die Stadt zerstörte und die Pflanzen verbrannte. Zurück blieb nichts mehr. Nur Ruinen und Sand, bestehend aus der Asche von Pflanzen und Lebewesen. Die Bäche und Flüsse waren leer. Das Feuer hatte sie mitgenommen und nichts zurückgelassen.
Vor der Katastrophe hatte sich ein kleiner Teil der Bevölkerung unter die Erde retten können. Sie hatten überlebt, konnten allerdings nicht mehr nach oben, da die Atmosphäre sie verbrannt oder erstickt hätte. So mussten die Leute hier bleiben und die Höhlen zu ihrer Heimat machen.
Rhynia erkannte das Bild eines Mannes wieder, den sie schon auf früheren Bildern gesehen hatte. Er hatte die Leute in die Höhlen geführt und jetzt war er dabei, seinen Leuten Anweisungen zu geben, eine neue Heimat zu schaffen. Sie schlugen das Gestein mühevoll klein und bauten sich somit Platz und Wohnungen. Als der Mann schließlich starb, gab es unter der Erde bereits ein Heim für die Überlebenden der Katastrophe. Pflanzen, die sie gerettet hatten und die hier unten für Sauerstoff und leben sorgten, waren gesetzt und wurden mit dem Wasser eines großen, unterirdischen Sees getränkt. Die Steine, die Rhynia schon kennen gelernt hatte, waren der Lichtspender.
Schließlich waren Generationen seid dem Meteoriteneinschlag, der die Atmosphäre verbrannt, und ihr den Sauerstoff entzogen hatte, vergangen. Ein Tempel wurde errichtet, ein religiöser Führer, der den Platz im Namen ihres ehemaligen Retters einnahm, wurde ernannt und das Leben war hart und qualvoll. Die Zeit beugte die Wesen schließlich und ließ sie zu dem werden, was Rhynia als die Unterlinge kannte – Nachfahren der ursprünglichen Bewohner Thulenias.
Man sah Hochzeiten, bei denen sich Mann und Frau ein Band um die jeweils rechte Hand des anderen band, als Zeichen des Zusammengehörens. Bilder von Geburten und Begräbnissen.
Ein Bild entsetzte Rhynia besonders. Es stellte den Tempel dar, den sie schon kannte, und der einen Großteil der Höhlen einnahm. Der Hohepriester stand davor. Die Unterlinge verneigten sich alle vor ihm, während eine nackte Frau sich vor ihm auf dem Boden wand. Ihre Hände waren auf den Rücken gebunden, so dass sie sich nicht wehren konnte. Ihre rechte Hand zierte noch immer das Band einer Ehe. Der Hohepriester hielt eine rituelle Klinge in Händen, mit der er hoch aufgerichtet vor der Frau stand.
Rhynia konnte ihren Blick nicht von dem entsetzlichen Schauspiel lösen, dass hier festgehalten worden war und sie erkannte immer mehr Einzelheiten. Der Boden, auf dem die Frau lag, war bereits rot von eingetrocknetem Blut. Die Haut der Frau war von Striemen gekennzeichnet und ihre Augen waren rot vor Angst und Scham. Die Anhänger des Hohepriester, die alle vor ihm knieten, warteten ergeben und gespannt auf den Tod der Frau. Die Augen des Priesters waren fanatisch weit geöffnet und eine kranke Befriedigung schimmerte darin. Ein wenig Abseits erkannte man den Ehemann der Frau, der dasselbe Band an seinem Handgelenk trug, wie sie. Er kniete, wie all die anderen Unterlinge vor dem Hohepriester und wartete nur fanatisch auf die Hinrichtung seiner Frau.
Rhynia konnte das Bild der Opferung nicht länger ertragen und ging weiter. Was brachte Wesen nur dazu, jene aus ihren eigenen Reihen zu töten? Sie konnte es einfach nicht verstehen. Deshalb ging sie weiter.

Endlich endete die Reihe der Wandmalereien und unverständlichen Schriftzeichen und Rhynia gelangte langsam wieder an den Lichtschein der seltsamen Steine. Je heller es wurde, desto vorsichtiger bewegte sie sich weiter. Bald hatte sie auch ohne ihre Brille wieder genug Licht, um ihre Wanderung durch die Höhlen fortsetzen zu können. Sie blieb stehen, damit sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnen konnten. Sie konnte nicht mehr weit von den inneren Höhlen entfernt sein, deshalb schlich sie jetzt an der Wand entlang. Sie wollte nicht, dass sie wegen einer Unachtsamkeit entdeckt wurde. Rhynia schauderte. Sie hatte die unterirdische Stadt schon einmal gesehen, doch hatte ihre Erinnerung sie betrogen. Sie schien ihr dieses Mal noch viel größer und wundervoller, als beim ersten Mal. Die Häuser waren wahre Kunstwerke, welche die Erbauer mit Stolz gefertigt hatten. Rhynia lag wieder auf der Plattform flach auf dem Boden und sah von oben auf die Stadt herab. Ihre scharfen Augen erkannten, dass auch die Wände der Höhle mit kunstvollen Wandmalereien verziert waren. Sie sah fremdartige Wesen mit Schwingen, die in der Luft festgefroren schienen. Der Maler hatte nahezu photorealistische Bilder hier verewigt. Und doch waren diese farbenfrohen Geschöpfe so unbekannt, dass Rhynias Verstand nicht begreifen konnte, wie sie so echt und doch so unwirklich zugleich wirken konnten. Wahrscheinlich haben die Unterlinge diese Bilder gemalt, damit sich auch spätere Generationen daran erinnern können, was einst auf Thulenia lebte, dachte sie bei sich. Es wäre interessant, sie aus der Nähe betrachten und ihre Physiognomie studieren zu können. Der riesige Tempel, der das Zentrum der Stadt bildete, war sowohl das größte als auch das prächtigste Bauwerk. Statuen, ebenfalls aus dem Fels fein säuberlich herausgearbeitet, standen hoch auf den Zinnen des Gebäudes. Die leuchtenden Steine, die die Häuser allesamt willkürlich zierten, waren hier fein säuberlich heraus gebrochen und mühevoll in Symbolen und Mustern wieder eingearbeitet worden. Die Moose und Blattgewächse wucherten hier nicht wild und ungepflegt, wie bei den gewöhnlichen Bauten, sondern waren zurechtgestutzt und symbiotisierten mit den Malereien, die den Stein zierten.
Plötzlich verließ einer der Unterlinge den Tempel. Sein Rücken war leicht gebeugt, doch er schien einen majestätischen Gang zu haben. Seine Kleidung bestand aus einem langen Rock aus Textilfasern, ähnlich dem Leinen und einem lässig, langem Hemd aus demselben Material. Die Farben dieser Kleidung waren wie die Malereien farbenfroh und aufheiternd, während die Miene des Unterlings im Gegensatz dazu eher bekümmert wirkte.
Der junge Mann traf auf weitere seiner Rasse. Deren Kleidung war nicht annähernd so bunt, wie die des Mannes. Er schien also eine hohe Position in der Gesellschaft einzunehmen. Dieser Verdacht bestätigte sich Rhynia, als die Unterlinge, sobald sie den Mann sahen, auf die Knie fielen und erst wieder aufstanden, als er ein paar Meter an ihnen vorbei gegangen war. Rhynia konnte dieses Verhalten nicht verstehen. In der Kolonie hatten sie Maldan zwar immer als Führer akzeptiert, doch er war trotzdem immer einer der ihren gewesen und hatte sich nie über die Chironians gestellt. Rhynia konnte sich keinen Grund ausmalen, der denkende Wesen dazu veranlasste, ihren Führer so zu behandeln. Doch während dieser Überlegungen verließ ein weiterer, wesentlich älterer Mann den Tempel und ging schnellen Schrittes über den Hof des Tempels. Seine Gewänder waren noch länger, als die des ersten Mannes und in ihnen schimmerten nicht nur Farben wie rot oder grün, sondern auch Metalle wie Kupfer oder Gold. Offensichtlich gaben diese Farben Auskunft über den gesellschaftlichen oder politischen Rang der Unterlinge. Wieder etwas, das Rhynia sich nur schwer vorstellen konnte. In der Kolonie wusste jeder, wer der Führer war. Maldan benötigte keine besonderen Merkmale, nur um respektiert zu werden.
Der ältere der beiden Männer schien zufrieden zu sein. Er sah dem jungen Mann nach, der bald aus Rhynias Blickfeld verschwunden war und nickte selbstgefällig. Die Unterlinge wagten nicht, wieder aufzustehen, bevor der Mann wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Rhynia fluchte. Sie hatte gewusst, dass sie etwas vergessen hatte! Sie hatte zwar ihr Datapad, mit dem sie Notizen anfertigen konnte, aber ihre Kamera lag noch in ihrem Zimmer. Sie konnte diese Welt heute nicht für später in der Kolonie festhalten. Deshalb beschloss sie, wieder in die Kolonie zurückzukehren. Sie markierte noch einmal ihre Position am Datapad und ging.

Er hatte etwas von seinem Zimmer aus gesehen. Deshalb war er nach draußen gegangen. Sein Vater dachte wohl, er würde nach draußen gehen, um seine Machtposition auszukosten. Doch es war ihm egal, wie wichtig er hier unten war. Er träumte nur davon, dass sie irgendwann einmal ein besseres Leben wieder auf der Oberfläche führen konnten.
Er ging gemächlich durch die Stadt, um sich nicht verdächtig zu benehmen. Natürlich sah sein Vater ihm zu. Das tat er nämlich immer.
Der Mann erreichte die Treppen nach oben. Er war sich sicher, auf der Plattform etwas bemerkt zu haben. Vorsichtig schlich er nach oben. Und da sah er sie. Ein großes, schlankes Wesen mit dunklen, langen Haaren und tiefen Augen. Erschrocken presste er sich wieder an die Wand. Sein Herz jagte nervös und er schwitzte. War das die Göttin, auf die er gewartet hatte? War dieses wundervolle, so wunderschöne Wesen die Gottheit, die sie alle von diesem Elend unter der Erde befreien und wieder nach draußen ans Licht führen konnte?
Als er wieder zu dem Wesen hinsah, drehte sich dieses gerade auf dem Absatz um und verschwand in der Dunkelheit. Enttäuschung machte sich in ihm breit und Unglauben. Hatten seine Phantasien ihn jetzt schon am helllichten Tag eingeholt?

Vergnügt erreichte Rhynia die Kolonie. Eine beinahe göttliche Freude hatte ihr Gemüt erfüllt. Als Skaat sie endlich wieder fand, summte sie gerade wieder die Melodie des Kinderliedes vor sich hin. Sie hatte gerade die alten Holobilder ihrer Mutter entdeckt und saß verträumt auf dem Bett. Skaat sah sie fast erschrocken an. Er konnte das Bild, das er hier sah, nicht glauben: Seine Schwester Rhynia lag locker auf ihrem Bett, sah sich eine Holoaufnahme von Tja an und summte dabei versonnen vor sich hin. Endlich hatte er sich von seinem Schrecken erholt und ging auf Rhynia zu. Sie blickte auf und lächelte ihn tatsächlich an.
„Hast du schon einmal bemerkt, wie schön unsere Mutter war?“
Skaat schwieg nur verdutzt. Rhynia sah ihn kurz verwirrt an. Dann lachte sie. Skaat konnte es nicht glauben und stand nur mit offenem Mund da. Rhynia sah ihn nur glücklich an und wandte ihren Blick dann wieder auf ihre Mutter. Sie hatte nicht vor, sich zu erklären sondern wartete auf Skaats Reaktion.
Skaat blieb noch ein paar Momente stehen.
„Du siehst genauso aus, wie sie!“
Damit beugte er sich endlich an den Bettrand neben seine Schwester und betrachtete mit ihr die Aufnahme von Tja.

Skaat war glücklich. Alles schien sich zum Guten gewendet zu haben: Zorkon war aufgewacht, Isabel war darüber so glücklich gewesen, dass sie mit ihm, Skaat, endlich wieder geredet hatte und Rhynia hatte ihn endlich in ihr Herz geschlossen. Es konnte nichts Schöneres geben!

Rhynia lächelte, als Skaat sie verlassen hatte. Sie war froh über ihr eigenes Verhalten und sie hatte mit Skaat Frieden geschlossen. Tja hielt ihre schützende Hand beruhigend über ihre Tochter und Rhynia fühlte sich beschützt und zufrieden wie schon lange nicht mehr. Und das hatte sie alles ihrem gewaltigen Fund zu verdanken. Rhynia konnte vor Aufregung und Vorfreude kaum schlafen. Morgen würde sie wieder dorthin gehen und Holoaufnahmen von der Unterstadt machen. Diese konnte sie dann nach ihrer Rückkehr in Ruhe studieren und lief nicht Gefahr, von den Unterlingen entdeckt zu werden.
Glücklich lächelnd schlief Rhynia ein und träumte von einem Leben mit ihrer Mutter Tja und ihrem Bruder Skaat an ihrer Seite.

Skaat verließ das Zimmer seiner Schwester verwirrt. Noch nie war er ihr so nahe gekommen. Fast hatte er Angst, dass die melancholische Stimmung Rhynias nur die Fassade für einen bevorstehenden Selbstmord war. So sehr Skaat sich auch über den plötzlichen Sinneswandel freute, war er sich immer noch nicht sicher, ob es anhalten würde.
Ohne es gemerkt zu haben, stand er plötzlich vor Isabels Kammer. Er wollte sich schon umdrehen und wieder gehen, überlegte es sich dann aber doch anders. Er musste sich mit jemandem Aussprechen und Isabel war ihm bisher immer als vertrauenswürdig und liebenswert vorgekommen. Also klopfte er an und setzte sich neben Isabel auf ihr Bett, als sie ihm öffnete. Ihre Augen leuchteten seit Tagen das erste Mal wieder. Ihre Sorge um ihren Bruder hatte sie altern lassen doch irgendwie hatte Zorkons Aufwachen es geschafft, das Leben in Isabel wieder zu entfachen. Bin ich denn jetzt der einzige, dem es nicht gut geht?, dachte er sich verwirrt. Seit wann bin ausgerechnet ich so pessimistisch? Sollte ich mich denn nicht mit Isabel und Rhynia und allen anderen freuen?
Isabel sah ihn erwartungsvoll an, aber Skaat erkannte sofort, wie nervös und gut gelaunt sie war. Er brachte es einfach nicht fertig, mit ihr über seine Besorgnis zu reden. Stattdessen sah er sie nur lange an und lächelte.
„Ich freue mich für dich und deinen Bruder…“ Skaat hätte sich am liebsten geohrfeigt. Konnte er denn nichts Konstruktives daherbringen? Doch Isabel schien ihm seine Verwirrtheit nicht übel zu nehmen. Sie lachte nur, warf sich übermütig im Bett hin und her und umarmte ihn sogar kurz. Skaat blieb der Mund offen stehen.
„Oh, danke, Skaat! Ist es nicht herrlich? Und weißt du, ich habe ihm geholfen! Ich habe ihm geholfen, wieder zu uns zu finden. Ich weiß zwar nicht, wie ich es gemacht habe, aber ich bin zu ihm in meinen Traum gekommen und ich habe ihm geholfen! Und jetzt ist er wieder da!“
Ihre Stimme war so rein und voller Ehrlichkeit, dass Skaat nur weiter still da saß und sie ansah. Isabel bemerkte seine Verlegenheit. Sie wurde plötzlich wieder ernst. „Deshalb bist du aber nicht gekommen?“
Skaat schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich.“
„Und warum dann?“
Skaat sah Isabel lange an. Dann nahm er ihren Kopf in seine Hände und versuchte, die Tiefe ihrer Augen zu ergründen. Es gelang ihm nicht. Isabel ließ sich seine Berührung gefallen. Sie blieb ruhig sitzen und hielt den Blickkontakt stand, bis Skaat es nicht mehr aushielt, sie losließ und wieder auf den Boden starrte. Isabel blieb still sitzen und wartete, bis Skaat anfing. Es dauerte einige Minuten, bis er sich dazu entschließen konnte, doch sein Blick war weiterhin fest auf den Boden gerichtet.
„Du weißt doch, dass meine Schwester wie Zorkon nach tyn gegangen ist.“
Isabel nickte nur, schwieg aber weiter.
„Sie ist heute wahrscheinlich wieder dort gewesen. Ich habe sie verloren, als das mit Zorkon passiert ist und ich habe ehrlich gesagt nicht mehr an sie gedacht, bis sie schließlich fort war. Ich wusste, dass sie wieder hinaus wollte, aber sie hat mich nie in ihr Geheimnis eingeweiht. Irgendwas muss ihr da draußen passiert sein. Sonst würde sie mir doch erlauben, sie zu begleiten, oder? Sonst würde sie doch nicht noch einmal weg wollen…“ Wieder schwieg er. Isabel legte ihren Arm auf seine Schulter, blieb aber ansonsten still.
„Also ist sie heute wieder weg. Aber diesmal ist sie zurückgekommen. Und… und sie war so…“ Skaat suchte ein paar Momente nach dem richtigen Wort. Jedoch viel ihm kein geeignetes ein.“… so anders“, sagte er schließlich. „Du kennst Rhynia doch. Du kennst sie doch wie jeder in der Kolonie. Verschlossen und unfreundlich. Nie sieht man sie lachen und die meisten Chironians meiden sie. Aber als ich sie heute fand, da lachte sie! Und sie hat eine Holoaufnahme von unserer Mutter angesehen. Das hat sie zuvor nie gemacht! Sie war fröhlich und sie war freundlich zu mir. Und sie hat mich aufgefordert, mit ihr über Tja zu reden! Ich… ich liebe Rhynia. Und deshalb macht mir ihr verhalten Angst. Ich habe Angst davor, dass etwas passiert ist, das ich nicht verstehen kann. Ich habe Angst, dass sie Abschied nimmt, verstehst du?“ endlich sah Skaat Isabel wieder in die Augen. Doch er konnte sie nur verschwommen sehen. Seine Augen waren glasig und er musste blinzeln. Isabel strich ihm eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und diesmal hielt sie das seinige mit ihren Händen fest.
„Wenn es dich beruhigt, werde ich mit Rhynia reden.“
Skaat lächelte schwach, wischte sich die Augen trocken und sah dann Isabel wieder an. Er schämte sich beinahe, seine Schwäche vor ihr eingestanden zu haben. Doch das Mädchen schien ihn deshalb nicht zu verachten. Nein, es sah ihn sogar mit noch mehr Zärtlichkeit an, als er es zuvor jemals gesehen hatte. Sein Gesicht näherte sich dem ihren und sie schloss voller Erwartung die Augen. Als sich ihre Lippen berührten, wurde Skaat heiß und er drückte Isabel fest an sich, damit sie ihm nicht entglitt.

Isabel klopfte an Rhynias Zimmer. Das Mädchen antwortete nicht. Tatsächlich war Rhynia schon früh aufgestanden und hatte die Kolonie in aller Eile verlassen. Isabel klopfte noch ein paar Mal an die Tür, bis sie schließlich aufgab und überlegte, was sie tun sollte. Sie hatte Skaat versprochen, mit seiner Schwester zu reden und ihr Geheimnis zu ergründen. Doch konnte sie doch Rhynia nicht nach tyn folgen. Sie wollte auch nicht zurück zu Skaat und ihm erzählen, dass sie zu spät gekommen war. Sie wollte ihm nicht wehtun. Er war so ein wunderbarer Mensch. Und vielleicht empfand Isabel tatsächlich mehr für ihn, als nur Freundschaft. Der Kuss war so intim und innig gewesen, dass ihr immer noch heiß wurde, wenn sie daran dachte. War es denn in Ordnung, dass sie Skaat so nahe gekommen war? Durfte sie es denn? Isabel schüttelte ärgerlich den Kopf. Natürlich durfte sie es! Sie hatte Lilana doch selbst von ihrem Glauben an die Liebe und ihrem Bedürfnis danach erzählt. Warum sollte es nicht Skaat sein, der ihr immer so lieb zur Seite gestanden hatte? Wieder schweiften ihre Gedanken zu Skaat. Seine schönen, dunklen Augen, die immer Ernst und traurig ein wenig traurig aussahen. Und gestern, als er zu ihr gekommen war in ihrer größten Freude und sie nie hatte belasten wollen. Gestern, als er ihr schließlich seine Liebe zu ihr demonstriert hatte. Ja, gestern war etwas Besonderes gewesen! Isabels Mundwinkel zogen sich nach oben und sie lächelte freudig. Tatsächlich brachte sie dieses Lächeln lange Zeit nicht von ihrem Gesicht.
Sie hatte sich entschlossen, ihren Vater Maldan aufzusuchen und mit ihm über Rhynia zu reden. Er war so weise… er MUSSTE einfach wissen, was zu tun war. Seufzend und noch immer lächelnd machte sich Isabel auf, um Maldan zu besuchen.
Der alte Mann saß wieder einmal im Gewächshaus, in das er so viel Arbeit gesteckt hatte und das jetzt so großartig und schön blühte und duftete. Er lächelte seine Tochter an. Seine Augen schienen müde und er war über die Jahre sehr gealtert. Die Verantwortung über so viel Menschen lastete auf ihm schwer. Trotzdem glitzerten seine Augen schelmisch, als er das Lächeln auf dem Gesicht seiner Tochter sah. Isabel wurde rot vor Verlegenheit und trat nervös von einem Bein auf das andere. Noch einmal lächelte Maldan sie milde an und bot ihr an, neben ihm Platz zu nehmen. Isabel setzte sich zu ihm auf den erdigen Boden. Sie seufzte und konzentrierte sich dann wieder auf ihr Anliegen.
„Vater?“
„Was ist denn passiert, Isabel?“
„Nun ja, ich komme mit einer Bitte von Skaat – du kennst Skaat?“
Maldan nickte abwesend. „Natürlich kenne ich ihn… Was ist denn los?“
Isabel sah verlegen auf den Boden. Der Gedanke an Skaat machte sie nervös. „Nun ja… seine Schwester Rhynia…“
Als Isabel nicht weiter sprach, sah Maldan sie auffordernd an. „ja?“
„Nun ja… sie ist doch genauso, wie Zorkon nach tyn gegangen… und du weißt, was mit meinem Bruder passiert ist!“
Maldan zuckte. Der Gedanke an Zorkon schien ihn zu schmerzen, auch wenn sein Sohn wieder erwacht war. Ein wenig gereizt forderte er Isabel auf, weiterzureden.
„Naja… sie war inzwischen zweimal in tyn und ist heute schon wieder draußen!“
Maldan sprang erregt auf. „Wie kann sie nur so egoistisch sein? Wie kann sie uns nur so im Stich lassen? Hat sie denn gar kein Pflichtgefühl? Will sie sich etwa umbringen? Die kann etwas erleben, wenn sie zurückkehrt! Das wird sie lehren, uns so zu verschmähen… Geh jetzt, Isabel! Danke für deine Information. Ich muss jetzt nachdenken.“
Isabel senkte traurig den Kopf und verließ ihren Vater. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie das richtige getan hatte, als sie ihm von Rhynia erzählt hatte.
Doch weder sie noch Maldan, Skaat oder auch nur irgendein anderer Chironian konnte sich vorstellen, aus welchem Grund Rhynia tatsächlich nach tyn ging. Wahrscheinlich hätte es das Leben in der Kolonie tatsächlich verändert, hätten sie es nur gewusst, doch offensichtlich waren sie noch nicht bereit, eine solche Tatsache in Betracht zu ziehen.

* Kommentar der Autoren:

Diese Chironian Story war ursprünglich unter dem Titel Die Göttin entstanden. Als die Geschichte aber an Inhalt gewann, entschieden Ginevra und ich uns, die Geschichte umzubenennen und einen neuen Prolog zu schreiben. Die Göttin wird nun der zweite Teil dieser Geschichte werden. Mehr dann in Chironian Story 009: Die Göttin
 
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Kommentare  

so... wawa hat mich gebeten, hier einmal zu antworten:
erstmal freut es mich besonders, dass ein ehemaliger chironian persönlich und ohne großen anreiz auf diese stories gestoßen ist, die wir hier aufgezogen haben! (und nur damit du es weißt, duke - so eine großartige "dame" bin ich auch wieder nicht ;) )
zu deiner frage: ist ganz berechtigt - denn genaugenommen ist das hier nicht mehr "die göttin", sondern wird umbenannt in "die unterwelt" - was mein fehler war: ich konnte einfach nicht aufhören, die story auszubauen, sodass sie immer größer und größer wurde und schließlich nicht mehr in zwei teilen platz hatte (die erst erscheinen werden) - also haben wir beschlossen, das ganze auf drei stories zu erweitern und davon den zweiten teil mit der "göttin" abspielen zu lassen... damit nicht alles zu überfüllt in einer story drinnen steckt eben... keine sorge, die göttin selber wird noch früh genug kommen ;)

zu Nera: du hast vollkommen recht, dass wir zur zeit viel zu negativ sind, doch ich persönlich interessiere mich sehr für psychologie und versuche mich auch in die chironians hineinzuversetzen... für mich ist also alles, was hier sozusagen passiert, zumindest mental gesehen realistisch - denn anders kann ich mir nicht vorstellen, in einem käfig zu sitzen und nicht wegzukommen... aus diesem grund hat wawanee sich auch einen ganz besonderen plot, der zwischen den unterland-stories geschoben wird, in bearbeitung, der die kinderwelt der chironians behandeln wird und somit das ganze ein wenig auflockern...

greetings und danke an eure kommentare!


Ginevra von Ginevra & Wawanee (01.07.2004)

Hal-te Di! Seit langem habe ich wieder einmal ein altes
Bookmark angeklickt. Sicher schon 3 Jahre alt und was
sehe ich da - das Chironian Forum, meine Galaxywars
Heimat lebt immer noch. So habe ich gleich mal zu
suchen begonnen, was es denn noch so alles über die
Chirons im Netz gibt und bin hier auf Eure Geschichten
gestoßen. Mir gefallen die Geschichten (hab mal drei
gelesen) wirklich gut. Ich bin da aber ein wenig
voreingenommen, weil ich doch noch mit Wawanee
zusammengespielt (Moin Wawa :-) ) habe. Der mir
unbekannten, talentierten Dame an dessen Seite Wawa
schreibt, kann ich nur sagen, "Mach weiter so!" Halt den
Wawa ein wenig im Zaum - das braucht er :-). Ich hätte
aber auch noch eine Frage zu dieser Story. Wieso heisst
sie "Die Göttin"? Gibt es da eine Fortsetzung oder wie ist
der Inhalt der Einleitung zu verstehen? So ich lese mal
weiter - Duke


Duke (08.06.2004)

HI! Ich habe mir nun alle Geschichten durchgelesen und ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht. Ein wenig gefällt mir die Stimmung nicht. Diese negative, düstere Aussicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass das durchaus so sein kann, wenn man sein ganzes Leben auf solch engen Raum eingesperrt ist. Konflikte werden hier natürlich viel intensiver ausgetragen. Also macht weiter so! Ich hoffe, dass alle die Euch runterstimmten, auch mal sagen wieso. Finde ich nicht fair! Ihr macht das wirklich gut. Bis bald mit einer hoffentlich neuen Story zum Weiterlesen ReadU Eure Nera

Nera (25.05.2004)

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