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25 Seiten

Chironian Story 009: Die Göttin

Romane/Serien · Spannendes
Die Göttin

Prolog

Die Basis für jede Gesellschaft besteht aus einem gemeinsamen Glauben. Es gibt kein Volk, dessen Lebensweise nicht von Religion bestimmt wurde. Auch wenn der Aberglaube von Wissenschaft und Technik abgelöst werden konnte, sind gewisse Richtlinien und Regeln des Zusammenlebens immer noch von der Religion bestimmt. Der Glauben an Übersinnliches im Zusammenhang mit den oft erschreckenden Kräften der Natur ist in den meisten Kulturen erhalten geblieben. Außerdem bleibt die Frage nach dem Tod; ein wichtiges Merkmal für Religion und Kultur. Wie man mit dem Sterben umgeht und wie man es erwartet ist oft ausschlaggebend für ein Volk.
Doch auch wenn die rationale Technik die Hauptrolle in der Kultur übernimmt und damit die Religion in den Hintergrund drängt, bleiben die Traditionen und Gesetze erhalten und ein Zusammenleben ist weiterhin möglich.
Die Möglichkeit zum Erforschen, ermöglicht der Wissenschaft Durchbrüche, während gefährdete und kleine Völker in ihrer beengten Atmosphäre oft zu Aberglauben neigen. Die Gefahren, der sie von der Natur her ausgesetzt sind, und die Unfähigkeit, sie zu erforschen sind Auslöser für Aberglauben und Ängste, gegen die sie sich nicht anders zu wehren wissen, als Götzen anzubeten und mit Opfern zu besänftigen. Manchmal auch mit Blut…


Die Göttin

"Warum hast du das getan?" Maldan sah Rhynia mit hochrotem Gesicht an. Eine große rote Ader pulsierte mitten auf seiner Stirn. Für einen kurzen Moment hatte Rhynia die Illusion, dass die Ader platzen würde, Blut überall herum spritzte und Maldan daran krepieren würde. Bei diesem Gedanken musste sie dümmlich grinsen.
"Ich wusste gar nicht, dass ich Ausgehverbot bekommen habe?"
Die Ader schwoll, soweit das überhaupt möglich war, weiter an. ...die Chironians würden zu spät kommen, und dieser unangenehme Mann hier würde es Rhynia verdanken, falls sie ihn irgendwie helfen würde. Und das würde sie sich noch gut überlegen!
Rhynia wurde von Maldan jäh aus ihren Gedanken gerissen.
"Hast du denn gar kein Verantwortungsbewusstsein?“
Sie schüttelte ihren Kopf.
"Nein, offensichtlich habe ich das nicht!" Maldan seufzte schwer. Plötzlich sah sein Gesicht nicht mehr hässlich und aufgebläht, sondern nur noch alt aus. Von dem großen Helden, den die Chironians immer priesen, war nichts mehr zu sehen. Um genau zu sein, war er für Rhynia nie dagewesen. Er war nur ein alter, eingebildeter Mann mit der Macht über die Kolonie.
"Hast du denn nicht mitbekommen, was mit Zorkon passiert ist?" Rhynia wich einen Schritt zurück und starrte Maldan gehässig an.
"Wenn er sich dort draußen umbringen lässt, kann ich doch nichts dafür!" Maldan zuckte zusammen. Er hob seine Hand und sah für kurze Zeit so aus, als würde er Rhynia ins Gesicht schlagen. Als er sich beherrschte und die Hand wieder zurückzog, erschien ein gefährliches Lächeln auf Rhynias Gesicht. Maldan seufzte schwer und versuchte, den Fehler wieder gut zu machen:
"Rhynia, ich weiß nicht, warum Zorkon nach tyn gegangen ist, aber auch mein Sohn hat seine Verantwortung gegenüber der Kolonie und gegenüber uns allen vernachlässigt. Ich werde es ihm nicht durchgehen lassen. Ich werde auch Zorkon…" weiter kam Maldan nicht, denn Rhynia unterbrach ihn ruhig.
"Was? Bestrafen?"
"Ich werde mit ihm reden."
"Glaubst du wirklich, er würde auf dich hören? Auf jemanden, der sein ganzes Leben hinter Wänden verbracht hat und einer Frau nachtrauert, die er getötet hat?" Maldan sah erschüttert aus. Erregt lief er in seinem Zimmer auf und ab, um den Drang, Rhynia zu schlagen, erneut zu unterdrücken.
"Ich habe nie jemanden umgebracht" sagte er ruhig, doch seine Stimme zitterte.
"Ach ja? Hättest du ihr denn wirklich nicht helfen können? Wäre es so eine Unmöglichkeit gewesen, Thulena zu retten?"
"Ja, das wäre es. Sprich du nicht von Ereignissen, die vor deiner Zeit passiert sind, du unverschämte Göre! Du benimmst dich, wie eine aufmüpfige Talshin!" Rhynia merkte, dass sie Maldan aus der Fassung gebracht hatte und lächelte jetzt gehässig.
"Gut, dann gehen wir eben zur kürzlich passierten Ereignissen über. Hast du denn Zorkons Mutter geholfen?"
"Schweig!"
"Hast du Zorkon beigestanden, als Natali gestorben ist? Als sie krank und verloren dort gelegen ist, hast du sie dort einmal besucht? Du bist nichts! Nur ein kleiner Mann, der sich auf Lorbeeren einer Frau ausruht." Maldan brach zusammen. Die Erinnerung an Thulena hatte ihn wie ein Blitz durchzuckt. War er wirklich so unschuldig gewesen, wie er es gerade Rhynia weismachen wollte? Und Natali? Plötzlich schrie er. Er schrie und schrie, bis ihm die Stimme versagte. Rhynia nickte anerkennend. "Ja, du hast dich in deinem Garten versteckt und geglaubt, so würdest du Thulenas Andenken bewahren. Doch in Wirklichkeit hast du nur deine Wünsche erfüllt und deine Visionen verwirklicht. Sag mir, Maldan, war es deine Idee, hier her zu kommen? Hast etwa DU die Chironians hier her geschickt? Nein? Wie kommst du dann auf die Idee, du hättest das Privileg, uns zu führen?" Maldan war inzwischen wieder ruhig geworden. Seine Augen blickten traurig auf Rhynia.
"Nein, ich habe die Chironians nicht von Nyrvulia weggeführt, doch ich habe sie hier her gebracht und ich habe mit euch diese Kolonie erbaut. Und ich werde nicht zulassen, dass ein junges Mädchen wie du durch seine Sturheit alles schlechtmacht, was WIR hier aufgebaut haben. Du wirst es auch nicht schaffen uns einen Schaden zu zufügen. Denkst du nicht, die Kolonie hat ein Recht auf Überleben?"
"Denkst du nicht, die Kolonie hat ein Recht auf Freiheit?"
"Das hat sie. Jedoch hat jeder Chironian eine gewisse Verantwortung zu der nun einmal gehört, dass man sich nicht ohne Überlegungen in ein unnötiges und großes Risiko begibt." Rhynia schüttelte den Kopf.
"Dieses Risiko ist ganz allein meine Sache. Ich verstehe nur nicht, warum du nicht begreifen willst, dass wir nach draußen müssen. Wir sind hier in einem Gefängnis mit unsichtbaren Mauern, die wir uns doch selber geschaffen haben; die wir nur überwinden müssen!"
"Wir werden sie überwinden, wenn wir dazu bereit sind. Doch wir SIND es nun einmal nicht - denk an Zorkon."
"Zorkon war nur nicht auf draußen vorbereitet! Er hätte es genauso, wie ich schaffen können! Er hätte es mit DEINEM Segen tun sollen - er hätte nicht allein gehen sollen."
"Warum bist du es dann?"
"Das geht dich nichts an."
"Verdammt, Rhynia, was ist los mit dir? Denkst du eigentlich nie über etwas nach? Glaubst du nicht mehr an die Kolonie? Du kennst doch nichts anderes." Rhynia öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Doch sie blieb stumm. Maldan setzte etwas ruhiger fort "So viele sind schon bei Unfällen und durch Krankheiten gestorben. Es tut mir um jeden einzelnen sehr leid, den wir verloren haben. Sie alle fehlen uns in unserer Gemeinschaft. Niemand wird sie uns wieder bringen können, noch sie und ihre Arbeit und ihren Beitrag für unsere Kolonie und die Familie der Chironians ersetzen können. Wenn dir die Kolonie egal ist, dann denk doch wenigstens an die Leute, die du magst - was ist mit Skaat? Willst du ihm wehtun? Willst du, dass er dich verliert?" Rhynia schüttelte den Kopf.
"Das wird er auch nicht."
"Wie kannst du das wissen?"
"Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich meine Freiheit brauche und ich werde wieder nach tyn gehen! Maldan, sieh es doch ein - wir werden hier noch wahnsinnig, wenn wir nichts Neues kennen lernen." Maldan seufzte. „Wir werden Thulenias Geheimnisse noch früh genug entdecken. Doch nicht, bevor unser Überleben nicht gesichert ist. Und genau aus diesem Grund verbiete ich dir, wieder nach tyn zu gehen! Du wirst dich in die Gesellschaft eingliedern, wie jeder andere. Alle Chironians haben es akzeptiert. Jetzt gesteh dir wenigstens einmal die Realität ein: du bist eine von uns und du bist wichtig für uns. Glaubst du, du könntest dich mit deiner zurückgezogenen und unausstehlichen Art von uns abkapseln – dass du etwas Besonderes bist? Du bist es nicht! Du gehörst zu uns! Schließ dich in dein Zimmer ein; bemitleide dich selbst und lass deine schlechte Laune an den anderen aus – glaubst du wirklich, damit könntest du dich zu etwas Tollem, etwas Einzigartigem und Großartigen machen? Vergiss es. Du vergiftest damit nur das Miteinander der Chironians, die es so schon schwer genug haben! Aber du wirst nicht wieder nach tyn gehen! Du bleibst so lange in deinem Quartier, bis du endlich zur Vernunft gekommen bist!“
Rhynia sah Maldan entgeistert an.
„Willst du mich unter Arrest stellen?“
„Siehst du denn eine andere Möglichkeit?“
„Aber…“ Rhynia wich zurück. Das Gesicht des alten Mannes war einer Fratze gewichen, vor der sie fliehen musste. Das Ungeheuer vor ihr würde sie vernichten, wenn sie nicht bald hier wegkam.
Sie hörte Maldans nächste Worte nicht mehr. Sie wich nach rückwärts aus, bis sie die Wand an ihrem Rücken spürte. Schnell tastete sie sich in Richtung Ausgang. Als sie diesen gefunden hatte, öffnete sie die Tür, drehte sich um und lief aus dem Raum. Wenn sie jetzt Maldans Befehl folgte, war sie, das spürte sie deutlich, verloren. Sie musste hier weg und es gab nur einen sicheren Ort vor Maldan und seinem Gefängnis – tyn!

„Rhynia – bleib hier!“ Maldans Rufe blieben ungehört. Der alte Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. „Was soll ich nur mit dir tun, Mädchen? Sag mir, was ich noch alles tun muss! Sei doch nicht immer so verdammt störrisch! Ich gebe hier mein bestes für die Kolonie – ich lebe nur dafür, dass es die Leute hier überleben… Womit habe ich so etwas verdient? Bin ich wirklich so unverständlich? Sollte ich Thulenia wirklich weiter erforschen lassen? Aber ich kann das doch nicht verantworten… Tyn hat schon zu viele Opfer von uns verlangt! Ich habe mein Leben nicht dafür geopfert, damit jetzt alle da hinaus gehen und sich umbringen lassen. Warum müssen Kinder nur immer so stur sein und können nie vernünftig handeln? Warum kann Rhynia nicht einmal ihre Verantwortung übernehmen und muss immer so rebellisch sein?“ Maldan seufzte lange. „Langsam werde ich müde… Ich kann die Verantwortung nicht mehr ertragen! Ich habe alles für die Chironians gegeben, was ich konnte… Warum musstest du mir solche Vorwürfe machen? Oh, Thulena, was mache ich nur falsch? Warum habe ich dich verloren?“ Maldan schloss die Augen und stützte seine Stirn in die Hände. Rhynias Worte hallten in seinem Kopf wieder: Wäre es so eine Unmöglichkeit gewesen, Thulena zu retten?... Wäre es so eine Unmöglichkeit gewesen, Thulena zu retten… „Ich weiß es nicht!“, schrie er, nur um dann wieder ruhig zu werden. „Ich weiß nicht, ob ich ihr hätte helfen können, Rhynia, aber ich weiß, dass DU damals nicht dabei gewesen bist… dass du genauso hilflos gewesen wärst, wie ich und überhaupt alle, die mit uns hier her kamen. Du hast keine Ahnung, was wir für dich und den Rest der Kolonie durchgemacht haben! Ich habe sie geliebt, Rhynia, ja, das habe ich… ich habe sie geliebt und habe sie verloren. Warum, glaubst du wohl, bin ich den Frauen in der Kolonie wohl niemals näher gekommen? Warum, glaubst du, habe ich Natali verlassen? Du solltest doch den Schmerz kennen, wenn man jemanden verliert, den man liebt! Du bist die letzte, die mir einen Vorwurf machen kann, dass ich keiner Frau mehr näher komme – immerhin nehme ich, im Gegensatz zu dir, meine Pflicht als Chironian wahr und kümmere mich um den Fortbestand der Kolonie! Du hast dich doch seit Tjas Tod nur abgeschottet und sogar deinen eigenen Bruder für ihren Tod verantwortlich gemacht. Ich mache dir dafür keinen Vorwurf, also untersteh dich, MIR Vorwürfe zu machen! Oh, Thulena, ich habe dich geliebt, warum habe ich dich nicht retten können? Warum hast du das alles auf dich alleine genommen? Du hattest etwas Besseres verdient. Ich habe mein Leben in deinem Andenken gelebt. Ich wollte immer allen alles Recht machen. Aber jetzt weiß ich nichts mehr! Ich bin alt, Thulena. Alt und verbraucht und ich kann die Chironians nicht mehr führen! Es tut mir leid Thulena! Es tut mir so leid, Natali! Was habe ich nur getan? Ich weiß einfach nicht mehr, ob ich das jetzt gut gemacht habe… Ich habe es geglaubt. Ich möchte es glauben… Habe ich es gut gemacht, Thulena? Ich will diese Verantwortung nicht mehr. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, auf Nyrvulia zu bleiben. Auch wenn das geheißen hätte, in der Sklaverei zu bleiben… Auch wenn wir mit Nyrvulia untergegangen wären, es wäre unsere Heimat gewesen! Woher habe ich nur den Glauben genommen, ich könnte uns eine neue Heimat schaffen?“
Maldan weinte. Er lag auf seinem Bett und weinte das erste Mal, seit Thulenas Tod und all die Aggressionen und Ängste, die ihn quälten, fanden in diesen Tränen ein Ventil. Maldan weinte so lange, bis er vor Erschöpfung einschlief.

Rote Schwaden zogen auf. Ein Nebel aus Blut, der sich um ihn herum bildete und aus dem es kein Entkommen gab. Die roten Tropfen tränkten seine Kleidung, die immer schwerer wurde. Er versuchte, sie loszuwerden, doch er konnte sich nicht rühren. Eine bleiche Gestalt erschien in dem roten Dunst, abgemagert, sodass man glauben konnte, es wäre ein Skelett. Die knochigen Beine schienen zu brechen, als die Frau näher kam. Natalis Körper hatte im Endstadium der Krankheit schon lange keine Ähnlichkeit mehr mit einem lebenden Chironian gehabt. Jetzt stand sie vor ihm, wie eine lebendige Leiche, die Augen vorwurfsvoll auf ihn gerichtet. Sie sagt nichts und eine tiefe Furcht vor dem Wesen, das er einmal gekannt und geliebt hatte, machte sich in ihm breit. Er versuchte, sich umzudrehen und fortzulaufen, doch die blutigen Nebelschwaden hielten ihn fest. Langsam kam Natali näher. Maldan konnte vor Furcht kaum noch atmen. Er wagte nicht, sich zu bewegen und stand einfach nur da. Natali hob ihren bleichen Arm. Ihre großen Augen sahen Maldan immer noch vorwurfsvoll an und ihre Hand berührte seine Wange leicht. Maldan erschauerte. Die Hand fühlte sich nicht kalt an, wie er befürchtet hatte, sondern warm und vertraut. Natali lächelte und auch wenn ihre Augen traurig blieben, schien sie doch nicht mehr finster und Furcht erregend. Maldan zögerte und sah der zierlichen Frau zärtlich in die Augen. „Natali?“ Die Frau nickte, doch ihre Augen waren immer noch traurig. Sie schien auf etwas zu warten. Wieder zögerte Maldan. „Natali…“, fuhr er schließlich fort. „Es tut mir leid, was ich dir angetan habe! Ich wünschte, ich könnte es wieder gut machen. Ich wünschte, ich könnte alles wieder gut machen! Ich…“ Aber Natalis Hand fuhr über seinen Mund und deutete ihm, still zu sein. Sie schüttelte den Kopf, doch ihre Augen lächelten jetzt und die eingefallenen Wangen bekamen einen rosigen Teint. Obwohl sich Natalis Gestalt äußerlich nicht verändert hatte, strahlte sie nun Güte aus und Maldan fühlte sich wohl und geborgen. Natali lächelte noch einmal, dann beugte sie sich vor und hauchte Maldan einen leichten Kuss auf den Mund. Dann verschwamm ihre Gestalt. Doch sie löste sich nicht auf, sondern formte um. Langsam erkannte Maldan eine junge Frau mit kurzen, kastanienbraunen Haaren und leuchtenden, blauen Augen, die mit einem Graustich durchsetzt waren. Die gerade Nase wuchs unter einer hohen Stirne und die dünnen Lippen lächelten Maldan an. Die Frau war nach chironischen Maßstäben hübsch, doch für Maldan war es das schönste Wesen, das er jemals gesehen hatte.
„Thulena!“ rief er aus und wollte zu ihr hin laufen, doch der rote Nebel hielt ihn weiterhin fest. Vor Maldan stand Thulena, wie er sie damals auf Nyrvulia gekannt und wie er sich in sie verliebt hatte. Und das Mädchen lächelte dem alten Mann zu. Maldan sah sie flehentlich an. „Warum hast du mich verlassen?“
Thulena lächelte ein wenig verträumt, sah dann wieder zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Obwohl sich ihre Lippen nicht öffneten, hörte Maldan sie sprechen: „Ich habe dich nicht verlassen. Ich habe immer die Hand über dich und über die anderen gehalten. Du hast getan, was du konntest… Ich werde nicht mehr lange auf dich warten müssen. Übergib dein Werk an jemand anderen und komm dann zu mir. Du wirst sehen, dass alles gut werden wird!“
Langsam löste sich der rote Nebel auf und mit ihm auch Thulenas Gestalt. Somit wurde Maldans Traum in völlige Dunkelheit gerückt und er erwachte erfrischt am nächsten Tag.

Arrest? Steck dir deinen Arrest doch sonst wo hin… Glaubst du wirklich du könntest mich hier festhalten? Du bist nur ein alter Mann, der keine Ahnung von irgendetwas hat! Talshin… Selbst wenn, wäre es mir lieber, eine Talshin zu sein, die ihre Freiheit festhält, anstatt eine Chironian in einem Käfig! Wenn du nur wüsstest, was es auf diesem Planeten für Wunder gibt! Aber das wirst du in deiner Sturheit wohl nie erfahren… Du wirst schon sehen, wenn du auf deiner Baracke vergammelst und…
Weiter kam Rhynia nicht. Ihre Gedanken wurden unsanft unterbrochen, als sie über einen kleinen, zierlichen Goldkopf stolperte und im Laufen fast hinfiel. Von ihrem eigenen Schwung mitgerissen, rannte sie noch ein paar Schritte, bis sie endlich anhalten konnte. Schnell drehte sie sich um und half der völlig verdutzten Aeva auf die Beine. „Hey, Kleine, es tut mir leid… Hab ich dir wehgetan?“
Aeva rappelte sich auf, klopfte sich ihre Hosenbeine ab und sah dann zu Rhynia auf, die mit ihrer hohen Statur die achtjährige Aeva fast um das doppelte überragte. Rhynia kniete sich zu ihr herunter, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein und die zierlichen Hände Aevas fassten unvermittelt nach Rhynias Jacke.
„Du hast mir nicht wehgetan, Rhynia. Aber…“
„Aber was, Kleine? Kann ich dir irgendwie helfen?“
Aeva nickte heftig.
„Ich will mit dir nach tyn!“
Rhynia stockte geschockt. „Das meinst du doch nicht ernst?“
„Doch, das tue ich! Immerhin gehst du dort auch hin und Zorkon auch!“
„Aber das ist doch viel zu gefährlich…“
“Wir Chironians haben ein Recht auf Freiheit!“
Rhynia Mund stand weit offen. Sie fühlte sich, als ob Aeva sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen hatte. „Woher….?“
Aber Aeva sah sie ernst an und schüttelte den Kopf. „Ich will mit.“
„Aber, Aeva, das geht nicht… Ich kann da draußen nicht auf dich aufpassen! Geh jetzt! Geh spielen!“
Aeva ließ Rhynia los. Ihren großen, schönen Augen war die Enttäuschung anzusehen. „Bitte Rhynia… Ich könnte dir helfen bei… na ja, bei irgendwas eben?“ Sie sah Rhynia hoffnungsvoll an. „Ich bin wirklich tapfer! Ich bin sogar schon einmal…“ Aeva verstummte und schien sich selber die Hand vor den Mund schlagen zu wollen. „Ich bin sogar schon einmal draußen gewesen“ hatte sie sagen wollen, doch Rhynia war zu aufgewühlt, um weiter nachzufragen. Sie schüttelte einfach den Kopf. „Vielleicht das nächste Mal, Kleine“, lächelte sie und ging verwirrt zu der Luke, die nach tyn führte.
Aevas Blick verfolgte sie, obwohl sie längst aus dem Blickfeld des Mädchens getreten war. Gedankenverloren zog sie sich ihre Atemmaske über und verließ die Kolonie. Sie hörte kaum das Knirschen, das sie mit ihren Füßen verursachte, sondern ließ sich den ganzen Weg bis zur Unterwelt wieder einmal von ihren Gedanken leiten.

Die großen Augen Aevas… Sie hatten so tief in ihre Seele geblickt, dass Rhynia ein wenig Angst bekam, vor dem, was sie dort hätte finden können. Die Sonne Thulenias strahlte sanft auf Rhynia. Ihre Gedanken verwirrten sich wieder und sie sah einmal Maldan mit streng erhobenem Zeigefinger, der sie ermahnte, nichts Gefährliches mehr zu tun, andererseits sah sie ihre Mutter Tja, die sie beschützte und Skaat an ihrer Seite, der sie verwirrt musterte und dann lächelte. Doch immer noch verfolgten sie die großen Augen des kleinen Mädchens. Der stumme Vorwurf darin, den Rhynia nicht verstehen konnte – sicher sie konnte Maldans Argumente durchaus verstehen, aber er hatte keine Ahnung von ihrer neuen Welt, von den Unterlingen und dem Jungen, der sie gefunden hatte. Warum waren diese Augen so vorwurfsvoll auf ihr? Was hatte sie Aeva getan? Oder waren es gar nicht Aevas Augen, die ihr keine Ruhe ließen? War es die dunkle, tiefe Stimme der Vernunft oder des Vorwurfs, den sie sich selber machte? Waren es ihre eigenen Schuldgefühle? Doch da war auch Tja, die ihr zwar ernst aber auch liebevoll den Weg wies, mit einem Lächeln auf den Lippen. Rhynia erwiderte das Lächeln. Sie wusste, dass ihr nichts passieren würde. Sie war sicher bei ihrer Mutter und auch Thulenia selbst würde sie beschützen. Thulenia war ihre Heimat, so beengend das Leben in der Kolonie auch war und so lebensfeindlich der Planet auch war. Thulenia würde immer einen Platz für sie, Rhynia bieten.
Da sah sie auch schon das Portal zu einer anderen Welt. Wieder einmal war Rhynia am Tor angekommen. Sie kletterte hinauf, schlüpfte durch die Felsen und aktivierte ihre Nachtsichtbrille. Das wird allmählich schon Routine, dachte sie lächelnd und ging sicheren Schrittes in die Dunkelheit. Immer wieder bewunderte sie die Wandgemälde, die sie mit ihrer Brille deutlich erkennen konnte, doch die meisten waren erschreckend und bedrückend und Rhynia beeilte sich, sie hinter sich zu lassen. So gut ihr die Bilder auch gefielen, wollte sie doch nicht daran erinnert werden, was diese Unterlinge mit ihrem eigenen Volk taten. Die Zeit, die sie benötigte, um zur tatsächlichen Siedlung zu kommen, schien ihr mit jedem Mal kürzer. Ihre Furcht war nun Aufregung und Vorfreude gewichen und sie konnte es nicht erwarten, mehr über die Unterlinge zu erfahren. Vielleicht konnte sie den jungen Mann von damals wieder auf sich aufmerksam machen… Doch das musste sie gar nicht erst. Im ersten Augenblick erschrak Rhynia, als plötzlich eine Gestalt vor ihr stand, doch im nächsten Moment erkannte sie den Unterling von ihrer letzten Begegnung wieder. Sie nahm ihre Atemmaske und ihre Nachtsichtbrille ab und lächelte ihm zu. Der Mann lächelte ebenfalls. Er streckte seine Hand aus und Rhynia griff vorsichtig danach. Leicht lag ihre Hand in der seinen und sie brauchten nicht dieselbe Sprache zu sprechen, um sich zu verstehen.

Der Unterling nahm Rhynia bei der Hand und führte sie den steilen Weg zu seinem Dorf hinunter. Dabei schien er recht vorsichtig zu sein und er deutete Rhynia, seinen Bewegungen genau nachzuahmen. Rhynia war es nur Recht, dass er darauf achtete, niemandem zu begegnen. Sie wusste nicht, was sie getan hätte, wären auf einmal alle Unterlinge um sie herum gestanden und hätten sie angestarrt. Sie konnte sich auch deren Reaktion nicht vorstellen und war deshalb froh, dass ihr Freund offensichtlich derselben Meinung war. Gemeinsam schlichen sie durch die steinernen Straßen und Rhynia staunte über die Architektur der Unterlinge. Doch ihr Führer drängte sie weiter und ließ ihr nie Zeit, etwas genauer zu betrachten. Geduckt und immer auf ihre Deckung achtend, kamen sie schließlich zu einer großen Statue, die kunstvoll in die Höhe gebaut war. Sie stellte eine Frau da, die groß und erhaben in den Himmel, oder besser, korrigierte Rhynia sich selbst in Gedanken, zu der Höhlendecke reichte. Viele der leuchtenden Steine, die man auch an den Gebäuden finden konnte und welche die Höhle mit Licht erfüllten, waren davor hingelegt, als ob damit die Statue geehrt werden würde.
Rhynia betrachtete die Frau. Ihre leeren Augen starrten gebieterisch geradeaus, während ihre Arme in einer betenden Stellung in die Höhe gerichtet waren. Sie trug lange Gewänder und aus ihrem Gesicht sprachen sowohl Güte als auch Strenge.
Der Unterling, der Rhynia hergebracht hatte, sah neugierig auf Rhynia. Er sagte etwas, doch Rhynia konnte nur mit den Schultern zucken und stand ratlos da. Enttäuschung machte sich in dem Gesicht ihres Freundes breit. Er fiel vor der Statue auf die Knie und stieß seltsame Laute aus seiner Kehle aus. Rhynia fühlte sich unwohl dabei, doch der Unterling drehte sich jetzt zu ihr, sah sie ernst an, und fiel vor ihr auf die Knie, wie er es vor der Statue getan hatte. Jetzt erst erkannte Rhynia den Sinn seiner Darbietung. Entsetzt schüttelte sie den Kopf: „Nein, nein, ich bin kein Gott! Was willst du eigentlich von mir?“
Doch der Unterling sah sie nur verständnislos an. Trotzdem schien er den Sinn in Rhynias Worten zu erraten, denn sein Blick wurde flehentlich und immer noch kniend streckte er seine Hände nach Rhynia aus. Wieder sprach er und griff dabei nach Rhynias Händen. Doch Rhynia entzog sie ihm, drehte sich um und lief ein paar Schritte davon. Der Mann rief ihr nach und sie blieb tatsächlich stehen, da sie ohne ihn keine Chance hatte, ungesehen wieder aus der Stadt zu kommen. Scheu kam er ihr nach.
„Ich bin keine Göttin… Ich weiß doch nicht, was du von mir erwartest…“ Rhynia war verzweifelt. Wie sollte sie es ihrem Freund nur klarmachen? Was wollte er nur von ihr?
Als er Rhynia erreichte, nahm er vorsichtig ihren Kopf in seine Hände. Er sagte etwas und Rhynias Augen füllten sich mit Tränen. Warum konnte sie ihn nur nicht verstehen? Es war so schwer! Sie wollte ihm doch nur sagen, wer sie war, aber wie konnte sie einem Unterling, der noch nie die Sonne gesehen hatte und der doch keines ihrer Worte verstand, von sich und den Chironians erzählen? Wie konnte sie ihm nur erklären, dass es mehr gab, als er glaubte – nicht nur sein Volk und die Götter, sondern auch noch andere Welten; andere Völker, die andere Kulturen und andere Geschichten kannten?
Ihre Gedanken waren so weit von der Wirklichkeit entfernt, dass sie ein Schock durchfuhr, als seine Finger ihre Tränen abwischten. Ihr Atem stockte. Der junge Mann vor ihr sah sie liebevoll und ein wenig unsicher an. Rhynia blickte in die weichen, grauen Augen, als ob sie etwas suchen würde. Sie konnte darin schemenhaft ihre eigenen, dunklen Augen erkennen, doch das schummrige Licht der Steine ließ keine schärfere Wahrnehmung zu. Oder war es etwas anderes, welches sie nicht auf den Grund seiner Seele blicken ließ? Dass es ihr so unmöglich machte, die Gedanken mit dieser Person zu teilen…
Noch in Gedanken versunken näherte sie ihr Gesicht dem seinigen. Ihr Herz pochte und Tränen bildeten sich in ihren Augenwinkeln. Sie schluchzte und all ihr Kummer und ihre Ängste, die sie aus der Kolonie mit hergebracht hatte, brachen jetzt aus ihr heraus. Sie presste ihr Gesicht fest in das Gewandt ihres Freundes, der ihr doch so fremd war und der ihre Sorgen doch nicht verstehen konnte. Der Unterling sah ein wenig verwirrt auf sie herab, doch schien er zumindest ihren Gefühlszustand zu verstehen. Also legte er ein wenig hilflos seine Arme um das Mädchen und hielt sie fest.
Rhynia drückte den Unterling fest an sich und weinte wie ein kleines Kind. Sie wusste nicht einmal, weshalb sie so traurig und bedrückt war, aber sie hätte es dem Unterling sowieso nicht erklären können, da er sie ja nicht verstand. Sie wollte ihn nicht ausnützen und trotzdem tat es gut, sich einem wildfremden wenn nicht mit Worten, dann wenigstens mit Gesten ihre Gefühle und Nöte anzuvertrauen. Sie ließ sich einfach gehen und mit jeder Träne wurde ihr ein wenig leichter ums Herz. Mit jeder Träne verließ sie der Frust über Maldans Halsstarrigkeit, die Sorge um Skaat und die eigenen Selbstvorwürfe, die sie unbewusst so lange gequält hatten.
Plötzlich schien der Unterling unruhig zu werden und Rhynia löste sich von der Umklammerung. Sie wischte sich ein wenig beschämt das Gesicht mit dem Ärmel trocken und sah ihn ein wenig unsicher an. Wieder waren seine Worte für sie unverständlich, doch konnte sie an seinem gehetzten Gesicht und seinen unruhigen Gesten verstehen, dass sie hier wegmussten, um nicht entdeckt zu werden. Rhynia nickte und ließ sich von ihrem Freund durch die Gassen schleusen. Es wurde Zeit, wieder zurück zur Kolonie zu gehen.

Als sie das Tor verließ, schien Thulenias Sonne bereits nahe am Horizont. Rhynia seufzte melancholisch und sah noch einmal zurück auf die Felsspalte, die ihr den Zutritt zu einer anderen Welt ermöglichte. Sie überprüfte ihre Sauerstoffanzeige und kam zu dem Schluss, dass sie noch genügend Reserven für einen kleinen Umweg hatte. Sie hatte es tatsächlich nicht eilig, wieder zu Skaat und vor allem Maldan zurückzukommen. Außerdem musste sie nachdenken und sie konnte sich keinen besseren Platz dafür denken, als tyn und somit Thulenia selber.
Da sie sich noch nicht so gut in tyn auskannte, beschloss sie zu dem einzigen Anhaltspunkt zu gehen, den sie weiters noch hatte – der Ebulastaude.
Sie setzte ihre Füße in Bewegung und ließ diese selber den Weg finden. Die Statue erschien vor ihrem inneren Auge. Streng, stolz und schön war diese Frau in all ihrer Größe Rhynia tatsächlich ein wenig ähnlich – verglichen mit den Unterlingen zumindest. Rhynias Gestalt war stark und aufrecht, während die Unterlinge alle gebeugt und ein wenig kränklich wirkten. „Aber warum sollte ausgerechnet sie…? Aber das war doch gar nicht so weit hergeholt! Die Wandgemälde in der Höhle bezeugen zumindest die gröbsten Details der Geschichte Thulenias. Wenn dieses Volk tatsächlich nicht schon immer unterirdisch gelebt hat, dann wäre jemand, der von Oben kommt und die Sonne gesehen hat tatsächlich etwas größeres, als ein normaler Fremder! Wie wäre es doch, mein ganzes Leben dort unten verbringen zu müssen und nie nach draußen fliehen zu können? Eingesperrt hinter dicken Felsen der Erde und abhängig von diesem unnatürlichen Licht, das die Augen verwirrt? Wäre ich nicht selber verwirrt, wenn in diesen Käfig jemand fremder eindringt, der eindeutig von wo anders herkommt? Der aus einer Welt kommt, von der ich in Legenden gehört habe… Wie wir… Wie die Kolonie! Eingepfercht in unser Gesellschaftssystem – nie ein neues Gesicht, nie etwas Fremdes und Träume von einer Welt voller Blumen, die wir im Gewächshaus halten, um uns diese Welt ein wenig näher zu bringen. Und doch ist es nicht natürlich! Chironia… Eine Welt, die wirklich existiert, oder nur ein Traum, den wir träumen, um unser ödes Leben ein wenig schöner zu gestalten? Und doch – wäre ich ein Unterling… würde es mir dann nicht gleich gehen? Wäre für mich Thulenias Sonne nicht auch nur eine herrliche Geschichte, von der niemand wirklich weiß, ob sie existiert und deren Licht in den fluoreszierenden Steinen nachgeahmt wird, wie die Gärten und natürlichen Pflanzen, an die wir uns in unserem Gewächshaus erinnern? Gibt es tatsächlich eine Welt, in der es schön ist? Wenn es die Traumwelt der Unterlinge gibt und ich eine Bewohnerin dieser bin, gibt es dann nicht auch meine Traumwelt mit ihren Bewohnern, die selber wieder ihre Traumwelt haben?“
Rhynia stolperte. Fast wäre sie auf die knorrigen Äste der Ebulastaude getreten. Das kleine Gewächs wuchs hier in der lebensfeindlichen Welt Thulenias. Die zähen Äste wie Finger, die hilflos in der Leere nach etwas griffen, das nicht da war. Das Gesträuch wirkte hier so verdammt fehl am Platz und doch war es hier.
Hat ein wenig Ähnlichkeit mit mir, dachte sie spöttisch. Ein kleiner Strauch in der Einsamkeit einer riesigen Wüste aus staubigem Sand. Ich bin auch einsam, weißt du? Ich habe eine eigene Welt gefunden und habe niemanden, dem ich davon erzählen könnte! Sie würden es doch alle nicht verstehen! Ich kenne keinen in der Kolonie, dem ich so ein Geheimnis erzählen könnte und weißt du warum? Weil die Kolonie so klein ist. Hier kennt jeder jeden und es gibt einfach keine Geheimnisse, außer man behält sie für sich! Die Kolonie ist zu klein und beengend… Wenn du einen Partner hast, kannst du dich darauf verlassen, dass du ihn rund um die Uhr zu Gesicht bekommst! Das kann doch keine Beziehung auf die Dauer ertragen. Es gibt nur so wenig Privatsphäre und da niemand jemandem fremd ist, auch keine Geheimnisse. Ich frage mich schon seit ich ein kleines Mädchen war, ob es so etwas wie wahre Liebe überhaupt geben kann. Geschichten sind ja schön und gut, aber wenn man älter wird und die Logik jemandem immer näher rückt, fällt es irgendwann einmal schwer, daran zu glauben. Aber ich möchte es! Was für einen Sinn soll mein Leben sonst noch haben? Ich wünschte, ich könnte es so nehmen wie Skaat! Er hat kein Problem damit, jemanden in der Kolonie zu finden! Isabel ist ein nettes Mädchen, aber sie ist genauso naiv, wie ich es manchmal bin! Sie denkt nur nicht darüber nach. Wie kann sie das Leben nur so leicht nehmen? Woher hatte sie die Kraft, bei Zorkon zu bleiben? Manchmal hasse ich dieses Mädchen! Manchmal hasse ich Isabel einfach nur dafür, dass sie das Leben akzeptiert hat, was ich noch nicht konnte! Sie ist um so vieles besser als ich. Wie könnte ich da nicht eifersüchtig werden? Ist es nicht normal? Ich hoffe nur, sie verletzt Skaat nicht! Ich schwöre dir, wenn sie Skaat auch nur in irgendeiner Weise weh tut, vergesse ich mich! Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie meinem Bruder falsche Hoffnungen macht! Isabel, bitte mach meinen kleinen Bruder glücklich! Ich liebe ihn ja doch.
Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und nur noch ihre letzten Strahlen fielen auf den roten Sand. Rhydorios silbernes Licht schien wieder milde über die Ebene. Zu dieser Zeit war der rote Sand am schönsten – die intensiven Sonnenstrahlen ließen den roten Sand wie Feuer erscheinen und das silbrige Mondlicht mischte die Feuersbrunst mit einem sanften Violet-Ton. Die Zweige der Ebulastaude waren nicht mehr braun sondern voll von dem weichen Feuer erfüllt. Rhynias Herz wurde bewegt durch diese Farbmischung und sie fühlte sich seltsam wehmütig und doch glücklich. Die natürliche Pracht, die dieses Schauspiel ermöglichte, war so groß und gewaltig und ewig, dass es ihr das Herz zerriss. Aller Logik nach, würde es diese Farben eines Tages nicht mehr geben, denn jede Sonne war am Sterben, doch dieses Ereignis war so weit entfernt, dass diese Stimmung doch ewig wiederkehren würde.
Aber die Sonne schwand bald völlig und wich Rhydorios silberner Flamme. Rhynias Herz sank ein wenig enttäuscht, doch wieder einmal hatte sie die Stimme ihrer Mutter im Kopf. „Fürchte dich nicht vor dem, was du tust, Tochter! Es wird gut werden!“ Und obwohl immer noch aufgewühlt, goss Rhynia nachdenklich den Rest des Trinkwassers aus ihrer Flasche auf die Ebulastaude und machte sich beruhigt auf den Weg zurück in die Kolonie.

Rhydorio stand groß am hohen Nachthimmel. Maldan hatte ihm selten so viel Beachtung geschenkt, wie heute. Wieder einmal dachte er an Rhynia. Ob sie nicht vielleicht tatsächlich Recht hatte?
Maldan lag auf seinem Bett und sah durch die Dachluke direkt auf den Mond. Die tiefen Vulkankrater und Täler zeichneten sich deutlich auf der silbernen Oberfläche ab und die Schatten der Berge und Schluchten verliehen dem Bild eine unnatürliche Tiefe, die sich Maldan nicht erklären konnte. Fast hatte das Bild etwas Märchenhaftes an sich. Es erinnerte ihn an die Geschichten von Chironia und an die Zeit auf Nyrvulia. Er schloss die Augen und dachte an den kalten, unfreundlichen Planeten zurück, auf dem er für die Tussallaker als junger Mann in den Minen hatte arbeiten müssen – das war, bevor ihn sein Meister zu sich geholt hatte und ihm die Lehre der Pflanzen beigebracht hatte. Nyrvulia war ein lebensfeindlicher Planet gewesen. Aus dem Orbit gesehen war kein bisschen grün und blau zu erkennen. Tiefgraue Wolken verschleierten fast vollkommen den Planeten und ließen nur wenige Sonnenstrahlen auf der Oberfläche auftreffen. Ertragsmäßig war Nyrvulia von der Ausbeute der Minen abhängig, denn viel wuchs auf diesem kalten Wüstenplaneten nicht. Umso mehr war hier Nahrungsanbau für die chironischen Sklaven etwas Wichtiges gewesen. So hatte Maldans damaliger Meister ihn zu einem dankbaren Schüler erzogen. Dankbar, der Arbeit in den Minen zu entfliehen, die sein Volk regelmäßig umgebracht hatte. Im Gewächshaus, als Schüler des Tusallakers, hatte er schließlich Thulena getroffen. Sie war im Auftrag ihres Herrn gekommen, um die Nahrungsvorräte zu überprüfen. Tatsächlich hatte sie eine gesonderte Stellung für eine Chironian. Da sie eine Frau war, hatte sie nicht in die Minen müssen, sondern war in eine Schule gesteckt worden, in der ihr viel von der Politik der Tusallaker vermittelt wurde. Als äußerst intelligente Schülerin hatte sie schließlich sogar die Stelle der Beraterin bekommen und war schnell zur Vertrauten ihres Herrn geworden. Was diese schöne, stolze Frau bei ihm erdulden hatte müssen, konnte Maldan sich nicht vorstellen. Thulena hatte niemals über ihr Leben gesprochen, doch sie hatte auch nie ihre Herkunft vergessen.
Als Maldan Thulena im Gewächshaus gesehen hatte, war ihm sofort ihr Stärke aufgefallen. Er hatte damals von Anfang an gespürt, dass diese Frau sein Schicksal beeinflussen werden würde. Thulena hatte ihn beim ersten Mal nur angesehen. Sie hatte Maldan nicht gekannt und er war für sie nur ein weiterer Mitleidender gewesen. Doch Maldan war der Frau gefolgt, als sie das Gewächshaus verlassen hatte und damit den Zorn seines Herrn auf sich genommen. Thulena hatte nicht gemerkt, dass er ihr gefolgt war und als Maldan ins Gewächshaus zurückgekommen war…

„Wo bist du gewesen?“ die zischende, unangenehme Stimme des Tusallaker war ungeduldig und schien zornig, soweit Maldan es aus der Klangfolge bestimmen konnte, denn obwohl er sein Leben als Sklave der Tusallaker verbracht hatte, war es selbst für ihn immer noch schwer, die Stimmen der Echsenwesen allein vom Klang her zu interpretieren.
„Fort“, antwortete Maldan wahrheitsgemäß. Die krallenbesetzte Hand, oder was das auch immer war, womit die Tusallaker griffen, traf Maldan ins Gesicht, sodass er zurückgeschleudert wurde. Die Krallen hatten seine Wange und sein Hemd zerfetzt. Blut rann über Maldans Gesicht und tropfte auf die Pflanzen, auf denen er gelandet war. Maldan stöhnte. Er wischte sich über die Wange und spürte einen brennenden Schmerz. Benommen rappelte er sich auf, doch er kam nicht weit. Behände setzte der schlanke Echsenkörper zum Sprung an und landete schwer auf Maldans Brust. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und er hustete. Seine Hände griffen hilflos in die Leere, als er verzweifelt nach Luft rang, die der Tusallaker erfolgreich weiter aus seinen Lungen presste. Sterne bildeten sich vor Maldans Augen und er schlug verzweifelt um sich. Panisch verlangte sein Körper nach Sauerstoff; nach Luft. Maldans Bewegungen wurden langsamer. Endlich ließ der Druck auf seiner Brust los und Maldan hustete gequält. Doch sein Herr war noch nicht fertig mit ihm. Maldan rang nach Luft und hustete wieder, als er sich am Atmen verschluckte. Plötzlich durchzuckte ihn eine Welle heißen Schmerzes, als der Tusallaker spielerisch mit einer seiner messerscharfen Krallen Maldans Hemd vollends zerriss und die Bauchdecke einritzte. Maldan schrie und bäumte sich gegen seinen Peiniger auf, doch hatte er nicht mehr die Kraft, sich zu wehren und weiter und tiefer grub der Tusallaker seine Krallen in die dünne Haut des Chironian. Das letzte, was Maldan sah, war die goldene Schnauze des Echsenwesens, das hämisch auf ihn herabsah, bevor er das Bewusstsein verlor.
Als er erwachte, war ihm eiskalt. Die frische Nachtluft war angenehm und beruhigend, doch sein Bauch war wie tot und seine Wange brannte höllisch. Das Mondlicht schien sanft auf ihn herab. Das war sehr selten, dass der Schein einer der Monde Nyrvulias durch die Wolkendecke durchbrach. Weit weg und nicht interessiert an den kleinen Belangen der Chironians oder dieser verfluchten Tusallaker war dieses Licht für alle da. Es schien sowohl für Herren als auch für Sklaven – für Tusallaker und Chironians. Dieser Mond war kalt und gütig. Es war nicht so hell wie die Sonne, die auch nur selten durch die Wolken brach, und doch war der Mond eine Konstante, die wichtig für die Gezeiten des Planeten war. Und unabhängig von diesen uninteressanten, astronomischen Erkenntnissen, war dieser Mond einfach nur schön. Wie ein Bild aus einem Märchen. Wie ein Bild, das ihn an Chironia erinnerte – einer Welt, die es einst gegeben hatte. Eine Heimat, in der Chironians keine Sklaven sondern eine selbstständige, mächtige Rasse gewesen waren…

Aus Angst davor, Maldan oder jemand anderem über den Weg zu laufen, schlich Rhynia sich schnell durch die Korridore der Kolonie und betrat ihr Quartier. Sie hatte keine Lust, heute noch mit jemandem zu streiten oder diskutieren, was sie tun sollte oder nicht. Sie wollte einfach nur noch ins Bett sich ausruhen. Leise schlich sie durch die Kammer, um ihre Zimmergenossin nicht aufzuwecken. Doch Teneva schlief tief und ließ sich von Rhynias Ankunft kein wenig stören. Sie arbeitete in der SLS und musste deshalb immer früh aufstehen. SLS stand für Sauerstoff- und Lebenserhaltungssysteme, was soviel bedeutete wie eine vollkommen autoritäre Persönlichkeit zu sein, ohne dass man dafür den Finger rührt. Teneva musste gerade mal die Monitore überwachen und die Wasserstoffzufuhr überprüfen, was zwar wichtig, aber nicht außerordentlich schwer war. Rhynia mochte Tenevas eingebildete Art, über ihre Arbeit zu reden, zwar nicht, doch musste sie ihrer Zimmergenossin einen klugen Kopf und scharfen Verstand zugestehen.
Schnell schlüpfte Rhynia in ihr Bett und schloss die Augen. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Ihr müder Körper verlangte seinen Schlaf, doch ihre Gedanken waren immer noch zu aufgewühlt. Neben sich hörte sie die ruhigen Atemzüge Tenevas. Seltsamerweise machte dieses regelmäßige Geräusch Rhynia nur noch nervöser. Nach ein paar Sekunden öffnete sie ihre Augen wieder. Ihr Blick wanderte von der Zimmerdecke unwillkürlich zu der Gestalt, die dort im Bett lag. Im Zimmer war es großteils dunkel, doch Rhynias Augen hatten sich inzwischen mit der Dunkelheit vertraut gemacht und so konnte sie die schemenhafte Gestalt deutlich erkennen. Teneva lag mit dem Rücken zu Rhynia. Ihr Bauch hob und senkte sich ruhig. Rhynia sah dorthin, wo sie Tenevas Kopf vermutete. Eifersüchtig dachte sie an die Tätowierung auf Tenevas Schläfe. Die zarten Schlingen waren so viel kunstvoller als Rhynias eigene. Überhaupt kam Rhynia sich in Tenevas Nähe immer zurückgesetzt vor. Das zierliche Mädchen mit den großen Augen und den braunen Haaren hatte ihren messerscharfen Verstand schon damals in der Ausbildung bewiesen. Während Rhynia mit den anderen Schülern brav ihre Lektionen gelernt hatten, war Teneva dabei gewesen, mit den Kontrollen der Be- und Entlüftung herumzuspielen. Tatsächlich hatte sie es geschafft, die Steuerung deutlich zu vereinfachen und die Verteilung für die Bergwerksstollen und neu geschaffenen Kellerräume unterhalb der Kolonie zu optimieren. Natürlich war sie damals wahnsinnig stolz auf sich gewesen. Obwohl Teneva nie offen gegen Rhynia vorging, hatte Rhynia doch das Gefühl, ihre Zimmergenossin wolle sie absichtlich erniedrigen, ohne dabei jedoch von irgendjemand Außenstehenden bemerkt zu werden. Neben Teneva kam sich Rhynia immer plump und ungeschickt vor und sie glaubte, Tenevas scheinheilige Freundschaft zu durchschauen.
Doch war Teneva denn wirklich so? Früher hatten sie oft miteinander noch bis mitten in die Nacht hinein geredet… Ein leichtes Lächeln stahl sich auf Rhynias Gesicht, als sie daran dachte, wie sie miteinander herumgeblödelt hatten. Als sie abwechselnd in Maldan und Sildors Rollen geschlüpft waren und spielerisch gescholten hatten. Doch als Teneva schließlich ihre Arbeit begonnen hatte, hatte sich das alles geändert. Teneva war am Abend immer müde und ein wenig mürrisch. Das einzige, wovon sie noch mit Rhynia reden wollte, war das Vorankommen ihrer Arbeit und natürlich Criven. Criven… der große, stattliche Junge mit den schönen blau-grünen Augen. Seine kurzen, kastanienbraunen Haare, die das Licht zu reflektieren schienen und die feinen Gesichtszüge, welche von einem markanten Kinn abgerundet wurden. Ja, Criven… Rhynia seufzte. Wieder etwas, das Teneva hatte und sie nicht. Criven war wahnsinnig gut aussehend, intelligent und vor allem auch ein wenig aufmüpfig. Er ließ sich nichts gefallen und vertrat seine Meinung. Und das konnte er als redegewandter Naturwissenschaftler und Techniker meist sehr eindrucksvoll und war vor allem immer logisch in seinen Erklärungen. „Er wäre eigentlich ein guter Führer der Kolonie“, hatte sich Rhynia schon öfters gedacht. „Wäre er doch nicht ein Talshin“ Rhynia bewunderte vor allem seine Einstellung und war neidisch auf die kleine, zarte Teneva, die Criven ihren Freund nennen durfte. Tatsächlich wäre Criven der einzige Chironian gewesen, dem sie, würde er ihr näher stehen, von den Unterlingen berichtet hätte. Doch so blieb dieses Geheimnis sicher verwahrt in ihrem Kopf…
Abgelenkt von den Sorgen, die ihr der heutige Tag bereitet hatte, fiel Rhynia endlich in einen unruhigen Schlaf.

Die Sonne schien durch die Fenster und Rhynias Kopf schmerzte ein wenig, als sie sich in ihrem Bett unwillig herumdrehte. Sie hatte schlecht geschlafen und immer wieder waren Fetzen des letzten Tages in ihren Traumbildern gewesen. Als Rhynia zurückdachte, glaubte sie tatsächlich daran zu erinnern, von der riesigen Statue gejagt worden zu sein.
Unwillig schüttelte sie den Kopf und wischte sich mit ihrer rechten Hand die Schweißperlen von der Stirn. Todmüde wusste sie doch, dass sie trotzdem nicht mehr würde einschlafen können. Erschlagen, wie sie sich fühlte, zog sie sich an und verließ ihr Quartier. Offensichtlich war es noch recht früh und die älteren Chironians hatten erst vor kurzem ihre Arbeit begonnen. Die Flure waren wie ausgestorben und noch keines der Kinder war zu entdecken. Rhynia beschloss für heute, ihren Tag mit der weiteren Erforschung des Thulenischen Höhlensystems zu verbringen, da sie ansonsten doch nichts richtig machen könnte. Also schnallte sie sich das Visiopad ans Handgelenk direkt neben ihrem Sauerstoff- und Druckmessgerät und verließ die Kolonie. Obwohl sie den Weg bereits kannte, gab sie doch die Positionen in ihr Datapad ein, welches die Daten sofort für das Visiopad umsetzte. Dieses Visiopad hatte sie gerade vor ein paar Wochen gefunden, als sie bei Ishea im Computerlabor etliche Kisten durchwühlt hatte und Dinge daraus aufräumte. Dieses Visiopad schien sehr ausgereift zu sein. Es konnte nicht nur Bilder und Filme, sondern auch 3-dimensionale Aufnahmen machen. Diese abspeichern und über einen Hologenerator oder das Display darstellen. Es war weit ausgereifter als Rhynias Standard-Datapad. Doch fürchtete sie, dass der Speicher hier nicht lange ausreichen würde, weshalb sie das Datapad mit dem Visiopad verlinkte. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie nun diese Aufzeichnungen anfertigte – immerhin wollte sie die Unterlinge als Geheimnis bewahren. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als wäre es ihre Pflicht, das Geheimnis für die Nachwelt zu sichern. Vielleicht war es auch einfach nur das Gefühl, etwas Wichtiges hier in den Händen zu halten, und wollte damit verhindern, dass es einfach so vergessen werden würde. Alles in allem stellte sie ihr Benehmen nicht in Frage. Um sich von ungewollten Gedanken abzulenken, aktivierte sie das Spracherkennungsmodul und dokumentierte ihre Schritte sachgemäß. Diesmal hatte sie vor, sich nicht von Gefühlsausbrüchen leiten zu lassen, sondern sachlich und ernsthaft ihre Erkundung durchzuführen.
„Die Unterlinge sind eine Rasse, die ich selber so genannt habe, da ich ihre Sprache nicht verstehe. Sie sind die Ureinwohner Thulenias, welcher einmal ein Planet mit großer Bevölkerung gewesen sein muss. Die Population hat sich seit der Katastrophe auf ein kleines Volk von ein paar hundert Leuten dezimiert. Über den Verbleib der restlichen Unterlinge kann ich nur Vermutungen anstellen. Aus den Malereien, die im Archiv bereits gespeichert sind, ist zumindest ansatzweise zu erkennen, was sich auf diesem Planeten zugetragen haben muss. Die Bilder lassen auf einen Meteoritenhagel schließen, der die Atmosphäre verbrannt hat. Ich nehme an, dass ein Teil der Bevölkerung offensichtlich mit Raumschiffen fliehen konnte. Die Unterlinge sind wohl die Nachkommen derer, die keinen Platz mehr in den Raumschiffen fanden oder die sich die Rettung nicht leisten konnten. Auf den Bildern ist eine Art Held der Unterlinge zu erkennen, der die verstreuten, von den Meteoriten flüchtenden Leute zusammengeschlossen und sie unter die Erde geführt hatte. Eine unterirdische Quelle, die schon seit Jahrhunderten einen See gespeist hat, wurde zur Lebensgrundlage und Licht liefern heute noch die phosphoreszierenden Steine in den Felsen. Ich nenne sie vultar, Lichtsteine. Die Luft ist zwar stickig, doch der Sauerstoffgehalt ist hoch genug, für Leben. Das Kohlendioxid wird von den seltsamen Pflanzen, die auf den Steinen und Gebäuden wachsen, umgewandelt. Der natürliche Tagesrhythmus ist ebenfalls von den Steinen abhängig, da sie auf seltsame Weise ihre Leuchtkraft verändern. Dennoch werden die Höhlen nie dunkel, sondern sind höchstens in ein düsteres Dämmerlicht getaucht. Dieses Mal werde ich einen der vultar aus der Wand brechen und zur Analyse mitnehmen. Die Unterlinge verwenden sie für ihre Beleuchtung und für Schmuck und Verzierung ihrer Gebäude. Ich freue mich schon darauf, das Material zu analysieren.
Ich betrete jetzt die Höhle. Der Eingang ist eine schmale Spalte im Fels, die ich zufällig entdeckt habe. Tageslicht reicht nur einen halben Meter weit, dann muss ich die Infrarotbrille aufsetzen, um mich hier zurechtzufinden. Ab hier beginnen schließlich die Malereien, die meiner Meinung nach die Geschichte der Unterlinge bis zum heutigen Tag erzählt. Die Aufnahmen befinden sich ebenfalls im Archiv.“

Rhynia schaltete die Aufnahme am Visiopad ab. Jetzt musste sie vorsichtig werden, um nicht von einem Unterling entdeckt zu werden. Zielsicher ging sie den Weg entlang, den sie inzwischen recht gut kannte. Ihre Lippen zogen sich nach oben, als sie daran dachte, den Weg im Dunkeln zu finden. Erinnerungen an ihren ersten Abstieg kamen in ihr hoch – doch waren diese nicht mehr in das schwarz gehüllt, das sie damals empfangen hatte, sondern mit allerlei Eindrücken, die sie sich wahrscheinlich nur einbildete.
Sie erreichte wieder einmal die Plattform und sah auf das Dorf hinunter. Wo wohl ihr Unterling-Freund war? Sie huschte so schnell sie konnte die Stufen hinab und traf dort tatsächlich auf den jungen Mann. Er schien erleichtert, sie zu sehen. In seinen Armen hielt er etwas, das aussah, wie eine Frucht, die ihr schon einmal aufgefallen war. Damals war sie auf der Wand gewachsen und grün und unreif ausgesehen. Der Unterling hielt die Frucht jetzt reif und groß Rhynia hin. Fasziniert nahm sie das Geschenk an und untersuchte es genau. Die Frucht war hart und die Oberfläche glatt mit kleinen Härchen darauf. Ein wenig erinnerte Rhynia die Form an eine der Züchtungen der Chironians, doch war sie größer und die Form einer Endlosschleife deutlicher ausgebildet. In tiefstem jai sah die Frucht so verlockend und köstlich aus, dass Rhynia gerne einen Bissen probiert hätte, doch sie hielt sich zurück und steckte das Geschenk ein, um sie in der Kolonie genau zu analysieren. Die schuldbewusste Mine des Unterlings belustigte sie heute ein wenig, und sie lächelte ihn aufmunternd an. Dann wandte sie sich um und trat näher an die Wand, in welcher viele Steine schön und rein in weißlich bis bläulichem Licht schimmerten. Ihre Hand fuhr tastend an der Wand entlang. Der Fels war rau und warm. Die Oberfläche des Lichtsteines war warm und seidenglatt. Fasziniert sah sich Rhynia den Stein genauer an. Abwesend lies sie ihre linke Hand nach einem Messer suchen, um den Stein herauszuhebeln, während ihre rechte weiter am Stein liegen blieb. Sie hatte das Messer gefunden und setzte es an die Wand an. Die andere Hand hob sie vom Stein, den sie herausbrechen wollte, und legte sie auf einen bläulich glimmenden Stein. Auf einmal durchfuhr sie ein tiefer Scherz, als ob ihr Kopf plötzlich zu explodieren schien. Sie schrie kurz auf, ließ den Stein los und das Messer fallen. Für einen Moment kauerte sie auf dem Boden. Ihr Kopf schmerzte und ihre Gedanken waren von dem Gefühl zurückgedrängt. Stöhnend hielt sie ihre Hände schützend über den Kopf. Der Schmerz in ihrem Kopf ließ so schnell nach, wie er gekommen war. Rhynia richtete sich auf und erstarrte mitten in der Bewegung. Vor ihr stand nicht mehr nur der Junge, den sie schon kannte. Jemand musste ihren Schrei gehört haben, denn jetzt sah sie sich einem weiteren Unterling gegenüber, der sie verblüfft und ängstlich musterte. Rhynia wich einen Schritt zurück, einen Ausweg aus der Lage suchend. Doch es war zu spät. Es kamen immer mehr Unterlinge, die sich um Rhynia mit furchtsamen und neugierigen Augen drängten. Hilflos sah Rhynia zu ihrem Freund, doch der war in der Menge verschwunden und sie war allein. Die Unterlinge schienen genauso viel Angst vor ihr, wie sie vor ihnen zu haben und hielten deshalb einen Sicherheitsabstand zu ihr ein. Doch die Menge wurde mehr und mehr und die hinteren Unterlinge drängten immer mehr und mehr, sodass sich die Leute schließlich vor Rhynia in eine tödliche Masse aus Körpern verwandelten, die Rhynia zu erdrücken drohten.
Rhynias Gedanken liefen durcheinander und alles wurde unwirklich in ihrem Kopf. „Wieso so viele? Sie werden immer mehr...“ Wie in einem Traum kam die Menge langsam näher und doch konnte sie nicht ausbrechen. Je näher die Amöbe aus Unterlingen ihr kam, desto größer wurde ihre Panik. Sie schloss die Augen und schlug wild um sich. Die Sekunden wurden immer langsamer und wie in Zeitlupe sah sie sich selber, die Unterlinge zurückschlagend, die jedoch in sicherem Abstand zu ihr blieben. Ihre Handlungen waren nicht mehr überlegt, sondern instinktiv. Sie schlug wild um sich. Man konnte fast ihre Verzweiflung fühlen, in die Enge getrieben zu sein. Die Welt schien vor ihren Augen zu drehen und sie konnte sehen, wie sich das Visiopad durch ihre wilden Schlagbewegungen plötzlich von ihrem Arm löste und von ihr weg flog. Der Moment blieb stehen. Das Visiopad schien regelrecht in der Luft zu hängen. Rhynia konnte sich nicht bewegen. „Nein!“ Alle ihre Aufzeichnungen würde sie so verlieren. „Nein!“ schrie sie und setzte zu einem Sprung an, um das Visiopad aufzufangen. Das Visiopad war in die Menge der Unterlinge gefallen. Man hörte es klar am Boden aufschlagen. Rhynia warf sich verzweifelt in die Menge und streckte ihre Hand nach dem Gerät aus, doch ein Fuß berührte es; schleuderte es fort aus Rhynias Blickfeld. Rhynia schrie und warf sich erneut gegen den Strom der Leute. Ein leises Klicken ertönte und Rhynia hörte das panische Aufschreien der Unterlinge. Plötzlich löste sich die Menge auf und Rhynia, die sich mit ihrem Körper dem Widerstand der Masse entgegen geworfen hatte, fiel auf den Boden. Die aufgeregten Schreie drangen nicht zu ihr durch – sie dachte nur daran, wie sie am schnellsten das Visiopad schnappen und weglaufen könnte. Die Unterlinge wichen entsetzt vor ihr zurück und als Rhynia sich endlich umsehen konnte, erkannte sie den Grund der plötzlichen Panik um sie herum: Die Höhle war plötzlich erhellt von einem seltsamen, elektronischen Licht, welches heller war, als das der Lichtsteine und in verschiedenen Farben leuchtete. Die Farben waren erst ungeordnet und wüst in der Gegend und trafen dabei viele der Unterlinge, die kreischend davor Deckung suchten. Doch bald ordneten sich die Bilder und formten den Eingang zur Unterwelt mitten in die Luft. Rhynia erschauerte, als plötzlich ehrfürchtige Stille herrschte und die Malereien am Eingang der Höhlen sichtbar wurden. Das Bild schwenkte von der Höhlenwand zu dem Spalt zurück und man konnte in dem Raum die Spalte nach draußen erkennen. Das Sonnenlicht drang gerade einmal einen halben Meter in die Höhle hinein und doch war es heller als je ein Unterling ein Licht erblickt hatte. Die Holoprojektion näherte sich dem Spalt. Das Bild wurde größer und plötzlich konnte man Thulenias Sonne erkennen, die hoch am Himmel stand und auf die Leute zu warten schien. Wieder schwenkte das Bild um, doch diesmal in die Dunkelheit der Stollen. Das Bild flackerte.
Endlich erkannte Rhynia, dass jemand versehentlich den Hologenerator des Visiopads eingeschaltet haben musste. Ein verängstigtes und entsetztes Raunen ging durch die nun teilweise fast panischen Unterlinge, als sich die Stollen scheinbar bewegten und sich sichtbare Wände, die sie jedoch nicht spüren konnten, durch sie hindurch fuhren. Rhynia saß am Boden, nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Tränen rannen über ihre Wangen und ihr Kopf war bis auf ein Sammelsurium von Flüchen komplett leer. Doch ihr Freund tauchte plötzlich wieder an ihrer Seite auf. Er sah sie hilflos an und berührte ihre Schulter. Die Berührung elektrisierte sie und endlich sprang sie auf. Sie angelte nach dem Visiopad am Boden, schaltete es aus und sprintete die Stufen hinauf, weg von den Unterlingen und wieder hinein in die Dunkelheit…
 
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Und wie geht es nun weiter? Hey Ihr könnt uns doch nicht so im Regen stehen lassen - wo bleibt die Fortsetzung?

CSFan84 (24.02.2006)

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