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Silvester beim Griechen

Romane/Serien · Winter/Weihnachten/Silvester · Erinnerungen
Im Verlauf der Geschichte waren sich denkende Menschen nicht immer einig darüber, ob man am Schlüsselloch der Welt mehr mit dem Auge oder mit dem Ohr erfährt.
(Gregor Brand)



Die deutsche Mentalität ist schon etwas eigenartiges. Aber auch etwas wunderbares. Bekanntlich kann je keiner aus seiner Haut ...


Die letzte Silvesterfeier verbrachten wir im einzigen griechischen Restaurant unserer kleinen Stadt. Alex, der Wirt, hatte in weiser Voraussicht nur Stammkunden berücksichtigt, da er sonst der Flut an Gästen nicht mehr Herr werden würde und locker zwischen drei bis fünf Silvester-Veranstaltungen hätte füllen können. Wir waren also sehr froh darüber, dass wir zu den 350 glücklichen Menschen zählten, die eine Karte für diese Veranstaltung ergattern konnten. Ursprünglich war eine Karte mit 39 €uro veranschlagt. Da wir aber unwissentlich erst Mitte August beschlossen diesmal in unserer Stadt den Jahreswechsel zu feiern, kamen wir etwas zu spät und waren deshalb sehr froh, dass uns Alex die beiden Karten für insgesamt 149 €uro doch noch überlies. Wir freuten uns diebisch darüber, dass wir sie ihm für diesen Schnäppchenpreis abhandeln konnten. Connections sind eben heutzutage schon die halbe Miete. Man muss nicht viele Leute kennen, aber eben die wichtigsten.
Wir feierten sonst immer auswärts, bei sehr guten Freunden im Norden der Republik, aber diesmal blieben wir in heimatlichen Gefilden und wollten sehen, wie man da ins neue Jahr hineinrutscht.

Kurz nach 20:00 Uhr hatten wir unseren anstrengenden 500 Meter langen Fußmarsch durch die kalte Winterlandschaft und den knöcheltiefen Schnee erfolgreich hinter uns gebracht. Vor dem Restaurant fielen uns drei Halbstarke auf, die sich daran ergötzten, jeden Neuankömmling mit Knallern zu erschrecken. Neben den drei höchstens 13-jährigen standen zwei große Flaschen Apfelkorn. Die hatten sie sich wohl nur deshalb besorgt, damit sie etwas Schutz vor der klirrenden Kälte finden konnten. An der Hauswand lehnten mehrere große Pakete, alle prall gefüllt mit knallbunten Silvester-Raketen. Was für eine Art von mittelschweren Kurzstrecken-Raketen sich darin befand konnten wir nicht feststellen, da wir leider der tschechischen Linguistik nicht mächtig sind. Wir machten uns unsere Gedanken, stiegen dann die lange Außentreppe nach oben und betraten mit knurrenden Mägen unser hiesiges Lieblings-Lokal. Das Knurren hörte man dort nicht mehr, denn die Stimmung war schon auf einen beachtlichen Lärmpegel angestiegen. Ein einzelner Musiker spielte gerade Sirtaki, die Gäste klatschten begeistert dazu und formierten sich zum Tanz. Wir zeigten dem Chef unsere beiden teuer erbeuteten Eintrittskarten. Er riss lächelnd einen Teil von ihnen ab und warf diesen mit in die große Lostrommel. Es gab nämlich als Belohnung fürs Kommen drei wunderschöne Preise zu gewinnen, die anhand der Eintrittskarten-Nummer dann nach Mitternacht gezogen werden würden. Danach geleitete uns Alex mit sehr freundlichen Gesten durch die johlende Menge zu unseren Plätzen und zündete dort am Tisch eine Kerze für uns an. Obwohl er sehr gut Deutsch spricht, war in diesem Moment keine Kommunikation mittels Sprache vorstellbar und somit machten wir ihm mit Händen und Füßen klar, dass wir uns sehr darüber freuten, direkt neben der großen Lautsprecherbox des Live-Musikers platziert zu werden. Unsere stille Hoffnung, dass dieser mal irgendwann im weiteren Verlauf der Nacht zum Jahreswechsel eine länger als zwei Minuten andauernde Pause machen würde, erwies sich jedoch schnell als fataler Trugschluss.

Wir zogen sofort unsere nassen Stiefel aus und versteckten diese unter der Sitzecke. Zum Trocknen stopften wir sie mit Servietten aus, auf denen einige Worte des Kurses „Griechisch für Anfänger“ abgedruckt waren. Meine etwas aus der Mode gekommenen weißen Socken versuchte ich so gut es ging zu verstecken, aber dies war nicht sonderlich schwer.

Als wir etwa fünf Minuten saßen hatten und sich unsere Augen allmählich an das schummerige Licht gewöhnt und wir ließen unsere Blicke in die Runde schweifen. Rechts neben uns am Nachbartisch saß ein junges Paar, deutlich unter 30. Er im feinsten Zwirn, gut bestückt mit dem neuesten Handy, mehreren teuren Ringen und Goldkettchen. Am Handgelenk war eine sehr teure Uhr sichtbar, die jedermann bewundern sollte. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft blitzten edelste Manschettenknöpfe. Die weibliche Begleitung unseres „Aufsteigers des Jahres“ war eine Art bis ins letzte Detail durchgestyltes Mode-Püppchen. Bei ihr war alles auf dem aktuellsten Stand der von den Designern angedachten Perfektion in Sachen „Wer ist die best angezogenste Frau des Jahres“? Von der Frisur bis zum großen Zeh war alles top. Es durfte eben nur kein Windstoß kommen oder kein schuh-unfreundliches Wetter herrschen.

Die große Tafel daneben war für alle Bediensteten und deren reiche Kinderschar gedacht. Wer gerade mal ein paar Minuten Zeit für ein Päuschen hatte, konnte sich dort kurz niederlassen. Die Kinder konnte man nicht zählen, aber so um die 17 Stück wirbelten gewiss in der Nähe des Tisches umher. Der Jüngste konnte gerade mal laufen, bei der Ältesten begann gerade der Busen zu wachsen.
Schräg vor uns am Tisch rechts saß ein älteres Paar so um die 60, außerdem befand sich der Vater des Mannes, der gewiss schon stolze 85 Silvester in diesem Leben hinter sich gebracht hatte mit am Tisch. Auf diesem hatten sie eine geheimnisvolle Tüte stehen, auf deren Inhalt wir schon sehr gespannt waren.

Einen Tisch weiter saß ein Paar um die vierzig, das offenbar sehr fürsorglich war, was die eigene Familie betraf. Damit die Tochter nicht allein zu Hause feiern musste, hatten sie diese einfach mit zum Griechen genommen. Deren Begeisterung über diese patriotische Tat hielt sich allerdings sichtbar in Grenzen. Sie wirkte etwas deplaciert und hing ein wenig not amused am Tisch herum, stand sie doch bestimmt schon kurz vor ihrer Volljährigkeit. Beim genaueren Hinschauen erkannte ich in dem Herrn Papa meinen Arbeitskollegen aus der anderen Schicht. Er erzählte oft von seinem tollen, wohl geratenen Töchterchen, das soeben 17 Jahre alt geworden war, weder rauchte, noch trank und immer pünktlich um 20:00 Uhr zu Hause war. Da sie sich auf ihr Studium konzentriere, hatte sie auch keine Zeit, einen Freund zu Hause anzuschleppen.

Zwei Drittel der anwesenden Männer waren in Anzüge gepresst, das andere Drittel ließ sein Hemd leger über der Jeans heraushängen. Die Frauen waren alle darauf bedacht, ihre schönsten Kleider zu präsentieren, die sie aber im Durchschnitt bestimmt seit 15 Jahren nicht mehr getragen hatten. Somit war fast jede anwesende Frau unter 50 also um mindestens 12 Jahre zu jung angezogen. Aber dies machte nichts, denn erstens hatte jeder mit sich selbst am meisten zu tun und zweitens war der gesamte Saal derart schwach ausgeleuchtet, dass Menschen ohne Brille dies kaum wahrnehmen konnten.

Endlich war es soweit, dass die 12 Kellner begannen, erste Versuche zu unternehmen, sich einen Weg durch die Massen zu bahnen, um die sitzenden Gäste zu befragen, nach welchen kulinarischen Genüssen deren Sinne gelüsteten. Geschickt nutzten sie also immer die minimalen Pausen, die der Musiker den Anwesenden gewährte und in denen er diese von seiner knarrenden Stimme und der leicht verstimmten Klampfe verschonte. War dies nicht möglich, malten die Gäste dem Kellnern einfach die Nummern der gewünschten Speisenfolge auf ihre Zettel. Kurz vor 21:00 Uhr wurden schon die ersten Vorspeisen serviert. Der tanzenden Menge des Publikums tat dies aber keinerlei Schaden, denn deren Zahl nahm nicht ab. Im Gegenteil, ihre Verrenkungen wurden immer lustiger für den Beobachter. Es störte sie auch wenig, dass sich das Repertoire des „singenden“ Musikers nur auf drei Lieder beschränkte. Der Gastgeber wäre also gewiss billiger davon gekommen, wenn er eine CD von Costa Cordalis eingelegt hätte. Zumindest hätte dies den Vorteil gehabt, dass dieser tatsächlich singen konnte.

21:05 Uhr! Der erste Lichtblick. Die bestellten Vorspeisen fanden sich tatsächlich auf unserem Tisch wieder. Mein Magen hatte sich sehr auf das Knoblauchbrot gefreut. Etwas enttäuscht musste er allerdings feststellen, dass es sich diesmal nicht um die gewohnten drei kleinen Schnitten handelte, sondern um ein komplettes großes Baguette, das mittels geschickter schräger Durchtrennung in Form von fünf riesengroßen Schnitten auf einer großen Platte vor mir lag. Daneben lag ein unscheinbares kleines Päckchen. Als ich im Halbdunkel gespannt den Inhalt dieses kleinen Päckchens ergründen wollte, wisch meine Anspannung schnell einer gewissen Enttäuschung. Meine verbliebenen Geruchsnerven teilten mir sehr nüchtern mit, dass es sich um 20 Gramm Knoblauchbutter handelte, die immerhin für das Bestreichen einer der fünf großen Schnitten gereichte. Außerdem stellte ich beim Verspeisen fest, dass das aufgebackene Brot mittlerweile wieder zu schnell erkaltet war, was offensichtlich am zu langen, von sich wild windenden Menschen oftmals blockierten, viel zu engen Weg von der Küche bis zu unserem Tisch zu liegen schien. Das Brot wurde zusehends wieder altbacken, also beschleunigte ich meine Kaubewegungen, damit ich nicht daran erstickte. Nach dem Verzehr einer Riesenschnitte war mein Magenknurren zumindest verschwunden. Meinen beginnenden leichten Frust spülte ich zunächst mit dem vom gestresst wirkenden Kellner kredenzten Gastgetränk herunter. Dummerweise hatte ich die Farben im schummerigen Licht ein wenig verwechselt, und so hatte ich meinen Magen auf den gewohnten Ouzo vorbereitet. Allerdings befand sich in dem halbvoll gefüllten Limonadenglas (wie man uns später auf Anfrage hin mitteilte) Sieben-Sterne-Metaxa, der nicht unbedingt zu meinen Lieblingsgetränken zählte. Als ich nun dieses edle Gesöff hinuntergestürzt hatte, stellte ich das leere Glas wieder zurück auf den Tisch. Meine Freundin musste zunächst lächeln über meine Mimik. Ich rang nach Luft und versuchte meinen beginnenden Brechreiz durch ständiges schnelles Schlucken von Speichel zu unterbinden. Nach ca. drei Minuten gelang mir dies auch. Es war auch höchste Zeit, denn meine Freundin drohte mittlerweile auch zu ersticken, allerdings an einem Lachkrampf. - Glücklicherweise wurde dann schon der Vorsalat serviert. Ich stellte also das restliche Knoblauchbrot zur Seite (als kleine Reserve, falls einem zu späterer Stunde noch einmal der Hunger überkommen sollte). Dann betrachteten wir in aller Ruhe das unter „kleiner Salatteller“ in der Speisekarte aufgeführte Gericht. Der „Teller“ war eine mittelgroße Salatschüssel, randvoll gefüllt. Diese bedeutete für jeden Normal-Sterblichen eine Art Hauptgericht. Allein von dessen Anblick wurde man schon satt. In weiser Voraussicht hatten wir auch nur einen Salat-Teller bestellt, und den anderen für notleidende, krächzende, die zwei Promille ansteuernden Sänger gespendet. Unsere selbstgebastelte Voodoo-Puppe hatten wir leider zu Hause gelassen; vielleicht brachte ja die humanere Variante mit der Salatschüssel ein uns befriedigendes Ergebnis in Sachen Musikpause.
Besagter Interpret bekam den für ihn angedachten „Teller“ auch sogleich und prostete übers Mikrofon uns, den edlen Spendern zu, so dass für 10 Sekunden alle Blicke auf uns gerichtet waren. Nach dem kleinen Ständchen, dass uns dann der gesamte Saal mittels ohrenbetäubendem Grölen zukommen ließ, schmerzten ein wenig meine infarktgefährdeten Ohren. Das Linke, das dummerweise in der Richtung meiner Freundin postiert war, befand sich schon längere Zeit auf dem Wege zum Gehörsturz.

Nun begannen wir also, uns an die Vernichtung der Vitamine zu machen. Aber selbst für zwei Personen war dieser Salatteller eine schier unlösbare Aufgabe. Wir stocherten also interessiert gemeinsam ein wenig darin herum und waren erstaunt wie viele Arten von Obst, Gemüse und Salat man in einer solchen Schüssel unterbringen und verstecken konnte. Während des Essens beobachteten wir den Nachbartisch, an dem der nette ältere Herr (der offensichtlich schon mit der beneidenswerten Gabe der Taubheit gesegnet war) seine Vorspeise serviert bekam. In einer Art mittelgroßer Pfanne mit Glasdeckel befand sich die Hühnersuppe. Er freute sich sichtbar auf deren Verzehr. Ohne groß zu überlegen und seiner vom Hunger übermannten Sinne beraubt, nahm er schnell den Deckel ab, hielt sein beeindruckendes Riechorgan über die Pfanne und schloss dabei genussvoll die Augen. Eine riesige Dampfwolke entwich in schnellem Tempo der Pfanne und schoss in sein Gesicht. Er zog es schnell zurück und schaute etwas bedeppert in die Runde. Allerdings nahm er diese nicht wahr, denn seine Brille war stark beschlagen. Schnell waren seine Tischmitbesetzer bemüht, diese zu reinigen. In der ersten Hektik fand man kein geeignetes Tuch, also nahm die Dame am Tisch das, mit welchem sie sich vorher den Mund genüsslich nach dem Verzehr ihrer Vorspeise (Schafskäse in Form eines großen Steaks) abgeputzt hatte. Auch ihre Augen schienen nicht mehr die besten zu sein, denn sie war schnell mit ihrem Ergebnis des Brille putzens zufrieden. Als der Opa sie wieder aufgesetzt bekam, stellte er fest, dass er nun noch besser nichts sah als vorher. Das Fett war schön gleichmäßig auf ihr verschmiert. Er schimpfte kurz mit seiner Schwiegertochter, schaute mit zusammengekniffenen Augen kurz in die Runde und reinigte dann kurzerhand seine Brille am Ärmel seines Hemdes. Mit diesem Reinigungsergebnis war er dann sehr zufrieden, ignorierte völlig die leichten Versuche seiner Schwiegertochter, empört mit ihm zu schimpfen und widmete sich nun endlich seinem wohlverdienten Mahle. Genüsslich schlürfte er die heiße Suppe. Offensichtlich wollte man ihm eine besondere Freude bereiten und hatte ihn erstmals mit zum Griechen genommen. Was die beiden an seinem Tisch dem älteren Herrn offenbar nicht gesagt hatten war, dass dies erst die Vorspeise war. Als er seine Vorsuppe in neuer Rekordzeit verschlungen hatte, drückte ihm die Blase. Er lies sich also den Weg zum Klo per Skizze von seinem Sohn erklären und nahm diese mit auf den langen Weg durch den Dschungel von sich immer wilder windenden nassgeschwitzten Körpern. Mit bewundernswertem Selbsterhaltungstrieb kämpfte sich unser rüstiger Rentner durch die Massen. Sein menschliches Bedürfnis schien also noch dringender zu sein als wir angenommen hatten.

Wir stocherten derweil weiter in unserer Schüssel und dankten allen vorbeitanzenden Sirtaki-Fans, die uns immer und immer wieder einen GUTEN APPETIT zuschrien. Nach ca. 12 Minuten machten wir uns dann allerdings ernsthafte Sorgen um unseren neuen Lieblings-Opa. Dieser war nämlich noch nicht wieder auf seinem Platze erschienen. Wir entwickelten die wildesten Theorien, was mit ihm los sei. These eins: Er hatte sich auf dem Klo verschanzt, um den wilden tanzenden Massen zu entgehen. These zwei: Er hatte sich verirrt und im Halbdunkel seine Skizze verloren, nun war er hilflos. These drei war allerdings die vernünftigste, denn sie war am einleuchtendsten: Sein Geschäft dauerte etwas länger, weil die scharfe Suppe nicht allzu lange in seinem Körper verweilen wollte. Gespannt schauten wir nun Richtung Toilette, wann wir denn nun endlich unseren Tischnachbar wieder zu Gesicht bekommen würden. Allerdings machte man sich am Nachbartisch selbst allmählich auch erste ernsthafte Sorgen um den verschollenen Rentner. Die Blicke erfüllten sich mit großer Sorge. Schließlich beschlossen die beiden, ihn gemeinsam zu suchen und begaben sich auf den Weg zum Klo. Wir wunderten uns zunächst dass beide als Suchkommando losmarschierten, fanden dies aber dann schnell sehr clever, denn wenn er sich auf das Damenklo verirrt hätte, würde man ihn auch schnell dort ausfindig machen. Kaum waren die beiden Sucher aus unserem Gesichtsfeld verschwunden (wir blickten immer noch zu zweit in besagte Richtung, wobei unser Hals schon allmählich steif zu werden drohte), schlug mir von der anderen Seite eine Hand kräftig auf die Schulter, so dass ich sehr erschrak. Unsere Köpfe schossen in die andere Richtung und wir stellten verwundert und gleichzeitig erleichtert fest, dass Der Rentner sich wieder eingefunden hatte. Er saß auf dem freien Platz an unserem Tisch, sichtlich erleichtert und schrie laut und vernehmlich: „DIETER, ICH BIN WIEDER DA!“ Wir mussten schmunzeln. Offensichtlich hatten seine Kinder vergessen, ihm den Rückweg mit einzuzeichnen auf dem kleinen Spickzettel. Allerdings kam er ja auch aus der falschen Richtung. Dann hätte er aber auch seinen ihm zugedachten Tisch wiederfinden müssen. Aber da dieser verwaist war, erklärten wir uns seinen Lapsus damit. Freundlich laut schreiend erklärten wir ihm mit Händen und Füßen, wo sein Platz im Saale war und dass wir nicht Dieter und Elisabeth waren. Er sah es ein und erkannte seinen Tisch an der geheimnisvollen Tüte, die er selbst darauf deponiert hatte. Er bedankte sich höflich und begab sich auf seinen Platz. Aus Dankbarkeit gaben wir ihm unsere immer noch randvolle Salatschüssel mit als Wegzehrung. Er nahm diese mit und stellte sie auf seinen Tisch. Kurze Zeit später kamen seine schweißgebadeten Kinder zurück und die Familie war wieder friedvoll vereint. Endlich mal eine Geschichte mit Happy-End, dachten wir so bei uns.

Am Yuppie-mit-Püppchen-Tisch begann nun auch die Stimmung zu steigen. Die dritte Flasche des teuersten Rotweines wurde gerade verkostet. Als der Kellner den Tisch verlassen hatte, kam unserem jungen Helden eine lustige Idee. Er befahl seiner Begleiterin, ihren ohnehin üppigen Ausschnitt noch ein wenig zu öffnen. Danach zielte er solange mit aus dem Sektkühler entwendeten Eiswürfeln dahin, bis einer von ihnen endlich seinen Weg gefunden hatte. Ihm machte dies sichtlich diebischen Spaß, ihr weniger, aber sie lächelte trotzdem sehr angetan von seiner Idee und lies alles unkommentiert über sich ergehen. Wahre Liebe kann so schön sein.

Plötzlich stand wieder der alte Mann an unserem Tisch und er übergab uns feierlich ein Relikt aus seiner geheimnisvollen Wundertüte, über deren Inhalt wir schon den ganzen Abend rätselten. Wir bedankten uns höflich und taten das, was er uns sagte. Also zog einer links und eine rechts an dem lustigen Knallbonbon. Der große Knall blieb allerdings aus. Stattdessen gab es eine Art Verpuffung. Wir klatschten artig Beifall. Den Opa freute dies sehr. Opas freut es immer, wenn sie anderen Menschen eine Freude bereiten können. Als sich die kleine Nebelwolke etwas verzogen hatte, suchten wir den Tisch ab, was denn nun das Knallbonbon zutage gefördert hatte. Wir wurden fündig. Da lag doch tatsächlich ein kleines Glücksschweinchen im Aschebecher. In seinem Maul hatte es ein kleines Zettelchen aus sehr billigem Papier, auf dem gerade noch so und mit allergrößter Mühe die Worte „Hoch lebe die DDR“ zu entziffern waren. Daraufhin schauten wir etwas befremdlich zum Nachbartisch. Wir gaben uns größte Mühe, dass unser Lächeln echt wirkte und nicht einfror. Natürlich musterten wir nun unsere Gegenüber etwas genauer. Am Nachbartisch brach gerade so etwas wie kollektives Lustigsein aus. Die Rentner drohten total auszuflippen. Ein Knallbonbon nach dem anderen wurde gezündet. Hach ja. Was waren das doch für schöne, glorreiche Zeiten, damals in der DDR. Die drei drohten in ihrer Entzücktheit zu kollabieren. Ein großer Nebelschwall lag über dem Tisch und verbreitete in unsere Richtung einen eigenartigen Geruch von beginnender Verwesung. Als sich dieser etwas verzog, entdeckten wir, dass sich auf dem freien Platz an diesem Vierertisch ein solcher Hut befand, den Erich Honecker immer gern bei öffentlichen Veranstaltungen zu tragen pflegte. Uns gefror das Blut in den Adern. Instinktiv untersuchten wir ganz unauffällig das Glücksschwein, das uns der Alte geschickt zugespielt hatte. Nicht dass wir mit dem kleinen Ding auch noch eine böse Überraschung erleben. Vielleicht war ja sogar ein Peilsender und eine Wanze im Schweinchen versteckt?? Man weiß ja nie, wie weit die Technik der Stasi mittlerweile fortgeschritten ist. Und von wegen es gäbe keine Stasi mehr! Die arbeiten doch jetzt aufs Engste mit der Russenmafia zusammen. Und wenn man sich die ganze Sache jetzt etwas genauer betrachtete; eine gewisse Ähnlichkeit mit Mielke konnte man dem Alten nicht absprechen. Aber war der nicht schon lange als tot gemeldet? Wie war der denn damals ums Leben gekommen? Ich glaube, als er den Satz „ICH LIEBE EUCH DOCH ALLE!“ von sich gab, ist er daran erstickt. Oder wie war das? Zumindest war das damals die offizielle Version. Oder?

Wir waren nun beide in Panik. Schweißgebadet. Deshalb ergriff ich mutig das „Glücksschwein“, in dem gewiss die modernste Technik schlummerte, nahm meinen ganzen Mut zusammen und wartete einen günstigen Moment der Unaufmerksamkeit ab. Endlich war er gekommen. Ich trank noch einen kräftigen Schluck Zielwasser und dann ließ ich es mit einem gekonnten Wurf im üppigen Ausschnitt des Yuppie-Püppchens verschwinden. Sie dachte wohl, es käme wieder von ihrem angehimmelten Begleiter und deshalb hauchte sie ihm entzückt einen kurzen, wollüstigen Schrei entgegen. Unser Aufatmen war sicher weit zu vernehmen. Uns fiel ein riesiger Felsbrocken vom Herzen.

Ein Blick zum anderen Nachbartisch verriet, dass dort mittlerweile geradezu ekstatische Zustände herrschten. Ungezählte Knallbonbons offenbarten ihren Inhalt auf dem Tisch. Alles, was aus der ehemaligen DDR noch mit rübergerettet wurde, zerplatzte nun wie Seifenblasen im muffigen Nebel. Als dieser sich etwas verzogen hatte, erkannten wir drei Gesichter in vollster Glückseligkeit. Die Augen des Opas begannen zu leuchten und er erinnerte sich sichtbar an ältere Silvesterfeiern zwischen 1930 und 1990.

Danach wurden wir wieder etwas abgelenkt. Der Kellner brachte den Hauptgang. Wie der noch in unsere Körper gebracht werden sollte ohne dass diese einen ernsthaften Schaden zu nehmen drohten, blieb uns ein großes Rätsel. Dummerweise hatten wir zweimal die Herkules-Pfanne bestellt. Na egal. Es war ja immerhin schon kurz nach 22:15 Uhr geworden. Als nun zum fünften Mal der jugendliche Animateur an unseren Tisch kam und wiederum viel zu höflich anfragte, ob wir uns nicht auch endlich mit in die immer länger werdende Sirtaki-Schlange einreihen wollten, erklärten wir ihm zum fünften Male ebenso freundlich, dass wir erstens nicht tanzen wollten und zweitens soeben unser Essen serviert bekamen. Wir wunderten uns allerdings ernsthaft über die schier unglaubliche körperliche Konstitution der immer noch unermüdlich Sirtaki tanzenden Massen. Wir hatten per Strichliste mitgezählt. Der krächzende Sänger brachte zum elften Male sein Lied „Das war der letzte Sirtaki“. Allerdings dachte der Interpret nicht im Entferntesten daran, seine zum wiederholten Male gemachte Drohung wahr zu machen. Und irgendwo taten uns die kleinen Kinder auch leid, die immer am Ende der langen sich in eigenartigen Bewegungen taumelnden Schlange mitgezerrt wurden und auch versuchten, mit im Rhythmus zu hüpfen. Wahrscheinlich bekamen die Kinder in Griechenland als erstes gelernt, wie man den Sirtaki tanzt. Das Laufen wurde ihnen offenbar erst einige Monate später beigebracht. Und das erste Wort das sie über ihre Lippen brachten war bestimmt nicht Mama oder Papa, sondern Hoppa.

Am Nachbartisch sahen wir, dass das wohlgeratene Töchterchen die Zeit der tanzenden Abwesenheit ihrer Eltern redlich nutzte und sich ein Gläschen Rotwein nach dem anderen munden ließ. Damit es nicht auffiel, hatte sie bei Alex die leere Flasche gegen eine volle eingetauscht.

Nun wurde es aber wieder einmal Zeit, etwas leckeres an Nahrung zu sich zu nehmen. Wir wünschten uns gegenseitig einen Guten Appetit und führten unseren ersten Bissen zum Munde. Justament in diesem Moment gab es einen fürchterlichen Knall. Die Kinder schauten verschreckt, die Musik unterbrach jäh. Der Opa, der sein Hörgerät wieder eingeschaltet hatte, rief laut, ob der Ami jetzt auch bei uns einmarschiere und kroch verängstigt unter den Tisch. Wir zogen auch instinktiv die Köpfe ein und schauten in die Richtung, aus der wir das laute Geräusch wahrgenommen hatten. Eine hysterisch schrille Frauenstimme schrie laut „FEUER!“. Daraufhin verfielen alle in Panik und versuchten schnellstmöglich in Richtung Ausgang zu rennen. Selbst der harte Kern der Sirtaki-Schlange löste sich erstmals an diesem Abend auf und jedes Ex-Mitglied versuchte als erster an der Ausgangstür zu sein.
Da entdeckte ich, was eigentlich passiert war. Wahrscheinlich war der Apfelkorn der drei Halbstarken daran schuld, der ihnen die verbliebenen Sinne mit Sicherheit vollends vernebelt hatte. Es war also keine amerikanische Bombe, sondern eine fehlgezündete Silvesterrakete, die eingeschlagen hatte. Diese war glücklicherweise am großen Stammtisch gelandet, dessen Gäste sich allesamt weit weg auf der Tanzfläche befanden und die kurz vorher die mindestens siebenundfünfzigste Sirtaki-Runde erfolgreich abgeschlossen hatten.
Nun begann allerdings ein kleines Flämmchen zu lodern, das sichtlich Gefallen an der neuen schönen Eckcouch gefunden hatte. Ich schaltete schnell. Aus Mangel an freien Wegen nahm ich die Abkürzung über die Tische. Einige Lammkeulen nebst Bratkartoffeln und Reis wurden dadurch schwerstens in Mitleidenschaft gezogen. Aber schließlich kam ich am Ziel an. Ich schnappte mir alle greifbaren Sektkübel und schüttete deren Inhalt über das lodernde Flämmchen. Und dies hatte Erfolg. Der Brand war gelöscht. Ein wenig ängstlich blickte ich in Richtung Gastgeber. Im gesamten Saal herrschte beängstigende Stille. Eigentlich wollte ich nur auf normalem Wege an meinen Platz zurück. Aber da sah ich, wie alle mit weit geöffneten Mündern standen, erstarrt wie Salzsäuren. Diese Lethargie löste sich aber dann sehr schnell auf. Jetzt entdeckte ich allgemeine Erleichterung in den glasigen Augen der Gäste. Alex’ Augen begannen zu leuchten. Er ist auch für seinen oft etwas schrägen Humor bekannt. Er nahm die größte greifbare Flasche Sieben-Sterne-Metaxa und rannte auf mich zu. Dann durchbrach er die Stille mit den Worten „Unser Held hat eine Belohnung verdient!“ Während einer der Bediensteten das Fenster notdürftig mit dicken Pappen verklebte und die Scherben eiligst wegfegte, johlten die Massen laut und klatschten ohrenbetäubenden Applaus. Ich lehnte dankend das Angebot von Alex ab, aber er war durch nichts von seinem Vorhaben abzubringen. Er nahm also das nächste, greifbare Glas und füllte es randvoll mit dem edlen Gesöff. Der Clou bestand nun darin, dass er das Getränk mittels seines Feuerzeuges vor den Augen aller in Brand setzte. Es dauerte ein ganzes Weilchen, ehe die hohe Stichflamme sich selbst gelöscht hatte. In dieser Minute hatte ich Zeit, meinen Körper auf das vorzubereiten, was ihm nun wieder bevorstand. Die Flamme war gestorben und Alex teilte mir mit einem freundlichen Augenzwinkern mit, dass es bei ihm zu Hause Sitte sei, dieses Glas nun mit einem Zuge zu leeren. Es gab also kein Entkommen und keine Ausreden mehr. Ich fügte mich in mein Schicksal. Alle Blicke waren nun auf mich gerichtet. Ich holte noch einmal ganz tief Luft und schüttete dann mit einem süß-sauren Lächeln den gesamten Inhalt des mir freundlich unter die Nase gehaltenen viel zu großen Glases schnellstmöglich in mich hinein. Die Massen tobten hysterisch. Ich rang nach Luft. Meine Kehle brannte. Alle inneren Organe zogen sich zusammen. Mein Magen rebellierte. Alles um mich herum verschwamm. Die johlenden Menge verschwand hinter einem eigenartigen Schleier. War der Nebel jetzt schon im Saal? Alex gab mir dann den Gnadenstoß, als er laut schrie, dass die Fete jetzt normal weitergehe. Alle prosteten mir zu und die Musik betäubte wieder meine inzwischen halbtauben Ohren. Dann nahm Alex mich, den Tanzbär, an die Hand und forderte mich auf, auch zumindest eine Runde Sirtaki durch den gesamten Saal mit ihm zu tanzen. Wer konnte bei solch einer netten Einladung des Hausherren schon nein sagen? Erst jetzt bei dem Gehüpfe merkte ich, dass ich in Socken dastand. Der linke Fuß schmerzte wie verrückt, aber ich hatte keine Zeit, mich um die Ursachen dessen zu kümmern. Ich bekämpfte immer noch erfolgreich mein unbedingtes Bedürfnis, mich an Ort und Stelle übergeben zu müssen. Alex nahm mich in den Arm und versuchte mir die Reihenfolge der Hüpf-Schritte zu erklären. Ich gab mir größte Mühe die Beine so zu verknoten wie er es vormachte, schaffte aber beim besten Willen nur eine Fünf minus. Wir bewegten uns aber trotzdem mehr schlecht als recht vorwärts. Immer mehr begeisterte Fans schlossen sich uns an. Ich, der Schlangen-Kopf, führte geschickt den gesamten Tross Richtung Toilette, die sich selbstredend genau am anderen Ende des Saales befand. Mein Magen signalisierte mir zunehmend, dass er absolut keinen Bock habe, auf weiteres Gehüpfe. Glücklicherweise hatte ich es dann geschafft! Ich war vor dem WC angekommen und verabschiedete mich freundlichst aus der tanzgeilen Gemeinde. Die Karawane zog weiter, ich am Spülhebel (dies hatte der vorherige Benutzer des Klos vergessen). Ich genoss die geradezu göttliche Ruhe hinter den zwei verschlossenen Türen. Mein Ohr pfiff beängstigende Töne in meinen Kopf, mein Magen verkrampfte sich vollends. Dann unterbrach ich die Ruhe durch das erlösende Geräusch welches entstand, als ich mir den Sieben-Sterne-Metaxa nochmals durch den Kopf gehen ließ. Durch dieses Rückwärts-Kauen wurde mir wohler. Mein Magen entkrampfte sich zusehends. Mir wurde ganz wohl ums Herz. Ich begann, wieder klare Bilder zu sehen. Als mein Magen sich leer gepumpt hatte, ging es mir wieder gut. Allerdings stellte ich so ganz nebenbei fest, dass es viele Gäste mit der Hygiene auf dem WC in Restaurants nicht so genau nahmen. Ich fragte mich, ob es bei denen zu Hause auf der Toilette auch so aussah. Wohl kaum, aber das ist ja auch eine ganz andere Baustelle.

Endlich fand sich Zeit, sich um meinen schmerzenden linken Fuß zu kümmern. Etwas verwundert überlegte ich, ob ich tatsächlich zu Hause eine weiße und eine rote Socke angezogen hatte. Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Eigentlich konnte ich mich überhaupt nicht daran erinnern, jemals rote Socken besessen zu haben. Ich hasste diese Dinger nämlich wie die Pest! Bei genauerer Untersuchung stellte sich die Ursache des Farbrätsels schnell heraus. In der eingefärbten Socke befanden sich noch zwei kleine Glasscherben, die ich mir wohl beim Löschen des Feuers vor Ort als kleine Andenken an die geborstene Fensterscheibe eingetreten hatte. Schnell waren die entfernt und ich wartete, bis die Blutungen aufgehört hatten.
Zwischenzeitlich kam ein Besoffener aufs Klo. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Irgendwie sah er aber auch gefährlich aus. Er war so Ende Fünfzig. Seine stahlblauen Augen musterten mich durchdringend. Dazu raspelkurze graue Haare und diese kleine Nickelbrille. George Clooney? Nein. Dazu sah er zu gut aus. Da ich aber sowieso mehr mit mir zu tun und keinen Bock auf Quiz hatte, gab ich die Sucherei in meinem vernebelten Hirn auf.
Der Typ sah meine Verletzung und sagte, er sei Chirurg. Er fragte, ob er amputieren solle. Ich verneinte und antwortete ihm, dass wir es erst einmal so versuchen. Wenn es denn nichts brächte, käme ich morgen dann nochmals auf sein Angebot zurück. Er war einverstanden, gab mir seine Visitenkarte und verließ die Toilette mit einem laut schallenden „Hoppa Sirtaki!“ Mir lief dann beim genaueren Blick auf das kleine Kärtchen ein Schauer über den Rücken. Der Typ war tatsächlich Chirurg gewesen ...

Als ich in den Spiegel über dem Waschbecken schaute, stellte ich fest, dass mein ehemals blütendweißes Hemd doch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen worden war. Es roch etwas komisch. Ich wusch es aus, so gut es ging. Nun überlegte ich mir, wie ich wohl den schlechten Geschmack aus meinem Mund bekäme. Beim Händewaschen kam mir die zündende Idee. Ich nahm mir eine ganze Hand voll der wohlriechenden Flüssigseife und saugte sie in meinen Mund. Danach tat ich so als wenn ich Zähne putzte und gurgelte auch damit. Beim ausspucken bildeten sich riesige Schaumblasen. Das war recht lustig anzuschauen. Ich spülte noch ein paar Mal mit Wasser nach. Jetzt roch ich wieder gut und konnte wieder unter Menschen gehen. Ich war zufrieden mit mir. Und Hunger verspürte ich auch wieder, wie das nun mal so ist, wenn man irgendwo mit leerem Magen herumsitzt..

Als ich wieder an meinem Tisch ankam, sah ich gerade noch, wie eine animalisch tanzende Blondine mein Bierglas mit auf die nächste Sirtaki-Rundreise nahm und genüsslich daran sog. Aber das machte mir nichts aus. Ich gab Alex ein Zeichen und keine 20 Sekunden später stand wieder ein volles Bierglas auf dem Tisch. Ich trank einen kräftigen Schluck und deponierte es neben mir auf der Eckcouch, damit es nicht wieder von Unbefugten entwendet werden konnte. Ich freute mich auf mein Hauptgericht und darüber, dass meine Freundin gewartet hatte mit ihrem Mahl und nicht derweil alleine gegessen hatte. Wir wünschten uns also nochmals guten Appetit und schlossen genüsslich die Augen als wir die Gabeln mit den leckeren Speisen erneut zum Munde führten. Was wir allerdings nicht bedacht hatten war, dass das Essen nun mittlerweile völlig kalt geworden war. Na egal. Wer Hunger hat lässt sich von derartigen Lappalien nicht stören bzw. aus der Ruhe bringen. Wir würgten uns also das Zeug rein und spülten kräftig nach. Als der Teller leer war, kam sofort der Kellner angeschossen und fragte, ob es uns geschmeckt hatte. Da wir noch am letzten Bissen würgten, nickten wir anerkennend mit den Köpfen und prosteten ihm zu. Und er wars zufrieden. Wir warens auch. Und darüber hinaus freute es uns, dass wir an dem trockenen Fleisch und den klumpigen Bratkartoffeln nicht erstickt waren. Freut euch des Lebens war die Devise. Ich stellte so ganz nebenbei fest, dass ich von nun an lieber schwieg, denn meine Freundin lag vor Lachen fast unter dem Tisch. Jedes Mal wenn ich etwas erzählte, entfleuchten meinem Munde wieder einige lustige, bunte Seifenblasen. Ab jetzt hatte sie also bis auf Weiteres das alleinige Sagen bzw. Schreien am Tisch.

Mitleidig blickten wir wieder auf die mitgeschleiften Kinder in der Sirtaki-Schlange. Deren Begeisterung für diesen Volkstanz nahm zusehends rapide ab. Das schien aber die erwachsenen Mit-Tänzer nur wenig zu stören. Das alte Jahr wand sich in den letzten Zuckungen. Die Tänzer auch. Dachten wir. Aber weit gefehlt. Mittlerweile war es schon kurz nach 22:45 Uhr.

Plötzlich geschah ein Wunder. War unser Flehen von höchster Stelle doch noch erhört worden?
Ohne ersichtlichen Grund versagte die Stimme des Alleinunterhalters endlich ihren Dienst. Kollektives Aufatmen bei der kleinen Gemeinde der Nicht-Tänzer. Endlich würde es besser werden. Aber denkste! Während sehr mäßiger Applaus den verhinderten Interpreten freundlich verabschiedete, ergriff Alex das Mikrofon und teilte den versammelten, gespannt drein schauenden Gästen mit, dass er für einen derartigen Fall natürlich vorgesorgt hatte. Dann stellte er einen sehr jungen Mann vor, der ab jetzt als DJ fungieren würde. Ein Blick in die Gesichter spiegelte geteilte Meinungen wider. Von totaler Freude bis zu absoluter Abneigung war alles vertreten. Denn der Jung-DJ war ein allen sehr gut Bekannter. Es handelte sich bei ihm nämlich um den Animateur, der mindestens jede Frau im Saale mindestens viermal sehr freundlich aufgefordert hatte, mit der Meute Sirtaki zu tanzen.
Zunächst baute unser neuer Allein-Unterhalter zwei große Bongos auf der kleinen Bühne auf. Den Test mit angeschlossenen Mikrofonen bestanden sie mit einem Sehr Gut. Das Hörgerät des Opas vom Nachbartisch wurde vorsorglich in der Handtasche seiner Schwiegertochter deponiert.

Der sehr junge DJ begrüßte alle Gäste nochmals auf das Herzlichste und legte heiße Rhythmen auf. Uns flogen fast die Ohren weg. Jetzt war offenbar endlich die große Stunde für das wohlgeratene Töchterchen gekommen. Ihre mittlerweile sehr glasigen Augen begannen zu leuchten. Ihr Gesichtsausdruck hellte sich auf und entspannte sich zusehends. Es war soweit. Sie wiegte mit angewinkelten Armen auf ihrem Sitz im Takte der Musik. Als dann Christina Aguilera gespielt wurde, war alles zu spät. Der Platz war zu eng. Sie zog schnell ihre Stiefelchen aus und tanzte auf dem Stuhle. Soweit wir dies beurteilen konnten, waren ihre Bewegungen perfekt. Wahrscheinlich hatte sie heimlich immer sehr lange vor dem Fernseher „Dirty“ geübt. Allerdings stimmte die Kleiderordnung noch nicht ganz mit der ihres großen Idols überein. Und so tanzte sie sich in eine Art Ekstase. Die Bewegungen wurden wilder, die Einengung durch zuviel Ballast auf ihrem Leib nahm zu. Also entledigte sie sich so allmählich dessen. Allerdings kam die Oma, die direkt mit dem Rücken zu ihr saß, nicht umhin, völlig empört den Kopf zu schütteln. Natürlich brachte dieser stumme Protest sehr wenig, denn die verkappte Christina hatte sich schon in eine Art Trance gewunden und schloss deshalb genüsslich die Augen zu ihrem Tänzchen. Die Bongos gossen zusätzliches Öl ins Feuer. Die ältere Dame die mit dem Rücken zu der jungen Tänzerin saß, schaute etwas pikiert zu ihr auf, als deren dünnes Hemdchen auf ihren Kopf landete. Das zum Vorschein kommende Bustier verbarg mehr schlecht als recht einige nette Sachen, die nicht von schlechten Eltern sein konnten. Die kunstvollen, lange einstudierten Verrenkungen waren wirklich beeindruckend, wurden sie doch zunehmend immer perfekter. Sie wand sich jetzt schon mit so elegantem Hüftschwung, wie ihre musikalische Göttin persönlich. Allerdings passte ihre Hose irgendwie nicht zu diesem Bild. Deshalb begann sie sich auch ganz langsam dieser zu entledigen. Inzwischen hatten sich etliche männliche Fans in unmittelbarer Nähe der jungen GoGo-Tänzerin eingefunden. Sie klatschten und feuerten diese mit aufmunterndem Pfeifen frenetisch an. Als sie dann nur noch in sehr gewagtem Tanga und Bustier dastand, raste die Fangemeinde - die übrigens nicht alle die Hemden über der Jeans heraus hängen hatte, sondern auch viele Anzugträger beherbergte - und schrie „Ausziehn, ausziehn!“ Die Eltern machten zwar gute Mine zu dem wundersamen Spiel und setzten extrem gezwungene Lächelmasken auf. Aber jetzt wurde es dem Herrn Papa dann doch etwas zu bunt. Er unterband das bunte Treiben mit einem energischen Faustschlag auf den Tisch jäh und half seiner Tochter wieder beim züchtigen bedecken ihres makellosen Körpers. Das Ankleiden ging doppelt so schnell wie das Entkleiden vonstatten. Das Töchterchen verneigte sich mit einem netten Knicks vor ihren Fans und eine halbe Minute später war der Spuk vorbei. Das von uns beobachtete nachfolgende Gespräch zwischen den hin- und hergerissenen Eltern und der Nachwuchs-Christina konnten wir anhand der Gesten nur erahnen. Das Töchterchen fragte wohl „Bin ich jetzt ein Superstar? Meldest Du mich dort an, Papa? Oder bei STAR SEARCH? Bist Du stolz auf mich?“ Papas Mimik ließ darauf schließen, dass er sich ernsthaft mit dem Gedanken trage, die sicher extrem schwindsüchtige Familienkasse tatsächlich mittels einer derartigen Aktion wieder ein wenig aufzupäppeln. Aber vielleicht war er ja auch zu besoffen, um in diesem ungünstigen Moment eine Entscheidung zu treffen, die eine Tragweite besitzt, die für die weitere Zukunft der Familie noch gar nicht richtig einzuschätzen ist. Deshalb vertagte er dies auf einen ihm günstiger erscheinenden Termin.

Dar DJ legte also neu auf. Jetzt war es richtig heiß auf dem Parkett. Der Yuppie schnappte sich die Christina und schleifte sie über die Tanzfläche. Sie legten ein heißes Tänzchen hin und etliche folgten ihnen. Das Püppchen schaute etwas verstört und giftig. Wutentbrannt konterte es. Sie schnappte sich den jungen DJ-Animateur und tanzte noch eine Spur schärfer mit ihm. Da es für ihn etwas neues zu sein schien, derart eng mit einer Frau zu tanzen, hüpfte er mit hochrotem Kopf übers Parkett, genoss aber sichtlich den Körperkontakt. Als das Lied zu Ende war, musste er sich wieder um seinen Job kümmern. Wir beobachteten, dass derweil ein Mann mit langem schwarzen Ledermantel seinen Freiluftrundgang nebst Frau beendet hatte und er nun vorn bei Alex stand und mit sehr ernster Mine mit ihm diskutierte. Seine raspelkurzen grauen Haaren und die kleine Nickelbrille kamen mir sehr bekannt vor. Tatsächlich. Es war der Mann vom Klo. Auch der Opa beobachtete diese Szene und fragte sehr laut, ob die amerikanischen Sekten inzwischen soweit wären, Dr. Mengele wieder ins Leben zurück zu klonen. Der Opa machte einen total geschockten Eindruck. Ich ging zum Nachbartisch und beruhigte ihn. Ich erklärte ihm, dass der Mann am Tresen zwar tatsächlich Doktor wäre, aber er sei nur ein Chirurg. Als Beweis meiner Ausführungen legte ich ihm zu deren Untermauerung und zur allgemeinen Beruhigung die Visitenkarte des Herrn bei, die mir auf dem Klo ausgehändigt wurde. „Für den Fall der Fälle“ fügte ich noch hinzu, „man kann ja nie wissen ...“ – Der Dank des erleichterten Opas war mir gewiss und ich war froh, dass ich diese Visitenkarte endlich los war. Auch jüngere Menschen freuen sich, wenn sie Älteren mal etwas Gutes tun können.

Die Rede des kurzgeraspelten Nickelbrillen- und Ledermantel-Trägers schien aber von Erfolg gekrönt zu sein. Alex zeigte sehr schnell Wirkung und gab dem DJ ein energisches Zeichen, dass dieser bei ihm sofort antanzen solle. Der tat, wie ihm geheißen. Nach einer kurzem Standpauke schlich er gesenkten Hauptes und sehr bedröppelt auf seine Mini-Bühne und verkündete übers Mikrofon, dass nun etwas Musik für die älteren Gäste an der Reihe wäre.
Wieder geschah etwas wundersames. Fortan erschütterte deutsches Volksliedgut den Saal in seinen Grundfesten. Selbst die Bongos schwiegen ehrfürchtig. Der Opa war von alledem sehr ergriffen. Er ließ sich von seiner Schwiegertochter wieder sein Hörgerät aushändigen und lauschte andächtig mit feuchten Augen und beschlagener Brille den durch Mark und Bein gehenden Stimmen von Heino und Peter Alexander. Jetzt war es also soweit. Die Rentner übernahmen das Kommando. Hüftsteife Körper wiegten sich gemächlich im Dreivierteltakt über die Tanzfläche. Auch der nette Herr, der dies alles eingefädelt und somit auch ganz allein zu verantworten hatte, tanzte mit seinem holden Weibe mit dem etwas zu geburtenfreudig geratenem Becken freudvoll mit. Eigentlich sah er jetzt gar nicht mehr so schlimm und gefährlich aus, wie ihn der Opa ursprünglich und offenbar viel zu voreilig eingestuft hatte. Der Mann konnte sogar lächeln. Jawoll! Pure Glückseligkeit spiegelte sich in seinen stahlblauen Augen wider, die er hin und wieder sogar genussvoll schloss.

Allerdings begann sich mein Magen schon wieder zu verkrampfen. Meine Ohren verweigerten allmählich ihren Dienst. Die Rentner hatten wohl alle ihre Hörgeräte gedrosselt und nahmen somit den Lärm nur ganz leise wahr. Die Vibrationen der Schallwellen allein taten schon sehr weh. Da die Rentner aber kaum etwas zu hören schienen, versuchte nun jeder einzelne von ihnen, so laut mitzusingen, dass sie sich selbst hören konnten. Was für ein Spektakel! Den Kindern gefiel es. Sie tobten ebenfalls laut schreiend durch den Saal. Gemeinsam mit der Fraktion der Nicht-Sirtaki-Tänzer hatten sie alles im Griff. Uns dürstete nach angenehmeren und erholsameren Klängen. Aber es bestand absolut keine Chance auf Besserung. Wir gelobten, nie wieder etwas Negatives gegen den Sirtaki vorzubringen ...

Nun war es an der Zeit, das Eis als Nachspeise zu servieren. Dies ging deshalb etwas schleppend und immer nur tischweise vonstatten, weil offenbar mindestens 150 Eisbecher zu wenig im Hause waren. Das Eis schmeckte bescheiden und war genau das richtige für unsere schon stark in Mitleidenschaft gezogenen Mägen. Der Brechreiz nahm wieder kontinuierlich zu.

Mittlerweile war es ja auch schon deutlich nach 23:00 Uhr. Die kleinen Kinder versuchten nun aus Mangel an Platz auf der vorgesehenen Tanzfläche, die lustigen Bewegungen der tanzenden Rentner vor Ort zu imitieren. Das sah noch skurriler aus als im Original. Wir bogen uns vor lachen. Der Opa hingegen tippte mit sehr ernster Mine immer und immer wieder auf seine alte Taschenuhr, um der wild umherspringenden Horde von Kleinkindern zu bedeuten, dass ihre Zeit für diesen Tag abgelaufen sei. Es sollte wohl heißen, dass die Polizeistunde nun langsam gekommen sei und die Kinder dringend ins Bett müssten. Alex’ an Opas Tisch gesandter Kellner bedeutete dem alten Herrn aber sehr freundlich, dass in Griechenland die Taschenuhren ein wenig anders gingen.

Allmählich musste sich Alex etwas einfallen lassen, damit die Stimmung nicht kippte. Denn die Nicht-Rentner saßen nun seit geraumer Zeit gelangweilt auf ihren Plätzen und tranken mit einem leichten Anflug von Verzweiflung lustlos ihren Alkohol. Da kam Alex die zündende Idee. Er besann sich auf eine alte griechische Tradition. Er ging in die Küche und holte einen riesigen Stapel von Tellern, die alle schon kleine Risse hatten. Gekonnt balancierte er diese durch die Menge und lies über den DJ mitteilen, dass er etwas Platz bräuchte. Inzwischen hatte sich eine riesige Menge an sensationshungrigen Leuten in der Nähe der kleinen Bühne versammelt, um ja nichts zu verpassen. Alle harrten der Dinge, die nun kommen sollten. Und dann ging es los. Alex zerschlug einen Teller nach dem anderen unter dem tosenden Applaus aller Umherstehenden. Danach tanzte er mitten im Scherbenhaufen. Die Art der Bewegungen erinnerte an eine Bauchtänzerin. Einen imponierenden Bauch hatte er zwar, aber sonderlich gut tanzen konnte er nicht. Vielleicht lag das ja aber auch an der Unmenge Scherben unter seinen Füßen. Alle jubelten ihm zu und fanden das gesamte Geschehen sehr interessant. Vor allem die Kinder. Als Alex dann die Tanzfläche verlassen hatte und alle Scherben in drei großen Eimern weggeräumt wurden, damit die Rentner wieder ihrem Hobby frönen konnten, kamen die Kids auf eine lustige Idee. Sie beschlossen, den Kellnern tatkräftig unter die Arme zu greifen. Sie nahmen also alles was an Geschirr greifbar war und räumten es ab. Allerdings rannten sie mit den teilweise noch halbvollen Tellern in die falsche Richtung und zerdepperten diese dann laut johlend vor der Tanzfläche. Die aufgeschreckten älteren Tanzpaare räumten das Feld. Der schnellstens herbeigeeilte Wirt hielt eine sehr ernste und sehr laute Rede in der Landessprache, deren Sinn aber gewiss nicht von allen Kindern verstanden wurde. Worin bestand nun eigentlich der Unterschied? Wenn der Wirt die Teller zerkloppt ist es eine Art heiliges Ritual und somit völlig okay, wenn die Kinder ihm behilflich dabei zur Hand gehen wollen, ist es wiederum falsch. Das verstehe wer will. Aber Alex’ Ansprache hatte sichtbar gefruchtet. Als man weitere drei Eimer voll ehemals noch gutem Geschirr in Form von Scherben weggeschafft hatte, ging die Party wie gewohnt weiter.

Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es mittlerweile Fünf vor Zwölf war. Der spannende Moment begann. Auf jedem Tisch stand eine Sektflasche. Die Männer versuchten sich alle an der hohen Kunst deren unfallfreier Öffnung. Dies alles klappte glücklicherweise ohne schwere Verletzungen. Die letzte Minute des Jahres verlief ebenfalls relativ ruhig. Die Musik wurde unterbrochen und die letzten 20 Sekunden wurden dann von allen laut im gemeinschaftlichen Chor rückwärts gezählt. Punkt Mitternacht gab Alex fünf laut bellende Salutschüsse aus einer Pistole ab, die sein Ur-Großvater offensichtlich als kleines Andenken aus dem ersten Weltkrieg mit herübergerettet hatte. Einigen älteren Damen fiel bei dem ohrenbetäubenden Knallen vor Schreck das Sektglas aus der Hand. Dies war aber nicht weiter tragisch, denn bekanntlich bringen Scherben ja Glück. War unsere Wahrnehmung mittlerweile nachhaltig gestört? Spielten uns unsere Augen einen Streich? Waren das frische Löcher in der Decke? Aber dies konnte ja gar nicht sein, denn auf dem Boden lagen ja die wild verstreuten Platzpatronen. Die allerdings wiederum sahen verdammt echt aus. Dies dachte sich offensichtlich auch der Opa vom Nachbartisch, der sich erschrocken mit erhobenen Händen und den Worten, „Dieter, die Russen kommen!“ wieder auf seinen zweiten Stammplatz unter selbigem begab. Sein Sohn konnte ihn allerdings nach einigem guten Zureden davon überzeugen, dass er mit seinem Zittern aufhören könne, da sich Alex nur einen Scherz erlaubt habe. Oder es sei eben so Sitte in Griechenland. Das überzeugte den alten Herrn, der dann im Stehen mit seinen beiden Lebensrettern auf das neue Jahr anstieß. Wir taten dies auch, wie alle im Saal.

Danach wollten so ziemlich alle das soeben begonnene Jahr im Freien begrüßen und begießen. Und so begab es sich, dass sich ein ungeordnetes Gedränge in Richtung Ausgang anbahnte. Wir blieben noch sitzen und wollten noch ein wenig abwarten, bis das Gedränge etwas nachließ. Außerdem hatte man uns ja schon vor Urzeiten gesagt und beigebracht, dass man älteren Menschen stets den Vortritt lassen sollte. Wir beobachteten, dass es plötzlich an der Garderobe sehr laut wurde. Zwei ältere Damen stritten sich lautstark um einen dicken Wintermantel. Beide hatten wohl schon reichlich dem Alkoholgenusse gehuldigt, weit mehr als sie sonst ihren Körpern zugemutet hatten. Wahrscheinlich hatten sie sogar an diesem einen Tage soviel Alkohol zu sich genommen, wie insgesamt im ganzen vergangenen Jahr zusammen nicht. Wir rieben uns verwundert die gequälten Augen, denn es war ja kaum zu glauben was wir da sahen und hörten. Verändern sich die Menschen mit der Zeit oder verändert die Zeit die Menschen? Wir waren etwas baff, erkannten wir doch in einer der wütenden und geifernden Weiber (ähm Damen natürlich!) unsere ehemalige Schulzahnärztin wieder, die uns schon vor Jahrzehnten, als wir noch kleine, unbescholtene Knirpse waren, immer ermahnte, höflich, freundlich, zuvorkommend und nett zu jedermann zu sein.
Jetzt in diesem Moment, in dem sie mit all ihren zur Verfügung stehenden Mitteln und Kräften um einen Mantel kämpfte, giftete sie ihr Gegenüber mit den übelsten Worten an, die ihrem Munde wohl jemals entfleucht sind. Ihr momentaner Sprachschatz entsprach dem kompletten Vokabular eines heute 15-jährigen. Wir waren etwas erschüttert, denn bis zum heutigen Tage hatte zumindest ich mich immer treu und brav an ihre Gebote gehalten. Nun aber war ich schwer am Zweifeln. Mein einstiges Idol so zu sehen; mir blutete das Herz. Sie war immer auf Akkuratesse und Etikette bedacht. Wir einigten uns also darauf, dass bei der Erziehung ihres Enkels irgend etwas schief gegangen sein musste. Aber wer hat dessen Eltern erzogen? Wahrscheinlich hatte unsere Zahnärztin immer bis spät abends mit der Erziehung ihrer Patienten zu tun und deshalb viel zu wenig Zeit, sich um Wohl und Wehe ihrer Kinder zu kümmern. – Na jedenfalls ging der Kampf um den Mantel unentschieden aus, da keine der beiden streitsüchtigen Damen auch nur einen Millimeter Boden preiszugeben bereit war. Wieder einmal entspannte Alex die Situation indem er beim Mantel suchen behilflich war. Schließlich fand sich der verschollene Mantel ein und jeder hatte etwas zum überstreifen gefunden. Man kehrte zur alten Nettigkeit zurück und war fortan wieder darauf bedacht, Etikette zu wahren. Allerdings hatte der Hut, den sich unsere ehemalige Zahnärztin dann aufsetzte sein Verfallsdatum schon am Ende der Charleston-Ära überschritten. Aber das macht ja heutzutage nichts. Es kann nichts schaden wenn man etwas aufbewahrt, denn sobald irgendein Hollywood-Star dann mal bei der Oscar-Verleihung so ein Ding trägt, ist es sofort wieder todschick, modisch gesehen der letzte Schrei und nur noch für überteuerte Preise im Fachgeschäft zu erstehen.

Gegen halb eins waren dann alle wieder im Saal, hatten sie sich doch genügend ergötzt an der bunten Farbenvielfalt der für teures Geld in die Luft geschossenen Silvester-Raketen. Die älteren Herrschaften ließen es etwas besinnlicher angehen und erfreuten sich am Abbrennen von kleinen Wunderkerzen in der Hand.

Der Opa war nun schwer gezeichnet durch die ihm zugemuteten Strapazen. Er wollte dringend nach Hause in sein Bett. Aber es gab kein Erbarmen! Er musste bis zur Verlosung durchhalten, es könnte ja sein, dass man einen der ausgelobten Preise gewinnt. Also zog es der alte Herr vor, seinen Kopf auf den Tisch zu legen und ein kleines Nickerchen zu machen. Das Hörgerät übergab er wieder der Handtasche.

Die Yuppie-Braut wurde von ihrem Herrn und Gebieter genötigt, mal schnell ihren Busen blitzen zu lassen, damit dieser per MMS an all seine Freunde versandt werden konnte. Den eigentlichen Sinn dieser versteckten Botschaft verstanden wir nicht so recht, aber es freute uns mit anzusehen, dass es dem angehenden Foto-Modell sehr zu gefallen schien. Kate Moss hätte ernsthafte Angst vor ihrer gefährlichen Konkurrentin bekommen.
Die kleinsten Kinder vom Kellnertisch waren inzwischen alle mit blutenden Ohren und Füßen von selbst umgefallen und wurden dann der Reihe nach von ihren vorsorglichen Eltern ins Bett gebracht.

Allmählich trat also wieder Normalität ein. Unsere Fußnägel rollten sich mittlerweile nach oben. Die größeren Kinder hingen total ab, wurden aber auch weiterhin mitgeschleift. Die nun bestimmt schon 107-te Sirtaki-Runde durch den kompletten Saal hinterließ erste Spuren. Die Frauen, die von Anfang an dabei waren und ihr lustiges Tänzchen nur deshalb unterbrachen, um ihren Alkoholspiegel auf einem Level in der Nähe der 1,8-Promille-Marke zu halten, wirkten schwer gezeichnet. Ihre Gesichtsfarbe glich mittlerweile der einer Kalkwand, aber dies allein war natürlich kein Grund, die Füße still zu halten. Man tanzte sich in eine Art Trance. Mittlerweile war es nicht mehr wichtig, welche Art von Musik gespielt wurde, es wurde zu jedem Lied Sirtaki getanzt. Die Reihen der Tänzer lichteten sich nun aber sichtlich, auf dem Klo herrschte offensichtlich Hochbetrieb. Einige fanden in den langen Schlangen dort keine entsprechende Zeit mehr und zogen es deshalb vor, vor die Türe zu gehen, dort konnten sie bequemer dahin kotzen, wo sie wollten.

Gegen ein Uhr standen plötzlich drei junge Menschen in der Tür und wünschten ein gesundes neues Jahr. Die drei schwerstens Tätowierten hatten vorsorglich jeder eine Flasche Whisky mit, um Alex und seinen Kellnern keinen zusätzlichen Stress zu machen. Auch tranken sie gleich direkt aus der Flasche, um weiteren Aufwasch zu sparen. Neben den beiden jungen Männern stand eine halbnackte Göttin. Ihre Kleiderordnung und auch das sonstige Drum und Dran erinnerte stark an Christina Aguilera. Oder wars Dolly Buster? Egal. Dem Yuppie blieb das Maul offen stehen und er begann zu sabbern. Die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf und die Zunge hing etwa einen halben Meter aus seinem Mund. Er sah aus wie Derrick in seinen besten Tagen. Sein Püppchen sah das und boxte ihm giftig dreinschauend in seine Weichteile. Mit schmerzverzerrtem Gesicht musste er daraufhin ein kleines Zettelchen unterschreiben, dass er nur sie liebe. Dies tat er dann auch. War das jetzt schon eine Art Ehe-Vorvertrag? Bestimmt. – Trotzdem verfolgte er den Weg der drei neuen Gäste, die sehr zielstrebig Kurs auf Richtung des Tisches nahmen, an denen das Mustertöchterchen mit ihren Eltern saß. Wir vernahmen noch die Worte der Christina Buster, die leicht lallend meinte: „Na alte Kampftrinksau, was treibst Du Dich denn mit Deinen beiden Grufties hier in dieser Rentner-Disko rum?“ Danach besorgten sich die drei netten jungen Leute noch Stühle von den halbverwaisten Nachbartischen und nahmen Platz bei der Vorzeige-Familie. Dem Papa schlief das Gesicht ein und Frau Mama rang unsicher nach Fassung, lächelte sehr gezwungen. Die beiden schauten sich das alles ein Weilchen an, zeigten aber wenig Begeisterung an ihren neuen Tischgästen. Irgendwie schien es auch wenig Gesprächsbedarf zwischen den Generationen zu geben. Irgendwie wurde es dem Herrn Papa irgendwo und irgendwann zu bunt und er schleifte gemeinsam mit den zwei kräftigsten Kellnern die drei Tätowierten zur Tür hinaus. Von selbst hätten sie dies bestimmt nicht mehr geschafft, waren sie doch mittlerweile derart abgefüllt, dass sie nicht mehr wussten, ob sie Männlein oder Weiblein waren. Als der Herr Papa wieder an den Tisch zurückkehrte, kehrte das Lächeln in sein Gesicht zurück. Auch die Frau Mama wirkte erleichtert. Auch ihr Gesichtsausdruck entspannte sich allmählich. Aber so richtig glücklich wirkte sie nicht. Trotzdem ging sie mit ihrem Mann auf die Tanzfläche und legte wie wild los.

Mittlerweile war es halb zwei. Die ersten Ermüdungserscheinungen stellten sich nun auch bei uns ein. Der Zustand unserer Lauschorgane war als sehr ernst zu bezeichnen. Die absolute Taubheit hatte sich allerdings noch nicht eingestellt. Aber der eigentliche Höhepunkt der Nacht stand nun unmittelbar bevor. Die Spannung stieg auch minütlich. Alex betrat nun endlich die Bühne. Ein kleiner aber wirksamer Bongo-Wirbel durchbrach die plötzliche Stille. Tusch!! Die von Alex auserkorene rot getünchte und sehr offenherzige Glücksfee, an der der Chirurg offensichtlich seine Meisterprüfung abgelegt hat, dachte zunächst, dass die dreihundert Euro in Alex’ Hand für sie seien, als eine Art kleiner Lohn für ihre bevorstehenden Dienste. Alex erklärte ihr jedoch idiotensicher, dass dies der von ihm gesponserte dritte Preis sei.
Danach erläuterte er ihr noch, wie man die Lose aus dem kleinen Topf zieht. Tatsächlich schaffte sie das dann auch. Als erstes nannte sie die Nummer des dritten Preises. Sogleich brach Jubel im Saale aus. Gezogen wurde die Nummer des Yuppies. Der freute sich sehr, schickte aber, weil ihm wohl seine Füße inzwischen weitestgehend den Dienst versagten, sein hübsches Girlie nach vorne. Sie schnappte sich also ihr schickes Handtäschchen, das die amerikanische Fahne darstellte. Eine nette Mode-Idee. Als sie auf der Mini-Bühne ankam, fragte Alex, ob er das Geld, das er ihr sehr werbewirksam unter die Nase hielt, gleich direkt auf das Konto ihrer Kinder überweisen solle. Der Yuppie grinste breit, sein Püppchen lächelte ein wenig unsicher und hauchte dann ins Mikrofon: „Sex habe ich mit meinem Freund zwar sehr oft, sehr gerne und sehr lange, aber die Zeit für eigene Kinder fehlt uns beiden. Zumal mein Freund momentan beruflich sehr eingebunden und ganz viel unterwegens ist, auch in den Nachtstunden. Aber wir lieben uns ganz doll und Kinder mag ich sehr.“ Alex sah dies natürlich ein und fragte das kinderliebe Püppchen deshalb gleich, ob er denn dann einen Teil des Geldes in ihrem Namen sogleich für die Kinder im Iran oder im Irak spenden solle. Nun wurde sie ganz unsicher. Der Yuppie schrie deshalb von seinem Platz aus, dass dies momentan nicht möglich sei, weil sie jeden Cent für ihr neues Haus und insbesondere den beheizten Swimming-Pool benötigen würden. Dies sah natürlich dann jeder der Anwesenden ein und alle verabschiedeten das Püppchen mit warmen Applaus von der Bühne.

Die Spannung stieg allmählich. Nun wurde der zweite Preis verlost. Es ging um den Satz Autoreifen. Wahrscheinlich liebäugelte der Yuppie damit, auch diesen zu gewinnen. Aber dies klappte nicht. Es wurde eine andere Nummer gezogen. Die Frau, die diesen schönen Preis gewann, brauchte ein wenig länger, ehe sie den Weg bis zur Mini-Bühne bewältigt hatte. Sie war sicherlich noch einige Jährchen eher geboren, als der schlummernde Opa. Die Oma freute sich sehr über ihren Gewinn, wusste allerdings nicht wie sie diesen nach Hause transportieren sollte. Der Yuppie schrie nach vorne, ob sie mit ihm tauschen wolle. Geld gegen Reifen. Sie verneinte. Alex fragte, was er denn mit den vier nagelneuen Reifen in seinem Swimming-Pool wolle. Alle lachten über diesen gelungenen Gag, nur der Yuppie selbst nicht. Als die Oma mit ihren vier Reifen verabschiedet wurde, stieg die Spannung nochmals. Wer sollte der glückliche Gewinner der Reise auf den Olymp werden? Bongo-Wirbel erhöhte die Spannung. Danach war es soweit. Der Name des Gewinners wurde verlesen. Alle warteten auf ihn und schauten gespannt in die Runde. Aber da kam niemand. Man durchsuchte das Klo. Man schaute nach draußen. Man weckte sogar den Opa. Aber der Gewinner war nicht auffindbar. Er hatte es offensichtlich vorgezogen, aus welchen Gründen auch immer, die schöne Veranstaltung schon vorzeitig zu verlassen. Warum eigentlich? Stimmungsmäßig war doch für jede Altersgruppe etwas dabei. Schade, aber man kann es eben nicht immer jedem recht machen.

Nachdem die Verleihung des ersten Preises in Abwesenheit auch abgeschlossen war, beobachteten wir, wie der inzwischen total zugedröhnte Yuppie am Nachbartisch sich irgendwelches, geheimnisvolles Pulver in die Nase zog. Wir dachten ja immer, Niespulver sei etwas aus der Mode, aber bei dieser Saukälte zieht man sich halt schnell mal eine Erkältung mit rein. Und dagegen hilft dann eben dieses Pulver. Niesen befreit die Nase von Rotz und somit klingt dann die Erkältung schneller ab, weil ja die Nase frei ist.
Nun versuchte er, die nächste Champagnerflasche zu öffnen. Als der Korken langsam kam, zielte er in seinem nicht mehr zu steuerndem Übermut Richtung Ausschnitt seines Püppchens. Diese ging geistesgegenwärtig in Deckung und rutschte dabei unter den Tisch. Kurz darauf pfiff der Korken der Flasche in atemberaubender Geschwindigkeit über sie hinweg. Wir kamen uns vor wie bei dem ersten Teil von „Matrix“, denn auch bei uns liefen mittlerweile die Bilder sehr langsam, in einer Art Zeitlupe ab.
In der Spur des Korkens befand sich ein orgiastischer Schwall von edelstem Champagner. Das Püppchen wollte gerade wieder auftauchen um diese prickelnde Dusche in den vollsten Zügen zu genießen, als der Korken in die große Skulptur einschlug, auf die Alex immer so stolz war. Es war ein Geschenk, dass ihm Costa Cordalis persönlich überreichte, als dieser zur Eröffnung seines Lokales als vielumjubelter Ehrengast ein legendäres Live-Konzert dort gab. Die Statue verlor den Kampf gegen den superschnellen Korken und nahm den Weg nach unten. Auf dem Boden zerfiel sie in tausend Teile. Opa tauchte wieder ab und schrie so laut er konnte „Rettet Euch, bin Laden ist hier!“ Alex konnte jedoch die Situation retten und verhinderte somit eine erneute Panik im Saal. Gedankenschnell schnappte er sich wieder zwei Eimer und füllte diese mit den Scherben des Kolosses von Rhodos in Miniaturausgabe. Wenn er mal sehr viel Zeit hatte, konnte er ihn ja wieder zusammenpuzzeln.
Der Yuppie war wie gelähmt, steckte dem verdutzten Chef schnell und möglichst unauffällig die soeben gewonnenen 300 Euro zu und fragte, ob das für die Reparatur ausreiche. Alex verneinte. Daraufhin holte der Yuppie seine American Express Card heraus und lies von Alex eine Summe seiner Wahl davon abbuchen. Dieser bedankte sich höflich und brav mit einem freundlichen Knicks und tippte wohl eher versehentlich eine Null zuviel ein.

Die allgemeine Aufbruchsstimmung wurde jetzt intensiv forciert. So nach und nach verließen die älteren Semester die Veranstaltung. Für den Opa waren die Strapazen dann doch zu viel. Er schlummerte selig dahin und war nicht mehr wach zu bekommen. So blieb seinem Sohn und dessen Frau nichts anderes übrig, als ihn anzukleiden und dann in ihre Mitte zu nehmen. Sie schleiften ihn dann auf diese Art aus dem Saal und wahrscheinlich bis nach Hause, nach großem, oft gesehenen Sirtaki-Vorbild.

Jetzt, wo etwas Ruhe eingekehrt war, zogen wir unsere Schuhe wieder an, so richtig trocken waren sie aber noch nicht. Wir begaben uns auf die Tanzfläche. Dort trafen wir auch meinen Arbeitskollegen mit seiner Frau. Ihr Lächeln war zurückgekehrt und die schiefen Zähne blitzten wieder freundlicher. Die Gesichtszüge entspannten sich durch das Tanzen zusehends. Nach fünf Liedern waren wir außer Puste und begaben uns wieder auf unseren Platz. Das Bier schmeckte jetzt noch besser. Nach den ersten fünf Schlucken saß plötzlich mein völlig aufgelöster und schluchzender Arbeitskollege neben mir. Er hielt mir eine Serviette unter die Nase und bat mich, das darauf Gekritzelte zu lesen. Ich erwiderte, dass ich nicht ein Wort griechisch könne und auch kein Interesse daran habe, dies zu ändern. Er schluchzte jämmerlich und legte seinen Kopf an meine Schulter, ausgerechnet an die Stelle meines ehemals blütend weißen Hemdes, die etwas komisch roch. Ich ließ ihn hemmungslos weinen und strich ihm sanft über den Kopf. Als er sich wieder etwas eingekriegt hatte, fragte ich, was denn nun eigentlich in ihn gefahren sei, dass er mit derartiger Ergriffenheit das neue Jahr beginne. Er erläuterte mir mit tränenerstickter Stimme, dass sein wohlgeratenes Töchterchen unauffindbar wäre und nur diese kleine Notiz hinterlassen hatte, während wir alle auf der Tanzfläche herumgetobt haben. Ich drückte ein Auge zu konnte auf der Serviette mit sehr großer Mühe das entziffern, was das Töchterchen dort hinterlassen hatte. Sie sei mit einem gewissen Daniel zu ihrer tätowierten Freundin gegangen, um dort weiter zu feiern.
Einige Leute hätten die beiden eng umschlungen und knutschend zur Tür hinaus gehen sehen.
Als ich gerade nachdachte wer Daniel sei, hörte ich das Püppchen, das soeben von einem längeren WC-Besuch zurückkehrte, hysterisch „DANIEEEEEEEL?“ schreien. Sie hielt auch eine Serviette in Händen, auf der ein ähnlicher Text stehen musste wie auf der, die ich gerade gelesen hatte. Nun versuchte ich gemeinsam mit meiner Freundin, den geschockten Herrn Papa ein wenig zu trösten. Wir erklärten ihm, dass es auch sein Gutes hätte, wenn sie mal ihr Handy ausgeschaltet ließe. Das spart viel Geld. Meine Freundin teilte ihm mit, dass alles halb so schlimm wäre. Danach packte den Herrn Papa ein neuer, noch heftigerer Weinkrampf und er fragte, was er und seine Frau bei der Erziehung falsch gemacht hätten. Meine Freundin sah ihn schmunzelnd an und versuchte einen kleinen Gag. „Alles oder Nichts!“ meinte sie. Doch irgendwie ging das nach hinten los. Er verstand diesen doppeldeutigen Satz nicht. Seine Laune kehrte nicht wieder auf das Level zurück, auf dem sie sich noch zu Beginn der Veranstaltung befand. Deshalb sagte ich ihm, sein Töchterchen wird schon morgen wieder zurückkehren, denn allein von Alkohol könne sich kein Mensch lange ernähren. Er schluchzte, sah es aber irgendwie ein. Danach ging in seinem Gesicht eine wundersame Wandlung vor sich. Er bedankte sich bei uns, lächelte und seine Augen begannen zu funkeln. Danach schnappte er sich seine Frau, zahlte die Zeche und sie gingen eiligen Schrittes nach Hause. Wir schauten uns an und mussten schmunzeln. Wer weiß denn schon, wie lange die beiden Mustereltern wegen ihres sehr anhänglichen Töchterchens keine sturmfreie Bude mehr hatten ...

10 Minuten später beobachteten wir, wie sich ein langhaariger Typ sehr rührend um das traurige Püppchen kümmerte, die ihm das durch innigstes Geknutsche auch entsprechend dankte. Er sah allerdings so aus, als wenn er nur auf das Geld in ihrer Handtasche scharf sei. Aber das ging uns ja letzten Endes nichts an.

Allmählich begannen auch die jüngeren Leute, ihre Zelte abzubrechen. Alex hatte auch bei uns die Rechnung hingelegt und war danach gleich wieder abgehauen. Hatte er ein schlechtes Gewissen? Wir bezahlten also, als wir uns in die lange Schlange mit eingereiht hatten, die sich langsam und sehr mühsam Richtung Ausgang bewegte. Die Leute quetschten und schoben, als wären wir auf der Titanic und es wurde dort soeben über Lautsprecher mitgeteilt, dass diese untergehe. Als wir bei Alex angelangt waren, schob ich ihm den Zettel mit der Rechnung von 89,55 Euro hin und legte einen 100-Euro-Schein darauf. Eigentlich hatte ich ja damit geliebäugelt, 10 Euro von ihm zurück zu bekommen, aber er bedankte sich nur höflich und wünschte uns einen guten Nach-Hause-Weg. Ich wollte noch etwas fragen, kam aber nicht dazu. Er hatte schon den nächsten großen Schein in der Hand, den ihm unser Hintermann zugesteckt hatte. Auch dieser wartete vergeblich auf eventuelles Wechselgeld.

Endlich im Freien angekommen, kam sogleich auf der Treppe der Mann mit dem Hammer. Alles um uns herum drehte sich wie wild. Es war eine hohe Kunst, die Schritte so zu setzen, dass man nicht in einen der vielen Kotzhaufen trat, die sich wohlwollend vom frisch gefallenen Schnee abhoben. In einer Art Slalomlauf musste man sie im schwer betrunkenen Zustand versuchen zu umgehen, eine um diese Zeit gar nicht so einfache Angelegenheit, die letzten Endes auch nicht vom erwünschten Erfolg gekrönt war.

Endlich zu Hause angekommen verspürten wir Hunger. Während meine Freundin alle Verwandten und Bekannten anrief und ihnen alles Gute zum Neuen Jahr wünschte, suchte ich den Kühlschrank nach etwas Essbarem ab. Ich fand ein paar Wiener Würstchen und wollte diese in der Mikrowelle warm machen. Diese versagte aber ihren Dienst. Also servierte ich die Würstchen kalt und legte die Reste des mitgebrachten Knoblauchbrotes dazu. Dessen Zustand war inzwischen als knochenhart zu definieren. Wir weichten es deshalb mit etwas Sekt im Munde auf. Als wir mit dem Mahl fertig waren, machten wir uns noch ein wenig Gedanken, wo wir das nächste Silvester feiern wollten. Unseren Freunden in Norddeutschland hatten wir schon vorsorglich in den vorangegangenen Silvester-Telefonaten abgesagt. Begründung: Wir sind jetzt auf dem Multi-Kulti-Trip und werden deshalb den nächsten Jahreswechsel beim Chinesen feiern. Gleich morgen früh wollten wir unsere Karten dafür reservieren lassen. Die Idee dazu kam uns, weil im Fernsehen nun mittlerweile das lustige Silvester-Programm zu Ende war und endlich wieder zur Normalität übergegangen wurde. Da lief ein uriger Karate-Film, bei dem Chakie Chan in jeder Minute mindestens drei Feinden gekonnt das Genick brach.

Nach dem zweiten Gläschen Sekt beschlossen wir, dass unser nächstgeborenes Kind, egal für welches Geschlecht es sich denn dann entschiede, in jedem Falle den Namen Alex Sirtaki erhalten würde. Um den Worten auch Taten folgen zu lassen, verknoteten wir anschließend unsere Beine und sprangen mit einem laut vernehmbaren HOPPA ins Bett. Da der Lattenrost derartiges seit geraumer Zeit nicht mehr gewohnt war, krachte er durch und wir lagen eine Etage tiefer. Wir lösten unsere Verknotung und kämpften uns aus dem Bett, hatten aber keine Lust, dieses jetzt wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu bringen. Wir gingen ins Wohnzimmer. Ich überließ meiner Herzdame die Couch, deckte sie liebevoll zu und gab ihr ein Küsschen. Da mittlerweile schon wieder der Morgen graute, löschte ich das Licht und ließ vor meinem geistigen Auge nochmals die schönen und spannenden Bilder der vergangenen Nacht vorüberziehen. Dabei schlief ich entspannt verspannt in meinem Fernsehsessel ein.


Die deutsche Mentalität ist schon etwas eigenartiges. Aber auch etwas wunderbares. Bekanntlich kann je keiner aus seiner Haut ...



(geschrieben Anfang Januar 2004)
 
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Kommentare  

Lach, kann das einer toppen?

Frauke (11.07.2006)

saustark!

Torret-Syndrom (16.03.2005)

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