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HEUTE

Schauriges · Kurzgeschichten
In Gedanken versunken geht Andreas über die Karlstraße, seine Schwester wie jeden Werktag abzuholen. Sie öffnet per Summer die Eingangstür des Mehrfamilienhauses, kommt ihm bereits auf der Treppe entgegen.
Wie von ihm erwartet, wirkt sie auch heute wieder angespannt. Ihr fröhliches Lächeln, das ihn früher immer bereits in den frühen Morgenstunden begrüßte, erhellt seit einiger Zeit nicht mehr ihre Züge.
"Was ist los mit dir?"
"Nichts!"
"Nu' komm' schon. Ich kenne dich seit fast 30 Jahren. Ich merke, wenn dich etwas bedrückt."
"Sicher? Sei beruhigt, mir geht es gut, wirklich."
"Na ja, wenn du es sagst."
Sie können sich Zeit lassen auf ihrem gemeinsamen Weg Richtung Hauptbahnhof.
"Seit Murads Tod bist du verändert, aber das ist verständlich. Ihr seid ein tolles Ehepaar gewesen."
"Danke."
"Entschuldige, jetzt habe ich eine Narbe aufgerissen."
"Stimmt, verheilt ist die noch lange nicht."
"Er fehlt auch mir, weißt du? War immerhin mein bester Freund."
"Ja."
"Lass‘ uns das Thema wechseln."
Sie erreichen die Fußgängerampel am großen Bahnhofsvorplatz, auf dem bereits zu dieser frühen Stunde reges Treiben eingesetzt hat, warten auf Grün.
"Ist dir nicht warm, Sabine?"
"Zzzabina!"
Deutlich beharrt sie auf die arabische Aussprache ihres Vornamens.
"Nein, ist es nicht."
"Nicht, dass du krank wirst. Ist doch nicht normal, im Hochsommer mit einem übergroßen Winterpulli, der deiner Figur gar nicht schmeichelt, ´rum zu laufen."
"Der ist nicht "übergroß". Der ist von Murad."
Andreas schaut seine Schwester betreten von der Seite an. Werden ihre Augen feucht?
"Murad ist für die richtige Sache gestorben."
"Na ja, etwas fanatisch angehaucht war seine Aktion nun doch. Damit hätte ich nie gerechnet."
"Was heißt schon "fanatisch"?"
"Du kannst seinen Kampf akzeptieren?"
"Ja!"
"Bist du zum Islam konvertiert?"
"Ja, vor einigen Jahren. Als der Ruf, dem er folgen musste, stärker zu werden begann."
Andreas schaut seine Schwester verwirrt an. Das hätte er niemals erwartet.
"Auch wenn Murad mir hier sehr fehlt, hat er sich für seine Überzeugung eingesetzt. Ich tröste mich mit dem Wissen, dass wir uns eines Tages in einer anderen, besseren Welt wieder begegnen werden."
"Ganz bestimmt."
Die automatischen Türen des Hauptbahnhofes öffnen sich, lassen sie eintreten in den Ameisenhaufen morgendlicher Betriebsamkeit.
"Oh Mann, zu Wochenanfang ist hier immer noch mehr los als sonst!"
"Es muss sich halt lohnen."
Ein Junge auf einem Skateboard weicht ihnen im letzten Moment aus.
"Manchmal dauert das Warten auf Erlösung länger, manchmal geht es sehr schnell."
"Oh ja, wer weiß das schon."
‚Sabine grübelt zu viel!‘, ist er sich sicher.
"Entschuldige, könntest du mir im Bahnhofskiosk ein Käsebrötchen holen? Ich habe noch nicht gefrühstückt."
"Klar, du kannst ja langsam zum Bahnsteig vorgehen."
"Danke."
Die Druckwelle einer teuflischen Faust trifft ihn nach wenigen Schritten, schleudert ihn plötzlich durch die Luft. Hitzige Feuerzungen lecken über seinen Rücken, verbrennen Kleidung und Haut.
Zutiefst erschüttert schaut er sich nach Sabine um, legt im stillen Wissen die Hände vor seine Augen, lässt den Tränen freien Lauf.
Ihre dunklen, ausdrucksstarken Augen vor sich sehend, erinnert er sich:
"Manchmal geht es sehr schnell!"
 
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Kommentare  

nachdenklich machende realität---in der heutigen zeit immer möglich!!!!

klausiemausie


anonym (30.12.2008)

das ist ja traurig. niemand weiß, was der nächste augenblick bringt.
gruß von rosmarin


rosmarin (19.03.2007)

heftig...

darkangel (19.03.2007)

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