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5 Seiten

80 Jahre Gott und Teufel

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Roschti
Ich sass auf einer Bank, habe nichts gemacht, nichts gesagt, nicht einmal gedacht. Es war August, Ende August. Im Schaufenster des gegenüberliegenden Sportgeschäfts waren die Puppen mit dicken Daunen- und Skijacken angezogen. Über den Puppen stand in großen roten Buchstaben geschrieben: „Winter-Vorsaison- 20% Rabatt.“ Da ich in diesem Moment an diesem Augusttag nichts gedacht, nichts getan und nichts gesagt hatte, nahm ich dieses Ausstellfenster so entgegen ohne mir was dabei zu denken.

Und plötzlich erschrak ich, ich erschrak weil aus dem Nichts, das mich auf dieser Bank umgab ein harsches „Unglaublich, das ist unglaublich“ an mein Ohr drang. Es waren nur Worte, vier Worte die nicht wirklich ausgesprochen wurden sondern einem flüsternden Murmeln glichen. Das Murmeln drang näher und näher an mein Ohr, es umschloss meine Ohrmuschel, eng anliegend, ließ nicht mehr locker. Schon fast bedrohlich umklammerte es mich. Mir war unwohl, so unwohl, dass ich meinen Kopf zur Seite, wo das Flüstern herkam, schlug und kreischend schrie: „Was verdammt noch mal ist denn so unglaublich?“

Nach diesem Bruch, dem Bruch aus meinem eigenen Nichts guckten mich zwei grüne Augen an, nicht verwirrt oder beschämt, wie man meinen könnte, das es der Fall wäre, wenn man gerade von einer völlig unbekannten Person scheinbar grundlos angeschrien wird. Im Gegenteil die Augen guckten verspielt mit einem gewissen Schalk der in den Pupillen aufblitzte.
Der zu den Augen gehörender mit rotem Lippenstift geschminkter Mund erwiderte: „Na das!“
Ich wusste nicht was mit „Na das!“ gemeint war, hatte aber auch nicht genug Ansporn danach zu fragen.

Der rote Lippenstiftmund begann sich zu bewegen und schlug mit Buchstaben, die sich zu Worten zusammenschlangen und Worte die zu Sätzen wurden nur so um sich. Ich wollte aufstehen und gehen, aber wann immer ich den Versuch unternahm die Beine zu strecken und zu bewegen war ich wie gelähmt, es war als würde von den Worten meiner Sitznachbarin ein Seil ausgehen, dass mich fesselte und so blieb ich sitzen und lauschte:

Wissen sie, ich bin heute 80 Jahre alt und habe mich in meinem Leben oft gefragt: „Was wäre, wenn? Was wäre, wenn die Dinge, wenn die Weltgeschichte anders verlaufen wäre?
Ich erinnere mich an den Börsencrash vom 24 Oktober 1929, sie wissen schon der schwarze Donnerstag. An diesem 24. Oktober war ich zu klein um zu verstehen was genau vor sich ging, aber ich erinnere mich an aufgeregte Bilder aus Amerika von aufgeregten Menschen, die aufgeregt handelten. Später in meinem Leben habe ich gelernt, dass der Börsencrash zustande kam, weil die Menschen sich zu sehr an den Erfolg gewohnt hatten, in der Euphorie vergaßen, dass jeder Erfolg eine Gefahr birgt.

Ich denke dieser Börsencrash war ein Ereignis, das es nur deshalb gab, weil andere Ereignisse und Umstände es hervor gezwungen hatten. So war dieser Börsencrash Auslöser der Weltwirtschaftskrise, die wiederum verursachte den zweiten Weltkrieg und dieser hatte zur Folge, dass es in den 50er und Anfang der 60er Jahre strikte Regel gab, welche keine Abweichungen zuließen weil man nach dem Chaos und den schrecklichen Ereignissen des zweiten Weltkriegs einfach nur seinen Frieden und die verdiente Ruhe wollte.
Das Leben ausnahmslos nach Regeln zu leben, funktioniert aber nicht, es sei den man bestimmt die Regel oder sucht sich diese zumindest selbst aus.
Der Protest gegen die Sturheit dieser Zeit ist wohl der Grund weshalb sich in den 70er Jahren Männer die Haare wachsen ließen und Frauen barfuss durch die Strassen gelaufen manchmal sogar getanzt sind.
Nur die 80er und 90er Jahre kann ich so nicht erklären...aber habe ich denn nicht etwas vergessen?
Ach ja natürlich der Bau der Berliner Mauer, dieses Monstrum hatte die Welt ja auch dem zweiten Weltkrieg zu verdanken. Anfang und Mitte der 80er als die DDR und die Sowjetunion langsam zu bröckeln begannen, wurde England von Margareth Thatcher privatisiert. Die Regel, die sich die Briten ganz bestimmt nicht ausgesucht hatte, lautete: „Entweder ist alles privat oder überhaupt nichts“ Tja die meisten Bewohner der Insel hatten alles, nur nichts Privates, was auch wieder nichts ist. Gegen diesen Umstand musste was unternommen werden: Die jungen Menschen färbten sich die Haare, grün, blau und rot und machten mit Gitarren einen lauten Krach; der Punk war geboren.
Durch den Fall der Mauer vom neunten auf den zehnten November 1989 fühlte sich der Punk bestätigt und ging noch einige Jahre bis in die frühen Neunzigern seinem Treiben nach. Ab Mitte der Neunziger gab es nicht mehr allzu viele Dinge, welche nach Aufstand verlangten; die Punkbewegung wurde abgeschwächt.

Statt die Rebellion durch Aufständigkeit zu demonstrieren haben sich die westmitteleuropäischen Ländern dazu entschlossen Altbewährtes zu erhalten und nicht mit immer neuen Dingen für Aufregung zu sorgen; Deshalb wurde das Recycling erfunden. Mitte der 90er Jahre löste die PET- Falsche auch Polyethylenterephthalatflasche genannt, die Glasflasche ab. Die Möglichkeit, dass Scherben fallen, wurde eliminiert. Stattdessen recyceln wir Petflaschen, die wir kaufen, leer trinken und wieder zu der exakt gleichen Flasche recyceln. Und das tun wir seit gut 15 Jahren.“

Der Mund, welcher jetzt nicht mehr so rot war wie noch vor 20 Minuten, da der Speichelfluss der durch das Reden in Gang gesetzt wurde, die Lippenstiftfarbe etwas abwusch, machte jetzt eine Pause. Nur damit sich die grünen Augen umso heftiger bewegen und glasklar in den trockenen Augusttag scheinen konnten.

Nach diesem Augen-Mund Kampf übernahm der Mund wieder das Ruder. Mit weiten offenen Bewegungen formte er den Satz: „Aber was wäre, wenn? Was wäre, wenn es diesen Börsencrash nie gegeben hätte, machen wir ein Gedankenexperiment“:

„Der Börsencrash hat es nie gegeben, die Spekulationsblase welche die Wirtschaft zum glühen brachte, hält bis heute an!
Die Menschen der USA schwimmen im Geld und weil sie davon mehr als genug haben, geben sie dem vom ersten Weltkrieg geschädigten Deutschland und dem restlichen Europa einen erheblichen Teil ab. Es gibt keine Misere und deshalb auch keinen Grund irgendjemanden die Schuld an der Misere zu zuschieben. Keine Misere, keine Schuld, kein Hitler.“

Stille- der Mund war geschlossen, die Augen starr, spielende Kinder, welche Sekunden zuvor noch munter um die Bank auf der wir saßen, geturnt sind, bewegten sich jetzt laut- und klanglos wie Geister die 2cm über dem Asphalt schwebten. Der Verkehrslärm war weg. Autos fuhren ohne Motor. Diese Stille hielt nur ganz kurz an, so kurz wie ein Blitz an einem dunklen Gewittertag hell aufleuchtet- ein, zwei Sekunden. Und dann donnerte die Stimme aus dem kirschroten Mund, der jetzt fast blutrot wirkte hinaus in die Hitze, die sich anfühlte wie das Feuer in der Hölle.

„Keine Schuld bedeutet aber nicht Unschuld!“ Die Menschheit der USA und Europa ist reich, wohlhabend, allen geht es gut, niemandem fehlt es an etwas! Dennoch haben einige ein wenig mehr als andere. Mehr Geld, mehr Kleidung, mehr Essen, vielleicht auch nur mehr Freiheit oder mehr Selbstbewusstsein.
Erkennen was andere mehr haben, mehr können und mehr wollen ist genug um Ängste zu schüren, zu meinen man bleibt im Regen stehen. Hat man Angst, viel Angst fängt man die Ursache der Angst oder das was man für die Ursache hält aus dem Weg zu räumen, zu zerstören.

Hätte es keinen Börsencrash gegeben, hätten sich Europa und die USA selbst zerstört aus Neid, aus Angst! Die europäische Wirtschaft ist am Boden, genau so wüstenhaft wie die zerstörten Städte. Länder, ohne Grün, sandig, blutrot mit einzelnen herumliegenden Trümmerhaufen, welche als letzter Halt vor Neid, Angst, Macht und Gier schützen.
In dieser Zeit als sich Europa und die USA in Wüste Kriege verwickelten, haben sich Afrika und der nahe Osten weiterentwickelt zu vorbildlichen Industriestaaten. Diese Staaten ziehen jetzt das auf dem Rücken liegende Europa und die USA, die alle Viere von sich gestreckt haben und sich nicht mehr selbst helfen können, aus dem Dreck.
Die Industriestaaten Afrikas bauen in Europa große Firmen und lassen Deutsche, Schweizer, Schweden, Russen dreizehn, vierzehn Stunden am Tag arbeiten. Die Europäer und Amerikaner leiden unter diesen Arbeiten mit den schlechten Arbeitsbedienungen aber trotzdem sind sie den Industriestaaten dankbar, da es für diese Arbeiten gutes Geld gibt.“

Ich überlegte mir gerade wie es wohl wäre, wenn ich 13 Stunden am Tag damit zu bringen würde Plastikteile für die Herstellung von Spielzeugroboter für Franz Carl Weber in Afrika zusammen zu kleben, als sich der Mund, der jetzt weder kirschrot nach blutrot wirkte sondern einfach die Farbe eines kräftigen strahlenden Rosa inne hatte, verschmitzt lächelte.
Die Laute, welche dieser Mund, diese sanften Lippen jetzt von sich gaben klangen versöhnlich, ruhig nicht mehr schrill, spitz und laut.
„Aber das ist nur eine Variante, es hätte auch anders kommen können. Nur eines wäre wohl bei jeder Variante gleich geblieben: Die Gefühle; Angst, Freude, Gier, Hass, Lust, Euphorie, Neugier! Sie sind immer hier, waren immer da, werden immer da sein.

Die grünen Augen zwinkerten mir zu und der Mund sprach: „Durch die Weltgeschichte der letzten 80 Jahre habe ich gelernt, dass es keinen Gott und keinen Teufel gibt und sie deshalb der Mensch erfunden hat.“

Danach erhob sich die Frau mit den grünen Augen und dem sanften Mund der rosa bemalt war, lächelte mir zu und ging.
Ich saß auf dieser Bank an diesem 24. August und starrte ins Schaufenster des gegenüber liegenden Sportgeschäfts, in welchem die Puppen mit dicken Daunen- und Skijacken angezogen waren. Über den Puppen stand in großen roten Buchstaben geschrieben: „Winter-Vorsaison- 20% Rabatt.
Ich dachte: „Unglaublich, das ist unglaublich!“
 
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Kommentare  

Schöne kleine Geschichte. Obwohl sie zu diesem Wetter eigentlich nicht passt habe ich sie lesen müssen und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Jochen (20.04.2009)

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