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16 Seiten

Blütezeit - 4 - Dunkel

Romane/Serien · Schauriges
The only way out is through.
- Nine inch Nails.

Christian war zu intelligent um mit durchdrehenden Reifen loszufahren. Die Räder hätten sich in die Schlammpiste gegraben und den Humvee bewegungsunfähig gemacht. Die Flüssigkeit, die sich langsam wie eine Nacktschnecke auf C2 zubewegte umschloss inzwischen alle Vier Räder des Wagens. Seine Beifahrer, der Sicherheitsmann Eddie Labrouche und Abraham Lincoln blickten mit offenen Mündern über das unerklärliche die Fahrbahn entlang. Bis zum Ende der Schlammpiste schob sich von links nach rechts auf Hunderten von Metern lautlos der schwarze Film über die Piste. Immer noch rollten zarte, gleichmäßige Wellen über den See in ihre Richtung.

Im ersten Gang rollte er los, schaltete auf den zweiten hoch und dann, sobald die Drehzahl es zuließ ohne den Motor abzuwürgen, in den Dritten. Er wusste, dass nicht viel Zeit blieb bis die Piste völlig unter dem schwarzen Film begraben wäre und dann ihre Sicht auf den Weg verloren ginge. Christian sah auf den Tachometer, auf die Strecke die noch vor ihnen lag und beschleunigte auf Sechzig Stundenkilometer. Links und rechts des Wagens spritzten Schlamm und Schwärze hoch, besudelten den Wagen. Eddie blickte am Wagen hinunter und stellte erschrocken fest, dass die scheinbar lebendig gewordene Masse jetzt schneller stieg und bereits in das benachbarte Becken floss.
„Es kommt höher! Wenn Du nicht schneller fährst dann war’s das.“
„Wenn er noch schneller fahre, bleiben wir stecken.“ Keuchte Lincoln.
Trotz der Warnung gab Christian noch mehr Gas, aus Angst und aus der Einsicht, das LaBrouche Recht hatte. Wenn der See noch weiter stieg, würde er den Unterboden des Fahrzeugs zu fassen kriegen und sie einfach mit sich tragen wie ein Floß. Wenn sie in Becken C3 gespült wurden, würden sie sinken.
Bereits die Hälfte der Fahrbahn war überlaufen.

„Ich muss. Es geht nicht an…“
Ein Geräusch lenkte ihn ab. Das Funkgerät in der Mitte der Armaturen blinkte und rauschte. Sie wurden gerufen. LaBrouche schnappte sich das Mikrofon und blickte auf das am Funkgerät angebrachte Rufzeichen des Wagens. In seiner Stimme schwang unterdrückte Angst.
„Gruppe Brunner hier. LaBrouche, wer ruft?“
„Hier spricht Seelöwe. Wir wurden wegen einem medizinischen Notflug gerufen. Ist der vermisste bei ihnen?“
„Tot. Und wir auch bald. Der ganze verdammte See läuft über.“ Brüllte er.
„Können wir irgendwie helfen?“
„Denke nicht.“
Einige Momente kam nichts durch den Funk.
„Sie haben noch Zweitausend Meter vor sich. Wir begleiten sie. Sollten sie nicht mehr weiterkommen, holen wir sie mit der Winde rauf. Bleiben sie am Funkgerät.“
Lincoln wurde bleich.
„Das schaffen wir auf keinen Fall“
Brunner presste die Lippen aufeinander.
„Nein.“
Zur Bestätigung seiner Aussage sank ihre Geschwindigkeit abrupt um 30 Meilen pro Stunde ab. Die breiten Reifen, die mehr als drei Tonnen trugen schafften es einfach nicht mehr die dickflüssige Flut schnell genug zu verdrängen.

Der Motor stotterte. Aus der Personenkabine hinter ihnen hämmerte jemand an die Trennwand. Pullmans schrie aufgeregt.
„Labrouche, rufen sie die Sik! Die sollen uns mit der Winde hier rausholen. Wir schaffen keine anderthalb Kilometer mehr.“
Eddie schien nur darauf gewartet zu haben, sprach mit dem Copiloten des Hubschraubers und bedeutete Brunner zu halten.
„Sie kommen. Wir sollten auf Dach klettern solange der Wagen noch Grund hat. Der Scheiß reicht über Türspalte.“
Bei der Aussicht auf die Kletterpartie in der von gefährlich aber bekannt zu mörderischer und völlig irrational gesteigerter Umwelt wurde Lincoln weiß im Gesicht und schluckte.
Christian ließ den Wagen ausrollen und zog aus reinem Automatismus den Zündschlüssel ab. Er betrachtete ihn eine Sekunde und ließ ihn achtlos auf die Fußmatte fallen.
„Fenster runter! Wir müssen hier raus.“ rief Christian.
Eddie drehte bereits wie ein Wahnsinniger an der Kurbel zum Seitenfenster.
Der bestialische Gestank, der in seiner Intensität fasst massiv zu sein schien, füllte augenblicklich die Fahrerkabine.
LaBrouche hievte seine Hundertachtzig Kilo auf das Dach. Der Sanitäter reichte ihm die Probenbox hoch und ließ sich nach oben helfen. Genau in dem Moment in dem er halb aus dem Fenster war, stockte er. Erst wähnte Lincoln ihm würde schwindelig, doch dann begriff er, das sich sein Blickfeld tatsächlich unabhängig von ihm drehte.
Der Wagen wurde langsam von den anrollenden Massen der das Sonnenlicht prismatisch spiegelnden Schwärze zur Seite geschoben.
Die Sikorsky schwebte nun genau über dem in Bedrängnis geratenen Fahrzeug. Lincoln stand stocksteif und blickte flehentlich zu der Maschine hinauf, während LaBrouche dem Techniker im Heli mit hektischen Gesten bedeutete, er solle das Stahlseil herunterlassen.
Brunner schlug auf das Dach des Aufsatzes in dem die beiden Wissenschaftler hockten und unverständliches brüllten. Wahrscheinlich wollten sie wissen was los sei, weshalb sie gestoppt hatten.

Eugene Pullman schlug mit beiden Fäusten gegen die Trennwand. Hinter ihm saß Harkness auf einem der im Boden vernieteten Stühle und hielt es vor Anspannung kaum aus. Düstere Gedanken spülten durch seinen Kopf, Angst zog ihm die Muskeln um die Schultern zusammen. Er zwang sich tief und kontrolliert zu atmen.
Sie kamen nicht schnell genug vorwärts, sagte er sich, der Weg war zu weit. Sie hatten gestoppt und wurden in C3 gedrückt, würden darin treiben und schließlich untergehen. Gott sei dank war die Kabine Luftdicht und hermetisch gesichert, doch Lincoln, LaBrouche und Brunner würden nicht so viel Glück haben. Der Schwerölabfall würde die Scheiben eindrücken, sobald der Wagen gesunken war. Vorher würden die Dämpfe durch die Belüftungen eindringen und die Männer vergiften, weil es keine Sauerstoffzufuhr mehr gab.
Halb nahm er wahr, das Brunner, Lincoln und LaBrouche auf das Dach geklettert waren, irgendjemand irgendetwas Unverständliches zu ihnen herunter rief.

Christian ging auf die Knie, brüllte in dem Versuch den dröhnenden Helikopter zu übertönen den Männern in der Gefahrstoffkabine zu, sie sollten sofort auf das Dach klettern.
Pullman schrie etwas zurück, doch was er mitteilen wollte wurde von den Turbinengeräuschen der Sik verschluckt.
Dann fiel Christian selbst ein, was das Problem war. Der neuerliche Schock über die Erkenntnis traf ihn so sehr, das er nicht einmal wahrnahm, wie sich die Geschwindigkeit mit der der Humvee auf das C2 gegenüberliegende Becken zugedrückt wurde leicht anstieg. Er krabbelte an den hinteren Rand des Moduls und blickte hinunter. Der Pegel reichte bereits bis an die Klinke der Ausstiegstüren.
Hinter musste der wild gewordene Restschlamm bereits in die Fahrerkabine laufen.
Wenn Pullman oder Harkness die Türen öffnen würden, wären sie sofort überflutet worden. Die Türen besaßen aus gutem Grund keine Scheiben oder anderen Öffnungen. Im Normalfall galt das als absolutes muss und konnte dazu dienen Leben zu retten, doch in diesem Fall ließ der Effekt sich umgekehrt aus. Der einzige Vorteil bestand nun nur noch darin, dass die Türen eben so gut abgedichtet und so stabil waren, dass sie dem Druck des riesigen Dings, das sie zu verschlingen drohte standhalten würden.

„Die Winde kommt!“ schrie LaBrouche.
„Wir können nicht weg. Die kommen da nicht raus. Die können die Türen nicht öffnen, es ist zu hoch gestiegen.“
Der Ausdruck des Entsetzens untergrub das kantige Gesicht von LaBrouche und nahm alle Kraft daraus. Lincoln schien gar nicht zu bemerken, dass die Situation sich grundlegend geändert hatte.
Ohne dass er es wollte kamen ihm Bilder in den Sinn, wie er mit seinem Bruder Dwight daheim in Wisconsin Papierschiffe gefaltet und sie im Rinnstein der weder Wohl noch Übel wollenden Verantwortung der Regengüsse aussetzten. Sie waren den Schiffen immer hinterher gerannt und ein neues hineingesetzt, sobald das erste gekentert war.
„Die Winde, da ist die Winde! Gleich haben wir’s geschafft!“ rief er. Das Stahlseil mit dem Hakenanker pendelte über der Motorhaube von links nach rechts über sie hinweg, bereit ergriffen zu werden und Rettung zu bringen.
Die beiden älteren Männer sahen sich immer noch an. Christian war völlig ratlos und nahe der Resignation. Sie konnten Harkness und Pullman nicht einfach hier lassen und ihre eigene Haut retten, das ging gegen alles was ihn ausmachte. Er half die Umwelt zu zerstören, ja, doch er hatte sich durch die Teilname an diesem Apparat nicht einverstanden erklärt. Es war nun einmal so, Basta. Und wenn es das bestehende Ökosystem aus den Schuhen haute, machte das in letzter Konsequenz auch keinen Unterschied für den Planeten. Spezies kamen und gingen. Doch Menschen, die drohten von einer direkten Lebensbedrohenden Situation überwältigt zu werden, das war etwas, dem er eigene Regeln und Handlungen auferzwingen konnte.

Eddie LaBrouche war nicht durch die Nachhölle des 9.11. gegangen um jetzt und hier von diesem Wahnsinn verschlungen zu werden. Nachdem die Twintowers zusammengestürzt waren hatte er als einer der heldenhaften doch nach dem Einsatz gebrochenen Feuerwehrmänner miterlebt, dass seine eigene Art der grausamen Kunst des Teufels noch um ein Vielfaches überlegen war.
Würde der Widersacher einst auf Erden wandeln und sein Reich errichten, so wäre es endgültig und absolut. Es bliebe zwar keine Hoffnung für die Verdammten, doch eben auch keine Zweifel und keine Angst, denn all diese Dinge wären ausgelöscht. Was bleiben würde, so dachte Eddie LaBrouche, wäre das Wissen um seinen eigenen Platz in der neuen Ordnung. Entweder Hölle oder Himmel. Das war beruhigend.
Doch der 9.11. hatte dem Mensch der Postmoderne neue Arten von Zweifeln und Ängsten gebracht, die weder vor Staatsgrenzen noch vor religiösen Anschauungen halt machten. Das Ungewisse war zurückgekehrt.
Er drehte sich um und schnappte mit den Händen vorsichtig nach dem Stahlseil. Mit dem dritten Versuch bekam er es zu fassen und schwang es mit seiner Flugrichtung in eine Kurve über den hinteren Teil des Wagens. Hätte er es einfach ergriffen, wäre er schlicht mitgerissen geworden, oder noch schlimmer, nur seine Hände hätten sich auf den Weg gemacht. Er zog das Seil nach unten um es ruhig zu bekommen, zeigte mit erhobenem Daumen nach oben zum Hubschrauber.
Er wollte schon seinen Fuß in den Haken setzen, doch dann sah er Christian Brunners Blick.
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.
Wenn die erste, ursprüngliche Ungewissheit vor dem was im nächsten Augenblick geschieht in die Ordnung eingebrochen war und das große Sicherheitsgefühl seines Landes ersetzt hatte, dann war die aktivste und effektivste Gegenwehr wohl, sich voll und ganz in die Ungewissheit hinein zu werfen.

Pullman wütete nicht mehr, sondern hatte sich auf den Boden sinken lassen. Oben hörte er die anderen herumlaufen, Harkness saß immer noch zusammengesunken mit hochrotem Gesicht auf dem Stuhl. Die Sik hatte sich, der Lautstärke der Geräusche nach zu urteilen, noch nicht fortbewegt.
Eugene wusste gar nicht was er zuerst denken sollte: Lassen die uns hier im Stich? Ist der Motor überflutet? Hat sich irgendwas im Fahrwerk verkeilt, das lenken unmöglich gemacht?
Da Eugene Pullmans Verstand mit der Orientierungslosigkeit in der aktuellen Situation überfordert war, schaltete er automatisch um und Nolan tauchte vor seinem inneren Auge auf.
Was war da mit seinem Kollegen passiert?
Sie hätten ihn finden müssen, er war nicht mal ein paar Meter von der Gruppe, die er hinter sich zurückgelassen hatte, entfernt gewesen. Er hätte schreien müssen, als er fiel oder? Warum aber hatte Eugene ihn dann nicht gehört?
Als er merkte, dass ziellose Grübeleien ihnen nicht weiterhelfen würden, lauschte er auf die Geräusche die von draußen in die Kabine drangen. Labrouche schien vorne auf dem Dach herumzutanzen, kam dann auf der Gefahrstoffkabine zum stehen. Von den anderen beiden war nichts zu hören.
Harkness blickte nun auch auf und stierte die Decke an

Christian hockte auf allen vieren auf der Gefahrstoffkabine. Noch bewegte sich der Humvee mit nur wenigen Zentimetern pro Minute. Sie waren nun von einem belebten Meer umgeben, das sie auf seiner Oberfläche treiben ließ und mitnahm wohin es ging. Ätzender Gestank nahm ihm den Atem. Unter ihm schrieen Pullman und Harkness, schlugen panisch gegen das Dach. Der junge Sanitäter klammerte sich an die bescheuerte Probenbox wie an einen Teddy. LaBrouch stand auf dem Dach der Fahrerkabine und hielt mit aller Kraft das Seil fest. Er blickte Christian in die Augen und er sah, dass der Sicherheitsangestellte sich in den nächsten Sekunden am Seil würde hochziehen lassen. Es fehlte nur noch ein Meter, dann würde die schwarze masse sich über das Dach schieben. Für einen Moment drehte die Welt sich nicht weiter. Für einen Moment erstarrten alle Bewegungen. Das aus dem Nichts gekommene Monstrum, das sie schon halb im Rachen hatte, arbeitete sich weiter zum Dach des Wagens hoch. Da brach der Bann.
An der linken Seite des Wagens, von wo die Flut gegen sie anströmte, schob sich in aller Gemächlichkeit ein Halbkreis aus dunkler Materie über die Kante des Dachs. Lincoln sah es als erster und zeigte darauf. LaBrouche und Brunner betrachteten es eine Sekunde lang. War noch nicht genug, das ein komplettes Restschlammbecken, mehrere Hundert Milliarden Liter Schwerindustrieller Abfall, sich völlig ohne Ursache in Bewegung gesetzt hatte, dann stellte dies die letztendliche Krönung des Tages dar: Die im Sonnenlicht schillernde Masse kroch wie eine Schalenlose Muschel von selbst über den Wagenrand auf das Dach!
LaBrouche packte Lincoln im Genick, warf ihm kurzerhand auf die aufmontierte Kabine neben Brunner auf das Dach.
„Festhalten!“ Schrie er sie an.

„Was machen die da oben bloß?“ fragte Pullman.
„Ich weis es nicht. Aber ich hoffe sie lassen sich was einfallen, alleine schaffen wir es nicht hier raus.“
Harkness und Pullman waren einer Panik nahe. Sowohl über den Verlust ihres Kollegen bestürzt als auch verstört und erschreckt von scheinbar außer Kraft getretenen physikalischen Gesetzen, reagierten sie mit Wut und Angst. Sie hörten Brunner, LaBrouche und Lincoln auf dem Dach, darüber das dröhnen des Hubschraubers, das ihnen jede Möglichkeit der Verständigung mit den anderen nahm. Sie hörten bereits, wie der Inhalt der Scheissewanne an der Tür entlang strich.
„Und wenn wir uns die Schutzstiefel anziehen und es darauf ankommen lassen?“ fragte Harkness.
„Unmöglich. Wir wissen nicht mal wie hoch genau der Restschlamm steht. Wenn wir jetzt die Tür öffnen, würden wir selbst mit den Schutzstiefeln nicht weit kommen. Außerdem: Wer sagt, dass uns das weiterbringt?“
Als der Wagen anhielt war beiden klar geworden, was los sein musste, doch was nun weiter geschah lag weder in ihrer Macht, noch konnten sie darauf irgendwie Einfluss ausüben. Ihre Rufe wurden zwar beantwortet, jedoch waren sie nicht in der Lage zu verstehen was ihnen geantwortet wurde. Diese Ohnmacht zwang sie zum abwarten.
Es war unerträglich.
Pullman ging auf den Vier Quadratmetern Lauffläche nervös auf und ab. Er hatte es geahnt, das etwas nicht stimmte. Seit sie bei C2 angekommen waren, seit sie ausgestiegen waren, hatte die Andeutung von etwas üblem in der Luft gelegen.
„Irgendwas müssen wir aber tun. Und wenn wir die Stiefel anziehen, die Türen öffnen und sofort aufs Dach klettern? Wir müssten die Stiefel dabei abstreifen.“
„Mein Gott, das könnte funktionieren!“
Etwas pochte gegen das Dach. Ein Schmerzensschrei ließ sie an die Decke blicken.
„Was war das jetzt wieder?“
„Egal jetzt. Joseph, helfen sie mir in die verdammten Dinger zu kommen.“
Harkness wandte den Blick ab und kam der Aufforderung nach. Als er sie anhatte, musste Pullman sich auf die Knie fallen lassen um seinem Kollegen selbst zu helfen de sperrigen Gefahrstoffstiefel anzuziehen.
Wieder kam ein Geräusch von oben.
„Hat sich da etwas eingehakt?“
Der Boden schwankte plötzlich unter ihren Füßen.
Bevor Joseph Harkness antworten konnte, durchfuhr ein Ruck die Kabine und beide Männer wurden brutal von den Füßen gerissen. Vor Schreck und Schmerz schrieen sie auf.
Ihr Gefängnis drehte sich abrupt um neunzig Grad, sie wurden gegen die nun nach unten zeigende Trennwand zur Fahrerkabine gepresst.
Dann gab es einen kurzen Andruck, als etwas die ganze Kabine mit seinem Inhalt in die Höhe riss. Eine ungesicherte Flasche Wasser, zwei kleinere Gefahrstoffbehälter und diverse Instrumente, kurz, alles in der Kabine was ungesichert war, prasselte auf sie nieder.
Draußen schrieen Brunner, LaBrouche und Lincoln wie am Spieß.
Pullman und Harkness fragten sich zwischen Orientierungslosigkeit, Entsetzen und Schmerzenden Gliedern, ob sie in das Restschlammbecken C3 geschoben worden waren und nun untergingen. Dann wären sie dran gewesen.
Doch das Gegenteil war der Fall: Sie stiegen aufwärts.

Wenn man sich ins ganz bewusst ins Ungewisse fallen lässt, dann denkt man nicht über die Konsequenzen nach. Man handelt und erfährt dann was geschieht. Vielleicht, so dachte Eddie LaBrouche, war dies ein Weg um aus der Hölle zu entkommen, während er voller Angst mit zusammengepressten Augen und mit eingenässter Hose durch die Luft flog. Er klammerte sich zwischen Brunner und Lincoln an eine der Haltestangen auf dem Dach des Humvee.
Er schrie nicht vor Angst, nicht allein jedenfalls. Sein System schüttete grade hohe Dosen Testosteron und Adrenlin aus und brachte ihn auf Höchstleistung. Abraham Lincoln war zu verdutzt und geängstigt um zu schreien. Das feist grinsende Gesicht seines Bruders, dem Retter der in Seenot geratenen Papierschiffe stand vor seinem inneren Auge und wollte nicht mehr von dort verschwinden. Lincoln klammerte sich mehr daran als an den Humvee. Christian Brunner dachte an seine geliebte Frau und schrie atemlos ihren Namen, bis er merkte, dass er all seine Kraft benötigte um sich festzuhalten.

Als das wild gewordene Restschlammbecken, oder was immer es war, dass das Wagendach zu überlaufen drohte gesehen hatte, hatte Eddie den Sanitäter einfach aufs Dach geworfen. Der hielt sich automatisch fest um nicht in das Gift zu rollen, dass sie langsam zur Seite schob. Als LaBrouche dann den Haken des Seiles in die Armdicke Stahlöse am hinteren Teil der Gefahrstoffkabine gehakt hatte, bekam Brunner große Augen, erst aus Unverständnis, dann aus verstehen und Fassungslosigkeit. Er wollte protestieren, doch LaBrouche achtete nicht auf ihn, sondern bedeutete dem Helikopter er solle steigen. Aus Erfahrung wusste er, dass eine Sikorsky die Drei Tonnen des schweren Geländewagens bewältigen konnte. Und der Pilot hatte rechtzeitig begriffen was Eddie von ihm wollte.
Der ganze Humvee, bis zum Dach beschmutzt von den giftigsten Abfällen der Ölraffinerie, flog nun mit dem Motor nach unten, am sprichwörtlichen Seidenen faden hängend, einen knappen Meter über dem in der Sonne schillernden Horror durch die Luft, geradewegs auf die rettende Ferne des Raffinieriegeländes zu.

April lehnte an einer Fichte und rauchte eine Zigarette. In der Kälte konnte sie rauchen. An warmen Tagen hörte die Sucht fast automatisch auf, ihr das Verlangen nach dem Nikotin aufzuzwingen.
Sie befand sich in einem Waldstück, Dreißig Kilometer östlich der Raffinerieanlage. Dort, auf dem Hubschrauberlandeplatz, waren ihr Mann und die Vier anderen überlebenden vor einigen Stunden vor den Augen einer ungläubig verblüfften Schar von Sanitätern und Ärzten wortwörtlich abgesetzt worden.
Das sechste der Stative, die sie zu verteilen hatte, bevor sie die Messdaten der Ausmaße des Trapezoiden Gebietes durch den Satelliten sammeln ließ, surrte leise. Es stellte sich mit den gefütterten Daten auf das zwei Kilometer entfernte Sendegerät Nummer Drei und das Basisgerät Nummer Eins ein.
Vier lange Stunden hatte sie damit zugebracht die Stative an ihren jeweiligen Stationen zu positionieren und auszurichten. Dabei musste sie große Sorgfalt walten lassen und die vorbestimmten Parameter zur Einstellung genau einhalten. Die Aufstellungspunkte der Apparate lagen mehrere Kilometer auseinander. Sobald sie eine Einstellung falsch eingab musste sie diesen Fehler am nächsten Punkt wieder berichtigen. So hätte sich das Gesamtergebnis verfälscht.
Innerhalb des Gebietes würden sich in den nächsten Wochen Schlammpisten und Dreißig Meter tiefe Abbaugruben bilden. Tierisches und Pflanzliches Leben unmöglich.
Zur Vermessung fuhren, aus leicht nachvollziehbaren Gründen, immer Zwei Techniker zu den POIs. Doch schon am vorigen Freitag wurde April Brunner mitgeteilt, dass sie heute alleine ausziehen müsse. Eine Begründung gab man ihr dafür nicht. Doch nicht alleine daraus schloss sie, dass etwas im Busch war. Bei der letzten Dienstbesprechung waren April große Unstimmigkeiten zwischen den Abteilungsleitern aufgefallen, die aber offenbar vor den Mitarbeitern verborgen werden sollte. Doch was immer in der Führungsebene vor sich ging, es drang nicht bis zu ihr durch. Sie hatte ihre Kollegen gefragt und im Intranet gestöbert, jedoch auch dort keine aussagekräftigen Einträge gefunden.
Öl ist eine Abhängigkeit. Eine Bedingung für Bequemlichkeit und Wohlstand, dachte sie zusammenhanglos. Es widerte sie an, doch verzichten mochte sie genau so wenig.

Sie stieß sich vom Baum ab und watete durch den Schnee zum Fahrzeug. Dort füllte sie die Maske eines Evaluierungsprogramms aus, stellte Verbindung zum AO Satelliten her und ließ ihn die Daten der verteilten Geräte ablesen. Einige Minuten später öffnete sich auf ihrem Laptop ein Fenster und bestätigte den Empfang der Datensammlung.
Einige Meter von ihr entfernt kletterte ein Eichhörnchen an einer Fichte empor. Groß, gut genährt und braungraues. Es schien aufgeregt. Wahrscheinlich hatte es sie den ganzen Vormittag über mit dem Snowdog herumfahren hören. Am Fuß des Baumes wuchsen Parasolpilze. Sie überlegte sie zu pflücken und zum Abendessen zuzubereiten, als Ausgleich für Christians schwerverdauliches Frühstück.
Auf einem umgestürzten toten Baum sprossen Austernpilze, kärglich und sehr blass. Pilzsporen umflogen die ganze Welt und wuchsen wo der Wind sie ablegte, gesetzt dem Fall, die Bedingungen stimmten.
Borosov fiel ihr ein, der Botaniker, mit dem sie und Christian in einer Kneipe in Dunston bekannt geworden waren. Jerin Borosov war Feuer und Flamme, wenn es um Pilze ging. Mehrere Dutzende von Hebarien stapelten sich in seiner Wohnung und er unternahm regelmäßige Reisen in die Entferntesten Winkel der Erde, nur um eine bestimmte Pilzart wachsen zu finden und wachsen sehen. Und er war nicht allein. Mit leuchtenden Augen hatte Borosov ihnen erzählt, das die Gemeinschaft der Pilzfreunde um die ganze Welt herum verteilt war und durch das Internet in sehr regem Kontakt stand.
Doch es war nicht für jeden ein reines Freizeitvergnügen. Die von den Pilzfreunden zusammengetragenen Daten wurden oft von Fachleuten und Akademikern aus kulturellen und historischen Bereichen konsultiert.
Mancherorts wurde bestimmten Arten von Pilzen eine große Bedeutung zugemessen. In Japan zum Beispiel. Jedoch kannte alle Welt aus Japan nur die schwarzen feucht-schimmrigen Esspilze. Christian hatte aufgelacht und gemeint, es sei wohl das gleiche wie mit den deutschen, die für alle Welt nur Lederhosen tragen und „Weissworscht“ essen.

Sie knipste den Filter der erloschenen Zigarette ab und steckte ihn in die Tasche. Sie hob den Laptop aus dem Schnee, speicherte die Daten ab und schaltete das Gerät aus. Nun waren noch die Messapparate einzusammeln. Der Laptop verschwand in der nun schon geräumigeren Akia, einem Schlitten, der eigentlich zum Transport von verletzten in arktischen gebieten diente. April überprüfte die Stoßsicherungen und verschloss die Plexiglasklappe. Ihr Blick fiel auf den Boden. Sie stutzte.
Von der hinteren Kette der Honda Four Trax zog sich eine dunkelschwarze, stumpfe Masse durch die Fahrspur im Schnee. Darin waren keine Kettenabdrücke zu sehen.
„Was ist denn das?“
April fingerte einen Stock, der halb von dem Zeug bedeckt war, aus der Spur und drehte ihn vor ihrem Auge. Was immer es war, es musste hierher gelangt sein nachdem sie angehalten hatte.
Bis auf die falsche Farbe sah es fast aus wie ein Périgord-Trüffel, ein Erdpilz von schwammigem äußeren. Auf den ersten Blick hätte man vermuten können ihr Gefährt verlöre Öl, doch die dunkle Masse war völlig geruchlos und offensichtlich nicht fluid, hatte eher eine harzige Konsistenz.
Das Fahrzeug schien unbeschädigt. Sie ließ den Stock fallen und schätzte die Länge der braunschwarzen Merkwürdigkeit ab. Nicht einmal ein halber des Kettenabdrucks war bedeckt. Sie hatte eine knappe Stunde mit dem aufstellen und einrichten der Geräte, sowie den Computern verbracht.
Sie sah sich um. Die Farbe Weiß beherrschte die Umgebung, unterbrochen von grauer Rinde. Das Licht, das in den letzten Stunden immer mehr durch die aufreißenden Wolken drang, und von den Schneemassen widergespiegelt wurde, zwang sie die Schneebrille aufzusetzen. Am Stumpf des umgestürzten Baumes einer alten Fichte entdeckte April weitere schwarze Flecken. Es schien von unter dem Schnee herauf gewachsen zu sein. Mit der Spitze ihres Stiefels schabte sie etwas davon ab und schmierte es in den Schnee.

Ihr Handy gab ein Geräusch von sich, das Signal für einen eingehenden Anruf.
Vor Überraschung zuckte sie zusammen. Wenn sie hier draußen jemand zu erreichen versuchte, dann war wirklich etwas los. Das das Anrufsignal überhaupt zu ihr durchgedrungen war, verdankte sie der Erweiterung des Mobilfunknetzes vor einem Jahr, als die vorhandenen Kapazitäten der Gegend dem sprunghaft ansteigenden Anspruch des Kommunikationsbedarfs nicht mehr genügten.
Auf dem Display stand eine unbekannte Festnetznummer. Die Signalstärke stand auf drei von Fünf Strichen. April nahm ab.
„Mrs. Brunner?“ Der Mann klang gehetzt.
„Ja. Wer spricht?“
„Jonas Wagner. Ich arbeite für ihren Mann. Ich bin für die Sicherheit um die Restschlammbecken zuständig. Können sie mich ausreichend gut verstehen?“
„Klar und deutlich. Bitte, weshalb rufen sie mich hier draußen an? Ist etwas passiert?“
Es gab eine kleine Pause, während Wagner sich die Worte, die er als nächstes aussprechen musste, zurechtlegte.
„Ja. Ihr Mann ist… er und seine Gruppe haben einen äh - Unfall erlitten.“
Fast hätte April das Handy fallenlassen.
„Mein Gott! Oh mein Gott!“ Ein Bündel von Fragen legte sich ihr auf die Zunge, doch Wagner sprach weiter.
„Er und Vier andere aus der Gruppe leben und sind bei Bewusstsein. Einer der Wissenschaftler, Christopher Nolan, wird vermisst. Vermutlich tot. Das Restschlammbecken C2 ist aus noch ungeklärter Ursache übergelaufen. Die Vier konnten sich grade noch von einem Hubschrauber… “
Seine Stimme stockte eine Sekunde.
„…ausfliegen lassen. Sie haben leichte Vergiftungserscheinungen, nicht ernstes aber. Sie können ihre Arbeiten abbrechen und sofort zum Dunston Mercy Hospital kommen.“
„Ich bin 30 Kilometer weit draußen, das wird eine Weile dauern.“
Tatsächlich hatte sie für die Siebenundzwanzig Kilometer bis zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten zwei Stunden benötigt. Sie war bereits auf die Honda gestiegen und brauchte nur noch den Zündschlüssel umzudrehen.
„Ihr Mann wird sobald nicht aufstehen können. Lassen sie sich um Himmels Willen Zeit und fahren sie langsam.“
„Ja, ok. Ähm. Ich mache mich auf den Weg. Wo liegt mein Mann?“
„Intensiv, aus formalen Gründen. Man wird wissen wo genau, fragen sie am Empfang, man erwartet sie dort.“
„Ich komme sofort. Können sie ihm etwas ausrichten?“
„Leider nicht, ich habe momentan meinen eigenen Notfall. Eigentlich hätte sie niemand angerufen, ich mache das eigenmächtig. Hören sie, ich werde jetzt auflegen …“
April wartete nicht mehr ab was der Mann zu sagen hatte. Ihr Puls schlug das Blut schwer durch ihre Brust, schien es im Herzen zu sammeln und erst kurz vorm platzen weiterzuleiten. Sie steckte das Telefon ein, warf noch einen Blick auf den Akia und startete den Motor.
Die Fahrketten des Quad warfen Schnee, gefrorene Erde und die mattschwarze Masse, die jetzt keinen Platz in ihren Gedanken mehr hatte, meterweit in die Luft.

Eine halbe Stunde später war sie aus dem Waldgebiet raus und auf der Straße, die jedoch nur daran zu erkennen war, dass die Spuren ihrer Hinfahrt noch zu sehen waren. Sie beschleunigte auf Fünfzig Stundenkilometer.
Horrorvorstellungen flogen ihr im Kopf herum. Wirre Fragen schossen ihr durch den kopf und verschwanden wieder. Sie Angst um Christian steigerte sich noch, als ihr einfiel was mit Brunswick, dem geschehen war. Der Mann hatte mit defektem Schutzanzug eine Probe am Dammbruch eines Restschlammbeckens genommen und eine Atemwegsverätzung erlitten. Sie hatte gelesen, dass die Dämpfe direkt neben dem Restschlamm eine hochtoxische Konzentration besaßen, die darüber hinaus jedoch von der Erdatmosphäre schlagartig verdünnt wurden und nahezu ungefährlich waren.
Vielleicht hatte Wagner sie nur beruhigen wollen? Wie wahrscheinlich war es, das Christian einen weit schlimmeren Schaden erlitten hatte? Vielleicht wusste Wagner auch gar nichts Näheres und hatte nur aufgeschnappt, was er ihr weitergeben hatte.
Sie kannte den Mann flüchtig, der zusammen mit seiner zierlichen Frau in einem der neuen Mehrfamilienhäuser am Rand von Dunston lebte.
Brunswick hatte überlebt, würde aber den Rest seines Lebens eine Sauerstoffflasche hinter sich herziehen müssen. Christian hatte ihr damals gesagt es wäre die Fünf Minuten Version von 30 Jahren Kettenrauchen. Er hatte dabei nicht gelächelt. April legte ihre Zigaretten für zwei Wochen weg.

Die Schnurgrade Straße floss eine Stunde lang gleichmäßig unter ihr weg. Eisiger Wind schnitt um ihre Honda Quad. Die Bäume fielen links und rechts aus ihrem Sichtfeld, machten der Ebene platz, die keilförmig zwischen Dunston, der Raffinerie und den Restschlammbecken lag.
Mit bloßem Auge konnte sie dort nichts erkennen. Das riesige Gebiet erstreckte sich halb bis zum sichtbaren Horizont. Aprils Gedanken assoziierten den Anblick mit nässendem Wundschorf. Ihr Auge schweifte nach links und fiel auf die Raffinerie.
Über den Schloten hingen abgerissene weiße Wolken und trieben langsam in aufkommendem Wind hinfort. Es quoll kein neuer Qualm nach. Die Produktionsanlagen standen sämtlichst still. Unter Skimaske und Schneebrille runzelte April die Stirn. Es musste etwas geschehen sein, von dem man dachte, dass es die gesamte Anlage in Gefahr bringen konnte. Denn nur, und wirklich nur in dem Fall, fuhr man die Maschinen herunter. Sie prüfte das Panorama, sah jedoch nirgends etwas, das auf einen Brand hindeutete. Dann fiel ihr die nächste Seltsamkeit auf.
Zahlreiche kleine, gelbe Punkte bewegten sich aus dem grauschwarzen Abbaugebiet auf das Industriegelände zu. Die Caterpillar! Dass sie die Bewegung aus einer Distanz von Fünf Kilometern überhaupt wahrnahm, bedeutete, dass die gigantischen Fahrzeuge sich mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit bewegten. Sie wurden alle zurückgerufen. Dabei wurden sie nie zum Gelände beordert, das war viel zu kostspielig.
Nach einer regulären Schicht blieben Die Laster normalerweise stehen wo sie waren und die Fahrer der nächsten Schicht wurden mit PKWs zu ihnen gebracht. Mehrere Tanklaster patroulierten permanent durch den Schlammpistengarten um sie zu befüllen.
Winzige dunkle Punkte wurden über dem der Raffinerie am nächsten gelegenen Restschlammbecken – C2 – sichtbar, als April den Abstand von Drei Kilometern zur Stadt erreicht hatte. Hubschrauber.
Dort hinten schien die Hölle losgebrochen zu sein.
April verfluchte die Kettenräder, welche die Höchstgeschwindigkeit auf Siebzig Stundenkilometer herabsenkten, sie verfluchte den Schnee und das wechselhafte Wetter. Drei Stunden waren vergangen, seit die ersten Wolken aufgerissen waren. Seit Zwei Stunden lagen Christian, LaBrouche, Pullman, Lincoln und Harkness unter leichter Sedierung in dämmriger Umnachtung. Die Uhr neben dem Tachometer zeigte 12.30 Uhr an.
Um Viertel nach Eins bog sie in die Stadt ein. Welche Krise auch immer sich gerade ereignete, ihre Auswirkungen waren hier noch nicht angekommen. Der ganz normale Geschäftsbetrieb wickelte sich hier in chronisch verstopften Straßen ab. Sie passierte drei leichte Verkehrsunfälle und musste wegen Straßenbauarbeiten einen Umweg nehmen. Das Dunston Mercy Hospital lag im südwestlichen Teil der Stadt. Mit den Kettenrädern des Quad kam sie hier in der Stadt noch langsamer voran als draußen im Feld, was sie noch ungeduldiger werden ließ. Ein Buick schnitt ihr die Vorfahrt ab. April bremste grade rechtzeitig um ein Zusammenstoßen zu vermeiden.
„Verdammtes, dreckiges Arschloch!“
Die Frau im Buick zeigte ihr das Peace Zeichen, lächelte entschuldigend. April hielt ihr den Mittelfinger entgegen. Sie wollte eben weiterfahren, da nutzte ein Fußgänger die Gelegenheit die Straße zu überqueren. Eine Viertel Stunde später hielt sie mitten auf dem Wendekreis des Eingangsbereiches. Sie lies den Motor laufen und stürmte, noch immer vermummt, in den Haupteingang, vorbei an erschreckten Besucher, kranken und Pflegerkräften.

Arnika Swanson war Fachangestellte für Medien und Informationsdienste. Sie sammelte, codierte und verschickte Krankendaten und Statistiken. Doch sie arbeitete auch am Empfang des DMH. Das war einer der Vorteile des Berufes: Man konnte überall arbeiten, wo größere Mengen an Daten gehandelt werden mussten. Sie stellte eben ihr Wasserglas ab, da ließ ein Geräusch sie aufblicken. Sie hob den Kopf und sah sich einer zwei Meter großen Frau gegenüber, die sie, völlig verpackt und zugenäht, wie Arnikas Vater gesagt hätte, anbrüllte.
Etwas erschrocken trat sie gewandt hinter den Empfangstresen um etwas zwischen sich und der einschüchternden Erscheinung zu haben. Ihr gegenüber war offenbar sehr erregt. Die POLAR Kleidung und der schwarze Gesichtsschutz taten ihr übriges um ihre Erscheinung recht martialisch wirken zu lassen.
„Schnell, wo ist die Intensivstation?“
„Zu wem wollen sie denn?“ fragte Arnika.
„Christian Brunner. Intensivstation.“
Die Hände der brünetten Frau mit dem scharf geschnittenen aber irgendwie zu kleinen Gesicht hinter dem Tresen bearbeiteten die Tastatur.
„Und sie sind?“
„Seine Frau. April Brunner“
„Wurde er heute eingeliefert oder…?“
April zog sich wütend die Gesichtsbekleidung vom Kopf und funkelte Arnika Swanson an.
„Ja. Wo bitte geht es zu ihm?“
Bevor Arnika antworten konnte, legte sich eine Hand auf Aprils Schulter.
„Sind sie Mrs. Brunner? Sie suchen wahrscheinlich mich. Ich bin der behandelnde Arzt.“
April wirbelte um die eigene Achse.
„Wo ist mein Mann? Wie geht es ihm? Was ist…“ sprudelte es aus ihr heraus.
Der Mann schnitt ihr das Wort ab.
„Mein Name ist Dr. Solstheim. Ihr Mann hat eine leichte Lungenvergiftung durch die toxischen Dämpfe des Giftabfalls erlitten. Er hat Glück gehabt und wird keine Folgeschäden davontragen. Das ist nichts Ungewöhnliches hier, wir wissen damit umzugehen.“
Sie blickte in zwei nüchterne Augen, deren Lieder schwer herunter hingen. Der Mann war offenbar völlig übernächtigt.
„Ich…“
„Ihr Mann und seine Vier Begleiter liegen auf der Intensivstation im Zimmer Nummer Drei. Sie haben ein leichtes Beruhigungsmittel bekommen und erhalten Sauerstoff, um die Lungen sozusagen durchzuspülen. Sie sind alle bei Bewusstsein. Sie können jetzt zu ihm. Möchten sie, das ich sie hinbringe?“
„Äh. Ja.“
Aprils Atem ging immer noch schwer, doch sie hatte sich bereits etwas beruhigt. Halb begriff sie, dass der Redeschwall des Mannes keine Unhöflichkeit sondern Mittel zum Zweck war, um ihrer Aufregung den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Sie ließ sich von Solstheim durch mehrere fahlweiße Gänge führen. Sie kamen an Krankenzimmern vorbei. Alle waren voll belegt. Als April danach fragte, antwortete der Arzt ihr, die Vollbelegung sei der Standardzustand. Das Mercy beherbergte zu jeder Tages und Nachtzeit ganze Siebenhundert Patienten. Bei den meisten handelte es sich um Alkoholvergiftungen, Erschöpfungszustände oder Opfer von Schlägereien.
Die Polizei ging ein und aus.
Solstheim drückte auf einen rot markierten Schalter an der Wand. Aus einem Lautsprecher darüber knarrte es.
„Solstheim. Bitte öffnen sie.“ Sprach er hinein.
„Seien sie hinter dieser Tür bitte leise. Dort liegen nicht nur ihr Mann und seine Begleiter, wir behandeln dort auch Menschen, die…“ Er senkte den Blick auf den Boden
„…nicht so viel Glück wie ihr Mann hatten.“
Da April mit einer derartigen Aussage nichts anzufangen wusste, antwortete sie nicht. Ohnehin galt ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen. Der Tür schloss sich ein planweißer Gang an, der am Ende in einem Kreisförmigen Raum endete. Hüfthohe Rigipswände gingen in Panoramafenster über, die Einblick in jedes der Zimmer gewährten. Batterien von Messgeräten und Bildschirmen drängten sich hinter den Kopfenden der Betten. Die Patienten, manche wach, andere offensichtlich schlafend oder bewusstlos, lagen auf weißem Leinen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Aus einem Zimmer in der Mitte des Ganges fixierte jemand sie mit seinem Blick. Grau lag auf dem Gesicht des Mannes. Müde Augen kämpften gegen schwere Lieder. Es war Christian. Er lächelte matt.
 
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Kommentare  

@ Killing Joke: Wann geht die Geschichte weiter? Oder hat dich etwa die ölige eigenständig sich bewegende Masse verschlungen?? ;0))

Liebe Grüße Dubliner Tinte


Pia Dublin (09.01.2010)

Hi Ihr zwei.
Was da überhaupt passiert ist noch nicht ganz klar, Ihr wisst immer nur so viel wie die Protagonisten erleben ;-).

Schön das es euch gefällt, das freut mich!

Gruß,
Killing Joke


Killing Joke (10.11.2009)

Sehr unheimlich, diese ölige Masse, wie die sich immer weiter vorwärts schiebt und die armen kleinen Menschlein ihr völlig ausgeliefert sind. Auch beschreibst du völlig lebensecht, wie es in dem überfüllten Krankenhaus zugeht und wie die Ärzte mit diesen Vergiftungserscheinungen kaum klar kommen. Tapfere April und tapferer Christian. Das Paar ist einer unheueren Stesssituation ausgeliefert. Bin sehr gespannt wie es weitergeht.

Jochen (07.11.2009)

Ich kann den anderen nur zustimmen. Wahnsinnig spannend und schaurig. Mal etwas ganz anderes, was man sonst so als Horrorgeschichte vorgesetzt kriegt. Die Sache mit dem Hubschauber hat mir sehr gefallen. Klar ist mir allerdings nicht, wodurch eigentlich diese unheimlichen Wellen entstanden sind. Haben sich etwa Gase in dem Becken gebildet oder soll das ruhig erstmal ein Geheimnis für den Leser bleiben?

Petra (06.11.2009)

@Doska: Hui, davon geträumt? Hoppla. Ich bin gebeindruckt, wie Marty Feldman wahrscheinlich sagen würde. Rettung für Christian und die anderen? Es wird noch viel passieren, sehr viel.

@rosmarin: Ja, abenteuerlich ist es. Eine Sikorsky kann in Wirklichkeit natürlich keine 3 Tonnen an der Seilwinde heben, besonders nicht im vollen Flug. Aber die Wirkung fand' ich spannend. Angus McGuyver lässt grüßen.

Danke für's kommentieren Leute!

Gruß,
KJ.


Killing Joke (06.11.2009)

Spannend und plastisch beschrieben, wie die ekelhafte stinkende und ölige Masse fast in den Wagen hinein kriechen will. Habe sogar heute Nacht davon geträumt. Den Männern im Inneren des Wagens hatte ich keine Chance mehr gegeben.
Und nun - Seuchengefahr! Arme April kann Christian noch gerettet werden? Sehr gut geschrieben.


doska (05.11.2009)

hallo, joke, das ist ja überaus abenteuerlich und keine leichte kost. wollen wir hoffen, dass die kleine mannschaft alles gut überstanden hat.
gruß von


rosmarin (04.11.2009)

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