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4 Seiten

Townsen 2/3

Romane/Serien · Spannendes · Experimentelles
Der Wirt schaute auf seine Uhr. Es war drei durch. Er musste also noch eine Weile aushalten. Heute war nicht besonders viel los in seiner Bar. Der Regen wird es wohl nicht sein, der die Leute davon abhält, zu ihm zu kommen, dachte er so bei sich, als er gerade damit beschäftigt war, ein paar Gläser abzuwaschen. Wenn man etwas in dieser Stadt aushalten musste, dann war es so ein Wetter.
Er hasste diese Stadt, wie es wahrscheinlich jeder Andere auch tat. Es gab hier einfach nichts Gutes, nur Verrottetes, Müll, verrückte Menschen und Draufgänger, die sich irgendetwas aus welchem Grund auch immer beweisen wollten. Damals als junger Mann war er auch so einer gewesen. Er war auf dem Land aufgewachsen. Das war im direkten Vergleich hierzu das pure Paradies gewesen, wenn man mal von den regelmäßigen Überfällen der Stadtbewohner absah. Das war auch der Grund dafür gewesen, weshalb er selbst in die Stadt gezogen war. Er wollte auch einer von denen werden, die das Sagen hatten; die wussten, wie der Hase lief; die stark waren und das Kommando übernehmen konnten. Die Stadt hatte ihn so aufgenommen, wie sie es mit jedem anderen wohl auch zu tun pflegte: mit einem kräftigen Schlag in die Fresse. Immer und immer wieder, so lange, bis er fast daran zerbrochen wäre. Genau an diesem Punkt hatte er dann aber angefangen gehabt, zurückzuschlagen. Nach und nach hatte er schließlich herausgefunden, wie es in dieser Stadt lief; hatte herausgefunden, was er tun musste, um hier zu überleben; war zu einem Städter geworden, so wie er es zuvor immer gewollt hatte. Allerdings zurück konnte er von da an nicht mehr. Zwar hatte er das durchaus auch mal versucht gehabt, aber das Land war einfach nicht mehr sein zu Hause, seine Gegend gewesen. Die Stadt hatte ihn zu diesem Zeitpunkt schon längstens assimiliert gehabt, er war schon längstens zu einem Teil des großen Ganzen geworden gewesen.
Es regnete immer noch, aber nicht mehr ganz so stark wie zuvor. Der Wirt war einer von denen, die den Regen mochten. Denn dieser vermochte es irgendwie, diese Stadt nicht ganz so schlimm aussehen zu lassen, wie es ansonsten der Fall gewesen wäre.
Plötzlich bemerkte er eine Gestalt, die schlürfend auf ihn zu kam. Schlürfend bedeutete in dieser Stadt nichts Gutes. Jeder verbannt damit einen Underdog, also einer, der nichts zu verlieren hatte. Der Wirt bediente keine Underdogs, das war viel zu gefährlich. Diesen gottlosen Wesen durfte man keines Falls trauen, egal was sie auch vorgaben zu sein.
Die Gestalt trug Lumpen, hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, so dass man sein Gesicht nicht sehen konnte und hohe Stiefel an. Irgendwie sah sie einem Mönch gar nicht mal so unähnlich.
Solch einen Underdog hatte der Wirt noch nie zuvor zu Gesicht bekommen gehabt. Langsam wurde ihm die ganze Sache etwas unheimlich. Vorsichtig tastete er nach seiner Schrotflinte unter seinem Tresen. Gäbe es dieses Wunderwerk menschlicher Technologie nicht, wäre er höchstwahrscheinlich schon längstens Mausetot. Es gab nicht viele Waffen in dieser Stadt und schon gar nicht solch große Kaliber. Damit hatte man meist einen großen Vorteil anderen gegenüber, denn die bevorzugte Waffe in dieser Stadt waren Stichwaffen. Es war absolut unwahrscheinlich, dass dieser Underdog, wenn er denn einer war, eine Schusswaffe bei sich trug. Der Wirt fühlte sich angesichts dessen relativ sicher in seiner Haut.
Der Mönch erreichte die Bar und setzte sich auf einen der Hocker. Der Wirt musterte seinen Gast ganz genau, konnte aber immer noch nichts von dessen Gesicht erkennen. Erst als der Mönch langsam die Kapuze von seinem Kopf gestreift hatte und den Wirt mit seinen tiefen, blauen Augen eindringlich ansah, hatte er das erste Mal Gelegenheit, diese mysteriöse Person einzuschätzen. Währendessen prasselte der Regen im Hintergrund auf den Asphalt und den ganzen Unrat, der überall auf den Strassen herumlag. Es war ein sehr intensiver Augenblick. Sie schienen sich beide irgendwie zu mustern, ja abzuschätzen.
Mit einer fast heiser wirkenden, leisen Stimme flüsterte der Mönch plötzlich: „Ich hätte gerne ein Bier.“
Der Wirt schaute seinen Gast misstrauisch an. Dann sagte er zu ihm etwas unsicher: „Sie sind ein Underdog, nicht war?“
„Ein was?“, wollte der undurchsichtige Gast wissen.
„Ein Underdog, einer von da unten, aus der Unterwelt dieser Stadt.“
„Ich komme nicht aus dieser Stadt“, sagte daraufhin die Gestalt bestimmt.
„Nicht?“
„Nein.“
„Wo kommen Sie denn dann her?“, wollte der Wirt nun wissen. Noch war er alles andere als entspannt; noch war er nicht dazu geneigt, diesem Fremden ein Bier zu geben. Denn noch konnte er diesen nicht so recht einschätzen.
„Ein Bier bitte“, sagte daraufhin der Fremde nur.
„Hören Sie, ich möchte keinen Ärger, verstehen Sie?“
„Ich verstehe.“
„Sie bekommen Ihr Bier, aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass Sie keinen Ärger machen.“
“Ich verspreche es.“
Der Wirt überlegte, was er nun tun sollte. Er traute diesem Kerl immer noch nicht so recht über den Weg. Auf der anderen Seite: wem konnte man in dieser Stadt schon trauen? Und irgendwem musste er ja schließlich etwas verkaufen, wenn er seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte. „In Ordnung“, lenkte er deshalb nach einer Weile etwas zögerlich ein. „Ich gebe Ihnen ein Bier. Aber halten Sie sich an Ihr Versprechen, verstanden?“
“Verstanden“, sagte der Fremde und wartete seelenruhig ab.
Der Wirt entspannte sich nun tatsächlich ein wenig, ließ von seiner Schrotflinte ab, und drehte nur für einen Bruchteil einer Sekunde seinem Gast den Rücken zu, um den Regalen, die hinter ihm angebracht waren, ein Glas zu entnehmen. Als er sich wieder umgedreht hatte, schaute er in die Mündung seiner eigenen Schrotflinte. Vor Schreck ließ er das leere Bierglas fallen. Es landete unsanft auf dem Boden, wo es in tausend Stücke zerschellte.
„Ganz ruhig“, versuchte der Wirt den Fremden zu beruhigen. „Ich habe nicht viel Geld in der Kasse. Heute war kein so guter Tag, es hat ja die ganze Zeit nur geregnet. Dennoch können Sie alles haben, was Sie nur wollen.“
Der Fremde erwiderte darauf nichts. Er wusste schon längstens, was er von dem Wirt wollte. Und er wusste auch, dass er dies von ihm bekommen würde.

Townsen war das Ende, der Anfang, die Asche, aus dem der Phönix entsteigen würde. Die Frage war nur, wann es denn endlich so weit sein würde. Vielleicht war dies der letzte Hoffnungsschimmer, der die Menschen in dieser Stadt am Leben erhielt, der sie davon abhielt, vor dem Schmerz zu kapitulieren; vor dem Eindringen der Dunkelheit in das eigene Gemüt, in das eigene Fühlen, das eigene Handeln, in den eigenen Verstand.
Es gab in dieser Stadt Hierarchien, es gab die, die aus welchem Grund auch immer noch ein Licht in sich trugen; die noch nicht aufgegeben hatten; die noch an das menschliche in dieser Stadt glaubten. Und es gab die Underdogs. Es gab die, die von der Stadt verschlungen worden waren; die nicht mehr zurück gefunden hatten, aus der Hölle der düsteren Perspektiven, die einem diese Stadt ständig und überall zu vermitteln versuchte. Eine Perspektive, die nur in einer Richtung enden konnte: dem eigenen, dem bedingungslosesten seelischen Tod, den ein menschliches Wesen nur sterben konnte.
Was konnte schon dagegen unternommen werden? Wer konnte etwas dagegen tun? Wer hatte die Macht, eine Struktur, die seit langem schon zusammengebrochen war, zu erneuern; an die Gegebenheiten der neuen Zeit anzupassen? Es musste nicht nur die Struktur reformiert werden, sondern vor allem und zuallererst die Menschen, die diese Struktur tragen mussten.
Diese Stadt brauchte Inspiration.
Selfey schritt durch die engen Gassen von Townsen, seine Kapuze tief in sein Gesicht gezogen. Seine Stiefel klatschten durch Pfützen. Dabei trat er oft unvorsichtigen Ratten auf die Schwänze, die anschließend verzweifelt versuchten, in das für sie undurchdringliche Leder der Stiefel zu beißen und sich, nach dem sie eingesehen hatten, dass dieses Tun für sie absolut aussichtslos war, erschrocken davon machten. Er war einer der „Neuen“; einer derjenigen, die versuchten, etwas zu verändern. Jeder auf seine Art und Weise, aber alle mit dem gleichen Ziel: diese Stadt zu besiegen; sie zu erneuern; sie zu einem besseren Ort zu machen. Sie kamen von außerhalb, von einem anderen Ort, ja, manchen von ihnen kam es sogar so vor, als kämen sie aus einer anderen Zeit. Sie wollten den Menschen Furcht einflößen. Sie wollten, dass über sie geredet wird, dass andere dazu inspiriert werden würden, es ihnen gleich zu tun und so dafür sorgten, dass es in dieser Stadt für alle besser werden würde.
Sie waren die „Neuen“, die „Erneuerer“, die „Phönixe, die sich aus der Asche erhoben“.
Selfey hatte ganz genau noch einen einzigen Schritt zu leben. Es war nicht so, dass dabei sein ganzes Leben vor seinem inneren Auge vorbeihuschen sollte. Bei ihm war dieser Moment, den jedes Lebewesen früher oder später erleben würde, etwas anders. „Wann hört dieser Regen denn endl…“, dachte er gerade bei sich, wurde von einem Wurfmesser in die Schläfe getroffen, fiel bewusstlos zu Boden, und starb, während er von diversen Underdogs geplündert wurde, und sich gleichzeitig diverse Ratten um seine austretende Gehirnflüssigkeit stritten, für diese Stadt einen recht gewöhnlichen Tot.
 
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Kommentare  

Hallo Jochen, vielen Dank für deine Kommentare.
Dieser Text ist nicht einfach zu verstehen. Ich
werde aber ausnahmsweise an das Ende des
letzten Teils ein Epilog oder eine Stimme des
allwissenden Erzählers setzen, die hoffentlich ein
wenig Licht ins Dunkel zu bringen vermag. Vorab
sei aber schon einmal verraten, dass es sich
hierbei um einen Postmodernen, wenn nicht gar,
wie im ersten Teil angedeutet, einen Post-
Postmodernen Text handelt. Gruß,


Siebensteins Traum (05.05.2010)

Also, so ganz klar ist mir das nicht, aber vielleicht habe ich das ja auch richtig verstanden. Der Kapuzenmann ist also abgestochen worden, nachdem er bei dem Wirt gewesen ist. Wenn es falsch war, sage es mir ruhig. Vielleicht hat mich bei dem Getöteten ja auch nur die Kapuze irritiert, aber dann müsste du das irgendwie klarer machen. Sonst ist dieses Kapitel schön atmosphärisch geschrieben und darum grün.

Jochen (04.05.2010)

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