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Der Tag, an dem ich ein besserer Mensch werden wollte

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
Ich hatte es mir geschworen: Diesmal würde ich eisern bleiben! Diesen Jahreswechsel würde ich diszipliniert nutzen und meine guten Vorsätze in der Alltagspraxis anwenden. Kein Zurück mehr! Schluss mit den Halbheiten! Ich würde ein besserer Mensch werden!
Dabei ging es überhaupt nicht um die üblichen Kinkerlitzchen wie „endlich Nichtraucher“ oder „mehr Sport“ oder gar um „gesünder Essen“. Diesen abgedroschenen Alltagskram hatte ich bereits ein paar Mal versucht und nach ein paar Tagen oder Wochen immer erfolglos abgebrochen. Warum sollte ich mich mit banalen Vorsätzen aufhalten, die eh niemand einhält. Diesmal ging es um höhere Ziele! Ich würde ab sofort ein besserer Mensch werden! Oder gibt es etwas Schöneres, gibt es eine größere Befriedigung, als Gutes zu tun, als freundlich, höflich, hilfsbereit und zuvorkommend zu anderen zu sein und damit unser Leben angenehmer zu gestalten? Zumal ein solches Vorhaben sooo einfach ist! Man stolpert ja förmlich über die Möglichkeiten, ein guter Mensch zu sein!
Ich begann gleich am Neujahrsmorgen mit einer alten Dame, die versuchte die Straße zu überqueren, in dem sie ängstlich einen Fuß vor den anderen setzte und ungeschickt eine Krücke in der einen und eine schwere Tasche in der anderen Hand zwischen den Trümmern der vergangenen Nacht balancierte, um die vielen ausgebrannten Feuerwerkskörper herum und um auf diesem Müll nicht auszurutschen und zu stürzen. Mit meinen guten Vorsätzen eilte ich auf sie zu und bot ihr meinen Arm. „Kommen Sie!“ sagte ich und strahlte sie an. „Lassen Sie sich helfen! Gemeinsam geht’s besser!“
Erschrocken blickte sie auf und sah mich böse und ablehnend an. „Ich brauche keine Hilfe!“ krächzte sie mit der Stimme eines ausgetrockneten Knäckebrotes. „Ich bin doch nicht alt und hilflos! Ihr denkt immer, ihr könnt uns Alte wie Trottel behandeln!“
„Aber…!“ begann ich und suchte trotz der Ablehnung nach einem freundlichen Ton. Denn soo leicht lasse ich mich nicht von meinen guten Vorsätzen zum Neuen Jahr abbringen. Soo leicht nicht!
„Nix mit Aber!“ schimpfte die alte Dame. „Sie wollen wohl jetzt ihr schlechtes Gewissen beruhigen? Erst vergangene Nacht die Böller unnötig in die Luft geballert, dass unsereins kein Auge schließen konnte, dann hier die Straße in eine Müllhalde verwandeln, aber jetzt den barmherzigen Samariter spielen…! Ha! Aber mit mir nicht! NICHT MIT MIR…!“ Sie stampfte mit der Krücke auf die Straße, bis die Pflastersteine Funken sprühten.
„Aber ich habe doch überhaupt keine Böller…“ warf ich ein und wollte meine Unschuld beteuern. Doch mit einer strengen Handbewegung schnitt sie mir jede weitere Erklärung ab.
Jetzt erst recht! dachte ich. ICH lasse mir meine guten Vorsätze nicht von der Erstbesten kaputt machen, griff zu ihrer Tasche und sagte „Darf ich Ihnen wenigstens die Tasche tragen?“
„Was erlauben Sie sich?! Lassen Sie sofort die Hände von meiner Tasche! Ich schreie um Hilfe!“
„Aber…!“ stotterte ich.
„Hören Sie auf mit Ihrem Aber!“ Sie fuchtelte mit ihrer Krücke durch die Luft und schlug nach mir. Gegenüber waren die ersten Leute stehengeblieben und sahen mich feindselig an.
„Den Trick kenne ich, junger Mann!“ sagte sie. „Davor hat die Polizei schon gewarnt! Womöglich wollen Sie sich auch noch unter einem Vorwand in meine Wohnung einschleichen, und dann - zappzarapp…“. Sie hob die Hand und machte an ihrem Hals eine eindeutige Schnittbewegung.
Vielleicht sollte ich mir für meine guten Vorsätze dankbarere Menschen suchen, überlegte ich nun doch und verschwand schnell in Richtung Kinderspielplatz, wo ich bereits einige in Schals und Anoraks vermummte Mütter mit ihren Kindern sah.
Kinder!
Ich liebe Kinder!
Die eigenen sind bereits erwachsen und Enkel gibt’s keine. Aber ich liebe Kinder!
Ich könnte die Süßen knuddeln, wenn sie frech und freudig in die Welt strahlen. Ich könnte mit den Racken Fußball oder Räuber und Gendarm spielen. Ja, ich könnte wildfremde Gören einfach auf meinen Schoß setzen und Hoppe-hoppe-Reiter mit ihnen machen. Aber zumindest könnte ich mich zu einer jungen Mutter und ihrem Kind auf die Bank des Kinderspielplatzes setzen und ein freundliches Gespräch beginnen.
„Ein angenehmer Tag heute!“ begann ich also das Gespräch und schaute Mutter und Kind erwartungsfroh an. „Ungewöhnlich warm für einen Ersten Januar! Wie schön für die Kleinen!“
Die Mutter schwieg. Ihr Mund wurde schmal und zugeklebt, als hätte sie statt Lippenstift Pattex-Sekundenkleber benutzt. Ihre Augen funkelten Ablehnung; nein, was sage ich, es war das Aufflammen purer Angst und tiefster Entrüstung. Das Kind schaute ängstlich von einem zum anderen. Die Frau griff das irritierte Kind und das Dreirädchen aus Plastik und zog beide hinüber zu einer anderen Bank. Dort saß bereits eine Frau, deren Kind alleine auf der Schaukel wippte.
„Mama!“ rief das Kind. „Mama, komm schaukele mit mir!“ Aber Mama war mit Stricken beschäftigt und deshalb ging ich hinüber zur Wippe, denn ich war ja noch immer voll mit guten Vorsätzen.
„Soll ich mit dir schaukeln?“ fragte ich und das Kind rief freudig „Ja, ja!“
Ich saß noch nicht auf dem Schaukelbalken, da ertönte bereits das schrille Gezeter der Mutter: „Claudius! Komm sofort hierher zu Mutti!“ und Klein-Claudius lief verschreckt aber gehorsam zu Mutti. „Ich hab‘ dir doch gesagt, NIEMALS mit fremden Männern!“ Die andere Frau pflichtete zeternd bei: „Jetzt treiben sich die Kerle schon frech und respektlos auf den Spielplätzen herum! Man sollte sofort die Polizei rufen!“ Ich verließ den Platz lieber vor dem Polizeieinsatz, verzog mich in die Sicherheit meines Autos und fuhr leicht irritiert durch die Stadt, um vielleicht irgendwo doch noch auf freundliche Menschen zu treffen. Hinter mir hörte ich die Frau rufen: "Alter perverser Sack...!"
*
An der Kreuzung kam ich von rechts und hatte Vorfahrt. Aber ein verschlafener Zeitgenosse, der vergangene Nacht durchgefeiert, hatte es eilig. Ich konnte zwar noch bremsen, aber ein bisschen Lack- und Blechschaden waren unvermeidbar. Eigentlich wollte ich ungehalten reagieren, erinnerte mich aber in letzter Sekunde an meine guten Vorsätze zum Neuen Jahr. Ich stieg aus und sagte freundlich: „Na, für ein paar Sekunden nicht aufgepasst?“
„Wat heest hier nich uffjepasst!?“ berlinerte der Mann. „Ick fahr nen Mercedes Automatik! Aba DU hast anscheinend Tomaten uff de Oochen! Oder warum haste nich jemerkt, dat ick's eilig hab, du Penner?!“
Ruhig wollte ich ihm die Straßen- und Verkehrslage erklären. Nur nichts eskalieren lassen! dachte ich. Mit Ruhe, Freundlichkeit und Geduld kommt man besser zum Ziel! Ich bahnte mir einen Weg durch die gaffende Menschenmenge, die sich neugierig gebildet hatte und fachkundige Kommentare abgab.
Da trat eine junge Frau auf mich zu, zuppte mich am Arm und sagte freundlich: „Mein Herr, Sie haben Vogeldreck auf dem Rücken. Ein Vogel hat da etwas draufgemacht…!“ Hilfsbereit wischte sie mit einem Papiertaschentuch über meinen Rücken. Eine andere junge Frau kam hinzu und meinte, es sei besser die Jacke auszuziehen, da könne man den Schaden besser bereinigen.
Na also! dachte ich. Es gibt doch noch freundliche und hilfsbereite Menschen! Menschen, die so positiv denken und handeln wie ich. Ich zog die Jacke aus und die beiden Frauen reinigten mit Innbrunst. Aber es war anscheinend kein Vogeldreck, sondern nur Senf aus der Tube und ich wunderte mich, wie der dort hingekommen war.
Als ich schließlich den Unfall protokollieren und meine Papiere hervorholen wollte, bemerkte ich den Verlust meiner Brieftasche. Der Unfallfahrer zeigte mir den Vogel und fuhr davon. Und die beiden hilfsbereiten jungen Frauen waren auch plötzlich verschwunden. Also überlegte ich mir, dass ich mit den guten Vorsätzen zum neuen Jahr eventuell noch ein bisschen warten sollte. Vielleicht bis zum nächsten Jahr, oder sogar zum übernächsten…
*
 
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Kommentare  

Wie kann "Mann" nur!
Da hat frau sich nun jahrelang die Mühe gemacht, immer schön moderat Männerfeindlich durch die Welt zu schauen und dann kommst du...du...Gutmensch!
So gehts ja nun nicht!
So nicht!


Gringa (25.10.2013)

Geniale Geschichte! So kann es kommen...
Die Szene mit der betagten Dame hat mir am Besten gefallen. "Stimme wie Knäckebrot" Herrlich!


Sabine Müller (02.01.2013)

Eine humorvolle Story, die voll aus den Realitäten unseres Alltags gegriffen ist.
Hat mir sehr gefallen!
LG. Michael


Michael Brushwood (01.01.2013)

Die kleine Story brachte auch mich zum schmunzeln und ich lache nicht so leicht. Flüssig und sehr lebendig geschrieben und vor allem von der Wahrheit leider überhaupt nicht weit entfernt.

Marco Polo (01.01.2013)

Sehr gut. Ich habe schallend gelacht und es steckt durchaus ein Kern Wahrheit darin.

Dieter Halle (01.01.2013)

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