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5 Seiten

Das Märchen vom goldenen Wolf

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Es war einmal ein kleines Mädchen namens Blondmarie, das lebte mit ihren Eltern und Geschwistern in einem kleinen Dorf am Rand eines riesig großen Waldes. Ihr Vater war Meister im großen Sägewerk des Dorfes und brachte so viel Geld nach Hause, dass sie nicht bettelarm waren. Ihre Mutter bewirtschaftete einen kleinen Garten und bestand oft auf die Hilfe ihrer drei Kinder. Dennoch hatte sie ein Augenmerk darauf, dass die Kleinen neben Schule und Haushaltspflichten genügend Zeit zum Spielen hatten. Diese verbrachten die Geschwister zusammen mit anderen Kindern auf dem großen Dorfanger. Ballspiele waren beliebt, aber auch Verstecken, Fangen oder Abenteuer. Abenteuer nannten sie die Spiele, die sie in den großen, finsteren Wald trieben. Denn das Fremde weckte die Neugierde zum Erkunden. Darin waren diese Kinder zum Glück nicht anders als sonstwo auf der Welt. Und der Nervenkitzel einer drohenden Gefahr war bei weitem interessanter, als darauf zu warten, vom Ball abgeworfen zu werden.
Dieses Mal spielten die Kinder den Auszug in die Neue Welt nach. Es gab Indianer, Soldaten und Farmersfamilien, die sich durch den großen Wald schlagen mussten, um zu den saftigen Weidegründen zu gelangen.

Blondmarie spielte die siebzehnjährige Tochter des Wagentreckführers. Sie wurde aufgrund ihrer Schönheit von allen jungen Männern sehr begehrt. Aber am meisten erfreute sie sich, wenn die Augen des jungen Generals auf ihr ruhten. Und obwohl sie erst zehn Jahre alt war, entwickelte sich bei ihr in dieser Rolle erstmals ein Gefühl von Verliebtheit zu einem Jungen.
Als sie schon weit in den Wald vorgedrungen waren, hatten sie endlich die blutrünstigen Indianer besiegt. Das war verständlich. Denn je finsterer der Wald wurde, desto weniger wollte jemand alleine als versprengte Rothaut durch das Unterholz schleichen.
Nur Blondmarie kannte nicht diese Ängste. Immer gut behütet und mit viel Verständnis erzogen, ging sie davon aus, dass alle anderen Menschen und Tiere ebenfalls anständig sind und ihr nie Böses wollen könnten.
Um ihren General ein Geschenk zu machen, schlich sie bei einem Steinbruch von der Gruppe weg. Schon bald fand sie einen in buntesten Farben schimmernden Erzstein. Doch kaum hatte sie ihn in ihre Tasche gesteckt, sah sie ganz weit weg einen noch viel schöneren Stein. Hastig rannte sie über Stock und Stein. Mal nach vorne, mal nach recht, dann nach links und immer weiter. Bald schon hörte sie nicht mehr die Rufe ihrer Geschwister und Freundinnen. Sie war so im Sammeleifer, dass sie nichts Anderes mehr sah, als Steine und Waldboden. Bis sich plötzlich in einem Feld von Findlingen etwas bewegte. Ihr Herz rutschte ihr in die Hose. Ein Wolf, so groß wie sie noch nie einen gesehen hatte, rappelte sich von seinem Nachmittagsschläfchen auf und blickte sie mit forschendem Auge an. Ganz langsam ging er auf sie zu. Seine blaugrünen Augen fixierten sie unermüdlich. Deutlich tastete er ihren Körper ab. Würde er ausreichen, seinen Hunger zu stillen, oder würde er sich nach einem fetteren Braten umsehen? Blondmarie betete zu Gott, dass es sich eines Anderen besinnen möge und Jagd auf einen großen Hirsch machen würde. Vergebens. Der große Wolf fletschte kurz die Zähne, dann leckte er sich immer wieder mit seiner Zunge über seine Schnauze. Blondmarie wurde ganz kalt in ihrem Bauch und ihrem Herzen. Denn das waren die Körperpartien, in die die Augen des Wolfes hinein stachen. Schlagartig war ihr bewusst, dass er Bauch und Brust zuerst fressen würde.
Langsam ging er weiter.
Ängstlich wich das Mädchen Schritt für Schritt zurück.
„Lieber Wolf, an mir ist nichts dran. Ich bin so ein kleines, unschuldiges Mädchen. Mit Sicherheit werde ich Dir nicht schmecken. Schau, wie dünn ich bin“. Dabei hob sie ihr Hemdchen, dass er sich überzeugen sollte.
Aber das war wahrscheinlich das Falscheste gewesen, was sie hätte machen können. Laut knurrte der Wolf auf und duckte sich zum Sprung. Vor Schreck fiel Blondmarie die Tasche aus den Händen. Wie Kanonenkugeln rollten ihre Steine dem Wolf entgegen. Dieser jaulte laut auf und sprang einen Meter er in die Höhe. Und noch in der Luft drehte er sich zur Flucht. Schnell kam er aus dem Schatten der Tannen heraus auf eine kleine Lichtung. Da plötzlich schimmerte sein Fell in der Sonne golden. Wie eine zweite Sonne blendete es Blondmarie. Und ließ all ihre Angst vor diesem Wolf vergessen werden. Sofort rannte sie ihm hinterher. Diesen Wunderwolf wollte sie fangen. Dieser goldene Wolf sollte ihr gehören. An seiner Seite käme sie sich wertvoll vor. Und er könnte sie jederzeit gegen die ganze Welt verteidigen.
Sie wollte ihn als Freund haben, als Spielgefährten und Partner. Und eines wusste sie genau: Einen Haushund wollte sie nie im Leben aus ihm machen.
Vergessen war die Todesangst.
Sie rannte und rief, dass er stehen bleiben möge. Sie würde ihm auch nichts tun, außer sein schönes goldenes Fell zu streicheln.
Hin und wieder hielt der Wolf inne in seiner Flucht.
Blondmarie glaubte, dass er nach Atem rang. Sie verstand nicht, dass er sie immer weiter in sein dunkles Reich lockte.
So ging das einige Stunden.
Es dämmerte schon, da erreichten sie eine Quelle.
Plötzlich war der Wolf weg.
Blondmarie spürte Durst und trank.
Da bekam sie Hunger.
Und mit dem Hunger kam ihre Angst zurück.
Was wäre, wenn der Wolf genauso einen großen Hunger hätte wie sie selber?
Nun erkannte sie ihre Dummheit. Geblendet von dem prächtigen Fell des Wolfes hatte sie Freunde, Geschwister und Eltern hinter sich gelassen. All jenen, die sie hätten wirklich beschützen können, war sie geflohen. Nun war sie ganz alleine auf der Welt. Und musste sich selber vor dem Wolf schützen.
Als erstes kletterte sie auf eine große Weide. In drei Meter Höhe gabelten sich die Äste. In der Kuhle, die diese bildeten, ringelte sie sich ein. Da verstand sie sich selber nicht mehr. Sie war froh, dem Wolf entkommen zu sein und traurig, dass er nicht neben ihr lag. Gerne hätte sie sich jetzt an seinen warmen Körper angeschmiegt und in seinem Schutz die Augen geschlossen. Kurz glaubte sie, in dieser Nacht kein Auge schließen zu können, da übermannte sie die Erschöpfung.

Sie weiß nicht, wie lange sie geschlafen hatte.
Auf einmal trieb der Durst sie vom Baum herunter.
Kaum hatte sie genug getrunken, hörte sie nicht weit von sich entfernt ein leises Knurren. Sofort flog ihr Kopf in dessen Richtung. Über dem Boden sah sie zwei grün fluoreszierende Augen auf sie zugekrochen kommen. Der Weg zum rettenden Baum war versperrt. Ihr blieb nur die Flucht.
Blitzschnell sprang sie auf und rannte los. Immer wieder stolperte sie über Wurzeln und fiel hart zu Boden. Brombeeren rissen an ihren Unterschenkeln, Hagebutten, Stechpalmen und Schlehen an ihren Armen und ihren Haaren. Wie durch ein Wunder ritzte jedoch nicht ein einziger Dorn ihr schönes Gesicht.
Sie spürte nicht das Brennen der Kratzer, nicht das Wummern der Blutergüsse. Alle Sinne galten nur ihrem nackten Überleben. Warum aber holte der Wolf sie nicht ein?, fragte sich Blondmarie nach einiger Zeit. Mit diesen Augen müsste er bei Nacht tausend Mal besser sehen als sie. Mit seinen vier Beinen müsste er mindestens doppelt so schnell sein. Und dieses ist der Wald. Sein Revier. Jeden Stock, jeden Stein müsste er kennen.
Einen Kreislaufkollaps nahe blieb sie stehen. Vorsichtig schaute sie sich um. Da sah sie wieder die beiden grünen, gefährlich leuchtenden Augen. Sie hatten Blondmarie noch immer im Visier.
Das Mädchen blickte genauer hin und erschrak. Sein Fell war pechschwarz. Wo war ihr goldener Wolf geblieben? Dieses wilde Tier sah in seiner Schwärze noch viel bedrohlicher aus. Sie wusste nicht, dass sein Fell immer Sonne und Mond reflektierte. Und heute war Neumond. Deshalb die beängstigende Schwärze.
Vorsichtig näherte sich der Wolf.
Die Gruselgeschichten ihrer Großmutter fielen ihr ein. Von Werwölfen, die bei Nacht die Menschen anfallen und die Kehle durchbeißen. Und bei diesem Akt machten sie den Menschen selber zum Werwolf, zu ihrem Gefährten.
Wenn sie jetzt aufhören würde zu fliehen, vielleicht würde der Wolf sie dann zu seiner Wölfin machen und sie könnte mit ihm zusammen durch die Wälder streifen, ihm Kinder gebären, eine gute Mutter sein und eine zärtliche Ehewölfin.
Da spürte sie in ihrem Herzen etwas, das sie nie zuvor gespürt hatte. Es war mehr als Spaß. Es war mehr als Freude. Trotz der Kälte der Nacht durchströmte eine angenehme Wärme ihren Körper. Und eine Sehnsucht, die von ganz weit her zu kommen schien.
Erschrocken über dieses Gefühl setzte Blondmarie weiter an zur Flucht.
Wieder ging es über Stock und Stein.
Erneut stürzte sie unzählige Male und ließ sich Kleid und Haut einreißen.
Da sah sie weit vor sich ein Licht.
Mit jedem Sprung wurde es größer.
Aber das Hecheln des Wolfes kam immer näher.
Tatsächlich, es war ein Haus.
Aber da hörte sie schon das Tapsen der Pfoten.
Tatsächlich, die Tür stand offen.
Aber da spürte sie schon den heißen Atem des Wolfes an ihrer Wade.
Tatsächlich, ein Mann erschien in der Tür.
Aber da drangen die Fänge schon in ihr Fleisch.
Laut schreiend stürzte sie zu Boden.

Als sie erwachte, lag sie im Inneren der Hütte. Im Kamin flackerte ein kleines Feuer, auf dem Tisch brannte eine Kerze. Davor saß ein uralter Druide und tunkte ein Leinentuch in eine kupfernen Schale. Darauf säuberte er ihr ihre Wunden.
Der Sud war kühl und vertrieb sofort ihre Schmerzen. Der Duft war so aromatisch, dass all ihre Ängste nach draußen flohen.
Nur in einem langen, weißen Nachthemd lag sie auf einer Matratze aus Stroh. War es eine Ironie des Schicksals, dass sie auf Wolfsfellen gebettet war?
„Das Glück ist jetzt oder nie“. Weich und warm drang die Stimme des steinalten Mannes an ihr Ohr. „Wenn Du das Vergangene nicht los lässt, wirst Du das Glück nie finden. Um loslassen zu können, brauchst Du Einsicht in die Dinge. Einsicht in Dir selber. Du musst lernen, mit einer Sicht zu schauen. Einfach nur schauen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was Du brauchen könntest. Oft haben wir eine ganz klare Vorstellung davon, was wir brauchen und was wir nicht brauchen, um glücklich sein zu können. Genauso oft haben wir eine Vorstellung davon, was wir dürfen und was wir nicht dürfen, um Glück erleben zu dürfen. Aber genau diese Vorstellungen sind falsch. Wir haben Angst, sie loszulassen, weil wir befürchten, dann unseren Halt zu verlieren. Doch so lange wir das Loslassen nie ausprobieren, so lange können wir nicht die Erfahrung machen, wie schön das Leben ist, wenn wir los gelassen haben. Hab den Mut, loszulassen, Mädchen. Lass die Sorgen und Ängste gehen, wie das Meer sich bei Ebbe zurück zieht. Dann wirst Du erkennen, dass wahres Glück möglich ist“.
Lange noch ließ sich Blondmarie diese Worte anhand von Beispielen erklären. Dabei tupfte der Sud ihr immer mehr ihre Schmerzen hinfort. Bis sie behütet eingeschlafen war.
Als die Morgensonne schon über die Baumwipfel in ihr Zimmer schien, verließ sie das Haus. Vor dem alten Ziehbrunnen lag der goldene Wolf und wärmte sich sein Fell.
Leise schlich sie zu ihm hin.
Es gelang ihr, ihn nicht aufzuwecken.
Glücklich bettete sie ihren Kopf auf seinen Bauch und schlief ein.

Copyrights Foto: Astrid Gast@Fotolia.com
 
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Kommentare  

Hallo Else,

ich finde es schön, dass Dir meine Fabeln und Märchen so gefallen. Eigentlich sind Fabeln ja aus der Mode, so war ich mir sehr unsicher, wie die bei euch Leserinnen und Lesern ankommen. Deine Zustimmung baut mich von daher sehr auf. Vielen Dank.

Ich wünsche Dir einen schönen Abend
Frank Bao


Frank Bao Carter (05.05.2015)

Diese süßen kleinen Fabeln von dir gefallen mir immer sehr. Mensch, ich würde auch gerne mal deinem Wolf über das goldene Fell streicheln.

Else08 (02.04.2015)

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