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3 Seiten

Das Ritual

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
Die Nase hat eine Spur aufgenommen. Der Bewegungsapparat setzt sich schwermütig in Gang. Ein mechanisches Wesen würde nach der schier endlos langen Zeit der Regungslosigkeit mit jedem Schritt quietschen. Da Johnny aus Fleisch und Blut ist, hört man nur ein lautes Knacksen. Träge schleppt er sich zu der Quelle des vielversprechenden Duftes. Die Pizza ist nicht mehr weit entfernt. Der Essens-Trieb hat über die Faulheit gesiegt. Der Kampf Pizza gegen Sofa ist vorerst entschieden. Johnnys Magen rumort. Seine Beine tragen ihn unsicher in die Küche. Beim Bücken das nächste Knacksen. Fluchend holt er die Pizza aus dem Ofen. Warum kann die Pizza nicht zu ihm kommen? Wahrscheinlich, weil es sich um eine Holschuld handelt. Wer etwas essen möchte, muss sich dorthin bewegen, schlussfolgert Johnny mit der Brillanz eines Sherlock Holmes.

Einen Butler kann er sich nicht leisten. Wochentags arbeitet er als Fahrradbote. Am Wochenende ist er hauptberuflich Couchmuffel. Man könnte fast meinen, in seinem Körper leben zwei Wesen. Das Eine ist sportlich, fleißig und agil. Stellt Bestzeiten mit dem Rennrad auf. Das Andere sieht seinen Lebenszweck in der Horizontalen vor dem Fernseher. Eine Dr. Jekyll Mr. Hyde Konstellation. Nur hat keines der beiden Wesen einen Universitätsabschluss. Übernimmt der faule Mr. Hyde die Kontrolle, werden selbst die kleinsten Aufgaben des Alltags zu den gewaltigsten Herausforderungen. Den Wasserkrug auf der Anrichte holen? Unmöglich - außerhalb der unmittelbaren Reichweite der Hände und Füße. Die Fernbedienung vom Boden aufheben? Keine Chance - da müsste er sich ja strecken. Auf ein anderes Programm zappen? Geht nicht - die Fernbedienung liegt ja auf dem Boden.
Man könnte es auch den Teufelskreis der Faulheit nennen. Oder Work-Live Balance. Wer sich unter der Woche dermaßen viel bewegt, darf sich am Wochenende eine Null-Bock Mentalität gönnen.

Das ist nicht die Ansicht seiner Freundin. Seit nunmehr einem Jahr leben sie zusammen. Seit nunmehr einem Jahr versucht sie ihm den (faulen) Mr. Hyde auszutreiben. Mit mäßigem Erfolg.
Anja arbeitet in einem Büro. Sie ist Assistentin der Geschäftsleitung in einem großen Konzern und verdient ein Vielfaches von Johnny. Ihr beruflicher Ehrgeiz wird nur durch ihre Unternehmungsfreudigkeit übertroffen. Diese findet ihren Zenit vor allem am Wochenende, wo die Mühen der Arbeit vergessen werden wollen.

Ihr freitägliches Ritual spielt sich folgendermaßen ab: Johnny kommt schon früher nach Hause. Zieht seine Fahrradklamotten aus. Wirft sie „zielgenau“ in die Wäschetonne. Geht sich duschen. Holt sich schnell einen essbaren Snack aus der Küche und legt sich vor die Flimmerkiste.
Anja kommt nach Hause. Sieht ein unendliches Chaos in der Wohnung. Die Fahrradklamotten hängen halb aus der Wäschetonne. Johnnys Schuhe sind in die Ecke gepfeffert. Das Badezimmer schaut aus, als hätte ein Kleinkind mit einem Gartenschlauch einen Amoklauf veranstaltet. Die Luft steht in der Wohnung. Doch wer ist der Übeltäter?

Ihr Blick fällt auf eine scheinbar regungslose Gestalt auf dem Sofa. Krümel liegen auf ihr und dem Boden. Johnny!
Anjas Pupillen fangen an sich zu verengen. Der Puls steigt. Die Lungenflügel füllen sich mit Luft. Aufbrausender Ärger will entfesselt werden. Einem Maschinengewehr gleich rattern Beschuldigungs- und Befehlssalven aus der Feuermündung einer weiblichen Superwaffe.
Diesem sehr aktiven Part stellt sich ein erstaunlich ruhiger passiver Part gegenüber. Mr. Hyde hat nämlich keine Lust auf energieraubende Wortgefechte. Er stellt sich lieber scheintot. Aus dieser Position kann er gleichzeitig auf den Fernseher schauen und eine lässig betonte Abwehrhaltung gegen die sich im Dauerfeuer befindende Lärmquelle einnehmen.
Obwohl diese Taktik sehr effektiv ist, hat die Lärmquelle noch einen gerissenen Schachzug in petto. Sie schaltet den Fernseher manuell aus und entzieht dem Faulpelz somit einen wichtigen Verbündeten.
Dann ist entweder Konfrontationskurs angesagt, oder konsequentes Weiterbefolgen der eingeschlagenen Taktik ohne Beschäftigung durch die Flimmerkiste. Ersteres ist gegen die Maxime der Faulheit des Mr. Hyde. Zweiteres gegen jene des Aktivseins des Dr. Jekyll. Der Mittelweg liegt darin sich aufzusetzen, der Lärmquelle einen versöhnenden Blick zuzuwerfen und ein: „Es tut mir leid Schatz. Morgen unternehmen wir etwas. Du hast ja letztens von diesem [Ausflugsziel] erzählt, wo man….“ zu sagen. Das beruhigt die Lärmquelle meistens und verwandelt sie wieder in die Freundin die man liebt. Auch Anja sind zwei völlig verschiedene Temperamente innewohnend, die manchmal den Anschein erwecken es wären konträre, eineiige Zwillinge. Einer liebevoll und hinreißend. Der Andere herrisch und Befehle herumbrüllend als wäre er auf einem Schlachtfeld.
 
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