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Memoiren eines Schriftstellers - 22. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 22

William und Shirley Carter landeten um 9 Uhr morgens auf dem John F. Kennedy International Airport, dort wurden sie von einer schwarzen Stretch-Limousine abgeholt. Dieser Service wurde selbstverständlich von der Geschäftsführung des Kaufhauses Macy`s organisiert und bezahlt. Ihr Gepäck befand sich für diesen kleinen Trip in einem Trolley. William hatte vorab mit dem Bürgermeister seiner Heimatstadt Provincetown telefoniert und darum gebeten, dass sein Elternhaus bewohnbar hergerichtet wird. Normalerweise war dies die Aufgabe seines früheren Nachbarn, aber Mr. Johnson war mittlerweile verstorben. Cape Cods berühmter Sohn kehrt nun nach über dreißig Jahren zurück in seine alte Heimat.

Chapter 119-123 aus meinen Memoiren: Rendezvous über den Wolken

Bevor die Vorlesung begann wurden wir zum World Trade Center chauffiert. Hoch oben im 107. Stockwerk des Nordturms gab es ein Restaurant, dort für uns um 11 Uhr ein Tisch reserviert wurde. Es hatte den vielversprechenden Namen: Windows on the World, davon ich schon oft in der New York Times gelesen hatte. Es zählte zwar nicht zu den besten Restaurants, dafür aber trotzdem zu den teuersten von New York, immerhin bekam man eine wundervolle Aussicht über Manhattan geboten. Jedenfalls verstand ich die nette Geste von Macy`s und freute mich sehr darauf, mit Shirley dort gemeinsam zu speisen.
Nachdem wir mit einen der zahlreichen Lifte bis in die obersten Etagen gefahren waren, uns nun 400 Meter über den Straßen von New York befanden, folgten wir dem Hinweisschild, welches uns zum Restaurant führte. Ich war von der Dimension der Innenarchitektur des Gebäudes überwältigt, da konnte selbst das Empire State Building oder sonst ein anderer Wolkenkratzer in L.A. nicht mithalten.
„Entschuldigen Sie Mister, es gibt ein kleines Problem. Ich darf Sie leider nicht hinein lassen. Sie sind zwar angemessen gekleidet, jedoch das Mädchen nicht. Tut mir leid“, wies mich ein junger uniformierter Herr an der verglasten Tür zum Restaurant freundlich zurecht.
„Das Mädchen, wie Sie sie nennen, ist eine Frau. So fängt das schon mal an, mein allzu junger Freund. Zweitens, erkennen Sie etwa nicht, was mit ihr los ist? Ich helfe Ihnen auf die Sprünge … Sie ist schwerbehindert.“
Shirley war ordentlich gekleidet. Sie trug eine Jeanshose, weiße Turnschuhe und einen blauen Niki Pullover mit einem Mickey Maus Motiv. Darüber trug sie eine Strickjacke.
„Drittens ist sie meine Tochter und viertens, wissen Sie etwa nicht, wer ich bin? Der Geschäftsführer von Macy`s hat für mich und meine Tochter einen Tisch reserviert. Ich bin Mister William Carter!“, betonte ich nachdrücklich.
Er war ein gutaussehender, junger farbiger Bursche, der nach meinem Geschmack etwas zu übereifrig und vorlaut war. Es schien ihm zu gefallen, eine gewisse Machtposition zu besitzen und insbesondre Prominente nach eigenem Ermessen abzuweisen. Mag ja sein, dass er nur seinen Job tat und Anweisungen befolgte, aber ich empfand sein Verhalten ungeheuerlich und fühlte mich zutiefst beleidigt, denn bei uns in Los Angeles wären meine Tochter und ich sogar mit einem Bademantel bekleidet in jedem Sternerestaurant willkommen gewesen (obendrein hätte ich nicht einmal bezahlen müssen).
Er wankte mit dem Kopf.
„Nein, ich kenne Sie nicht und das spielt sowieso keine Rolle, wer Sie sind, Mister Carter. Hier gehen mitunter ständig Prominente ein und aus. Letzte Woche hatte ich sogar Sylvester Stallone abweisen müssen, weil er etwas zu salopp gekleidet war. Und auch Mister Stallone hatte dies anstandslos akzeptiert. Wir haben nun mal unsere Hausvorschriften und ich muss mich daran halten. Besuchen Sie mit Ihrer Tochter doch unsere Bar, Mister Carter. Ein Stockwerk tiefer, dort besteht keine Kleiderordnung und man kann auch dort eine Kleinigkeit zu sich nehmen.“
„Pass mal auf, mein Freund. Ich kann meine Tochter unmöglich in ein Abendkleid oder sonst in irgendeinen feinen Fummel stecken. Jeder normale Menschenverstand kapiert das und jeder normaler Türsteher wie Sie, würde ein Auge zudrücken und uns passieren lassen. Also, wie entscheidest du dich, mein Freund?“, fragte ich provokant, woraufhin er mit der Schulter zuckte und mich unverschämt anlächelte.
„Gehen Sie mit Ihrer Tochter doch in ein McDonalds Restaurant. Gleich um die Ecke, nur ein paar Häuserblöcke weiter, gibt es ein gutes auf der Wall Street“, erwiderte er daraufhin keck.
Der junge Mann in der Uniform hielt sich beharrlich an die Hausordnung, schüttelte mit dem Kopf und wagte es sogar mich mit der Hand aufzuhalten, als ich Shirley einfach reinschieben wollte. Ich war kurz dran, meine Beherrschung zu verlieren. Am liebsten hätte ich ihn am Kragen gepackt und ihn so richtig durchgeschüttelt. Aber ich wollte keinen Skandal heraufbeschwören, nicht an so einen wichtigen Tag.
„Wissen Sie was? Ich würde jetzt gerne auf der Stelle den Geschäftsführer sprechen“, sagte ich, doch plötzlich hörten wir eine männliche Stimme aus dem Saal rufen.
„Was soll das?! Meine Kleidung wird jeden Tag akzeptiert! Also, dann lassen Sie Mister Carter und seine Tochter gefälligst auch hinein!“
Zu meiner Verwunderung ließ er uns daraufhin tatsächlich passieren, als hätte dieser jemand Sesam öffne dich gesagt.

Ich schob Shirley an unseren reservierten Tisch, direkt zur riesigen Fensterfront mit den markanten Verstrebungen, wo man einen herrlichen Ausblick über Manhattan und dem Hudson River genießen konnte. Schräg gegenüber war der Südturm zum Greifen nahe, als könnte man einfach hinüber auf die Dachplattform springen.
Ich fühlte mich entspannt, denn niemand belästigte mich und forderte ein Autogramm von mir. Die meisten Gäste waren Geschäftsleute, bis auf die Person die ich es zu verdanken hatte, dass wir letztendlich ohne weitere Diskussionen das Restaurant betreten konnten.
Dieser Mann schien ein Mönch zu sein. Er war mit einer schwarzen Robe bekleidet und seine Kapuze lag ihm tief im Gesicht. Um seinen Nacken lag ein silbernes Kruzifix. Ich nickte ihm freundlich zu, dies er erwiderte. Shirley meinte, dass sie überhaupt nicht hungrig wäre, schließlich war es erst elf Uhr und nicht halb eins. Nachdem ich ihr erklärte, dass wir aber jetzt unbedingt zu Mittag essen müssten weil später keine Zeit dafür wäre, wünschte sie sich lustlos einen Teller Spaghetti Bolognese oder Fischstäbchen mit Spinat und Ketchup. Da wir aber weder beim Italiener noch in einer Imbissbude sondern in einem noblen Restaurant waren, diese Mahlzeiten also absolut nicht auf der Speisekarte standen, bestellte ich das Mittagsmenü des Tages. Und zwar Lamm-Medaillons mit Minzsoße und hausgemachten Kroketten, dazu Gemüse und noch einen extra Teller für Shirley. Sie sollte von mir eine Kleinigkeit abbekommen, denn unsere nächste warme Mahlzeit könnten wir erst zu uns nehmen, wenn wir spät am Abend in Boston landen würden.
Als die Serviererin meine Bestellung aufnahm fragte ich sie leise, wer die geheimnisvolle Person in der Mönchkutte sei. Sie antwortete, dies wäre der Abt und er verwalte das Klostermuseum von Manhattan. Er würde jeden Tag, zur gleichen Uhrzeit, am selben Tisch sitzen. Der Abt saß nur da und starrte auf seine Teetasse.

Unsere Mahlzeit dampfte leicht und duftete schmackhaft, als ich Shirley etwas auftat. Das Essen sah fantastisch aus; schön mit Karotten, Petersilie und weiterem Grünzeug verziert. Shirley stocherte mit der Gabel lustlos in ihrem Teller rum und kaute. Plötzlich verzerrte sie ihr Gesicht und spukte das gute Lammfleisch mit Minzsoße wieder aus. Angeekelt streckte sie ihre Zunge raus und schüttelte sich.
„BÄH, SCHMECKT NICHT!“, blökte sie rum und öffnete mit großen Augen ihren Mund weit auf, damit ich die letzten zerkauten Fleischbrocken herausholen sollte. Dabei tröpfelte ihr die Minzsoße am Kinn und Mundwinkel herunter. Shirley stellte sich wiedermal an, als hätte sie puren Kuhmist gegessen und zu allem Übel hatte sie ihren Unmut deutlich ausgesprochen. Alle Leute reckten ihre Hälse und blickten zu uns rüber, während ich ihren Mund säuberte.
„Shirley, bitte benimm dich!“, flüsterte ich ihr dringlich zu. „Wir sind hier in einem Sternerestaurant. Das Essen ist vorzüglich!“
Dann brabbelte sie, dass Thelma viel besser kochen würde und damit sie endlich wieder ruhig war, war ich damit einverstanden, dass sie sich ein großes Schokoladeneis mit ganz viel Sahne wünschte. Selbst als man ihr das Schokoladeneis auftischte mäkelte sie. Es war zwar ein großer Teller und das Schokoeis war liebevoll mit Streusel und Puderzucker sowie kleine Waffeln dekoriert worden, aber sie beschwerte sich lautstark, weil es nur zwei Eisbällchen und nur ein Häubchen Sahne war. Davon werde ich nicht satt, quengelte sie. Ich sah sie scharf an und antwortete: „Eben hast du mir erklärt, du hättest keinen Hunger. Aber Eis, davon kannst du nicht genug bekommen. Stimmt’s mein Fräulein?“
Shirley guckte wiedermal unschuldig drein, überlegte kurz und nickte dann.

Der Abt zog seine Kapuze herunter. Sein gewelltes, schulterlanges Haar sowie sein Rauschebart waren schneeweiß. Er schmunzelte.
„Eine entzückende Tochter haben Sie, Mister Carter. Der Herr segnet diejenigen, die stets die Wahrheit sagen. Die Mahlzeiten sind in der Tat nicht annähernd schmackhaft, wie es angepriesen wird. Dafür stimmen aber die Gerüchte, dass der Geldbeutel hier äußerst beansprucht wird, selbst wenn man sich nur eine Tasse Tee gönnt. Aber der einzigartige, wundervolle Ausblick über den Wolken entschädigt alles. Ich will mich kurz vorstellen. Ich bin Vater Cornelius. Endlich begegnen wir uns wieder, William. Es ist ja schon eine halbe Ewigkeit her. Ich wusste es, dass du eines Tages hier erscheinen wirst.“
„Kennen wir uns etwa?“, fragte ich verwundert.
Anstatt mir zu antworten, lächelte er mich nur an.
Ich konnte mich zwar momentan beim besten Willen nicht daran erinnern, ihn irgendwann schon einmal getroffen zu haben, aber irgendwie kam mir der Mönch tatsächlich bekannt vor. Er saß nur zwei Tische von uns entfernt, mit dem Rücken zur Fensterfront gewandt und beobachtete uns. Und sobald ich ihn anschaute, lächelte er nickend.
In diese Augen hatte ich schon einmal geblickt, nur wo und wann, fragte ich mich. Nach einer Weile wurde mir die Anwesenheit des Abtes unangenehm, zumal er uns permanent anstarrte, und während ich aß und darüber grübelte, woher ich ihn kannte, hörte ich plötzlich eine Stimme. Eine merkwürdige Stimme, die rau klang, wie die einer uralten Frau und sie flüsterte: „Steh auf und verlasse sofort das Gebäude!“
Erschrocken schaute ich mich um, aber ich sah nur Geschäftsleute, die dinierten. Diese Stimme hörte ich so deutlich, als hätte mir jemand direkt ins Ohr geflüstert.
Gemurmel und das Geklimper von Besteck auf Porzellan waren zu hören, während meine Augen umherwanderten. Selbst diese eigenartige Stimme kam mir bekannt vor.
„Geh aus dem Restaurant. Sofort!“, hörte ich die Stimme erneut und wieder unmittelbar. Abermals blickte ich aufgeschreckt über meine Schulter und sah mich um, doch niemand außer der Abt schaute mich an.
Blitzartig erschienen Bilder vor meinen Augen, kurze intensive Bilder, wie Erinnerungen, die ich aber nicht zuordnen konnte. Diese Stimme hatte die Tür zu meinem Unterbewusstsein geöffnet, denn ich sah lodernde Flammen vor mir. Ich war vom Feuer umgeben und ein Gesicht mit hellblauen Augen sprach mit derselben Stimme zu mir. Mein erster Gedanke war, dass es sich möglicherweise um vergessene Erinnerungen an meinen Autounfall am Nürburgring handelte, denn was damals auf der Nordschleife geschehen war, wie sich dieser Rennunfall ereignet hatte, daran konnte ich mich bis zum heutigen Tage absolut nicht mehr erinnern.
„Dort hinten, ganz hinten in der Ecke am letzten Tisch sitzt ER“, sagte Vater Cornelius beinahe flüsternd. „Er will verhindern, dass wir uns unterhalten.“
Dann sah auch ich ihn. Einen schmächtigen Kerl, jugendliches Aussehen, bekleidet mit einem dunklen Herrenanzug und er trug schwarze Handschuhe. Sein kupferrotes Haar war streng nach hinten gekämmt und am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf gebunden. Seitlich waren sie kurz geschoren. Er strahlte eine gewaltige Präsenz aus, selbst wenn das Restaurant völlig überfüllt gewesen wäre, wäre er mir sofort in der Menschenmenge aufgefallen.
Auch er starrte mich an, stechend mit ernster Miene, während er einen Papierflieger bastelte und ohne seinen Mund zu bewegen, hörte ich ihn sprechen. Seine Stimme hörte ich in meinem Kopf: „Das ist der Penner von der Brücke. Er kennt das Geheimnis der Feder und verlangt deinen Tod. Mach, dass du wegkommst!“
Währendem sah ich wie er den Papierflieger auf seine flache Hand legte und ihn wegpustete. Meine Augen verfolgten den Flieger, wie er einen Salto drehte und hoch oben unter den Deckenlampen seine Runden durch das Restaurant schwebte. Niemand bemerkte diesen Papierflieger, wie er mitten durch den Saal sachte im Sinkflug auf einen unbesetzten Tisch zuflog und gegen eine der zwei speziellen Essigflaschen stieß, dessen Gläser so verarbeitet wurden, dass sie wie die Zwillingstürme aussahen.
Zeitgleich war diese Person plötzlich einfach spurlos verschwunden. Ein unwohles Gefühl erschütterte mich kurzzeitig, das mir eine Gänsehaut bescherte. Außerdem wurde mir kurz übel und schwindelig, so etwas hatte ich zuletzt in meiner Kindheit verspürt. Schließlich war ich seitdem niemals krank geworden.
Kaum bin ich in New York angekommen, verfolgen mich wieder diese merkwürdigen Visionen von damals, dachte ich. Nur dieses urplötzliche Unwohlsein war mir neu. Der Abt starrte mich an und schien meinen Gemütszustand zu erkennen.
„Lass dich nicht davon beeindrucken. Er versucht dich von mir fern zu halten. Wie ich schon sagte, er will mit allen Mitteln verhindern, dass wir uns austauschen.“
Dafür wusste ich jetzt aber, wer dieser Mönch war. Es war mir plötzlich eingefallen. Verblüfft blickte ich den Abt an.
„Barney? Barney bist du das etwa?“, fragte ich unsicher.

Als ich damals noch ein junger Bursche war und gemeinsam mit Gary, Big Martha, Max und Huby unter der Autobahnbrücke gehaust hatte, hatte ich mich vor Barney immer gefürchtet. Das letzte Mal als ich ihn sah und sogar mit ihm gesprochen hatte, war in der Nacht als Gary starb. Barney hockte an einem kalten Novembertag, im Jahre 1965, vor einem frischen Laubhaufen und behauptete, dass ihm der Erzengel Gabriel erschienen war. Fakt ist, dass er sich damals vom Alkohol praktisch ernährt hatte, er völlig verwahrlost und nie bei Sinnen und ganz plötzlich sowie unerklärlich umgewandelt vor mir gestanden war. Als wäre er neu geboren worden. Damals erklärte er mir, dass er in ein Kloster gehen und ab sofort Gott dienen wollte. Nach dieser Erkenntnis entschwand plötzlich meine Übelkeit.
Der Abt wankte mit dem Kopf.
„Nein, William. Dieses Geschöpf, Barney, existiert schon sehr lange nicht mehr. Und ich hatte dich damals gewarnt, dass du dich nicht verführen lassen sollst. Erinnerst du dich? Du sollst dich nicht durch Geschenke bestechen lassen, denn Geschenke machen die Sehenden blind und verdrehen die Sache derer, die im Recht sind. Buch Moses. So steht es im Alten Testament des Herrn geschrieben. Ich kenne das Geheimnis deines Erfolges. Es ist die Feder, die man dir in Rumänien überreicht hatte. Zu allem Übel hattest du einen Vertrag unterzeichnet, du Narr.“
Ich war erschrocken darüber, dass er über die Schreibfeder informiert war, aber ich ließ mir dies nicht anmerken.
„Ist dir eigentlich bewusst, was das für eine Schreibfeder ist? Du hast die Engelfeder des Lucifer benutzt und dadurch Ruhm und Reichtum errungen. Die Bücher, die du geschrieben hast, stammen wortwörtlich nicht aus deiner Feder. Du bist Satans Werkzeug geworden, somit hast du dir das himmlische Tor bis in die Ewigkeit selbst verschlossen und es allen verwehrt, die dir nahe stehen und die dich unterstützen. Du hast es zugelassen, dass sich teuflische Schriften in die Gedanken Abermillionen von Lesern einpflanzten“, sagte er mit erhobenem Zeigefinger. „Und auch deine Tochter wird dir in die Finsternis folgen, was aber noch lange nicht bedeutet, dass du sie dort je wiedersehen wirst. Du bist der Ursprung des Übels aber ich hatte mich vor dem Erzengel Gabriel für dich verbürgt. Täglich habe ich dich in meine Gebete eingeschlossen und den Herrn für deine Sünde um Verzeihung gebeten. Aber das reicht nicht. Du hast die Büchse der Pandora geöffnet, etwas Unwiderrufliches in die Welt der Lebenden geschmuggelt. Diese Feder muss unbedingt zerstört werden und du wirst dich opfern müssen, William. Nur auf diese Weise wirst du die Gunst des Herrn zurückgewinnen. Wir gemeinsam, du und ich, damit all die unschuldigen Seelen befreit werden. Dann wird dir Gott verzeihen, andernfalls wirst du in die Finsternis verbannt werden.“
Einen Augenblick sah ich ihn nur wortlos an und ich fragte mich, ob dies eventuell ein Erpressungsversuch ist. Dann tupfte ich mit einer Serviette meinen Mund ab, zerknäulte sie und warf sie auf meinen Teller. Der Appetit war mir gründlich vergangen, trotz dass meine Übelkeit verschwunden war. Irgendwie hatte dieser Verrückte mein wohlbehütetes Geheimnis entlarvt. Shirley war völlig verwundert als ich einfach aufstand, ihren Rollstuhl nahm und sie vom Tisch wegschob. Sie hielt ihren Löffel noch in der Hand und meinte brabbelnd: Daddy, ich habe mein Eis doch noch gar nicht aufgegessen.

Vater Cornelius breitete langsam seine Arme über den Tisch aus.
„Wir beide, du und ich, müssen den Fürsten der Finsternis das Handwerk legen. Wir haben es aber leider nicht mit Geistern, Flüchen oder Dämonen zu tun, die man mit Exorzismus oder andere Methoden bekämpfen könnte, sondern mit Engel. Engel sind unbesiegbar, nur Gott selbst oder deren Schöpfer vermögen ihnen Einhalt zu gebieten. Und derjenige, der dich umgibt, ist ein Abgesandter des Bösen und besitzt göttliche Fähigkeiten. Er gaukelt dir nur vor, dass er dich vor Unheil beschützen wird. Letztendlich hält er dich nur am Leben, so lange du ihnen von Nutzen bist, dann wird er kommen und dich persönlich niederstrecken. William, er wird dich ermorden … schon sehr bald“, prophezeite der Abt. „Und nach deinem Tod soll die Schreibfeder weitervererbt werden. An einen anderen talentierten Schreiberling, der sich ebenso nach Ruhm und Reichtum sehnt, wie du einst“, erklärte er. „Diese Schreibfeder kann nur mit der Gewalt eines Jüngsten Gerichts endgültig vernichtet werden. Du bist ein Betrüger, ohne diese Feder wärst du niemals berühmt geworden. Du hast die Menschheit bewusst belogen und dich bereichert. Tue Buße und beende Lucifers Machenschaften, indem du dich samt der Feder selbst opferst. Ich werde dir beistehen, mein Sohn. Ich werde dir dabei helfen, dieses schwere Kreuz zu tragen.“
„Du schlägst mir also vor, dass ich mich mit dir gemeinsam umbringen soll? Das halte ich für keine so gute Idee“, erwiderte ich abfällig.
Barney, oder Vater Cornelius wie er sich jetzt nannte, war mir unheimlicher als zuvor. Es gefiel mir absolut nicht, dass er über die Schreibfeder Bescheid wusste. Eigentlich war es unmöglich, dass er davon wusste aber dies hier und jetzt auszudiskutieren hatte ich keinesfalls vor. Es war immerhin grad Mittagszeit und das Restaurant füllte sich minütlich mit Gästen. Meine größte Sorge war im Moment, dass Barney sich mit seinem Wissen eventuell an die Presse oder gar an den Nachrichtensender CNN wenden würde, denn dann wäre ich ziemlich am Arsch. Das wäre eine Schlagzeile, die nicht nur meine Karriere beenden und mein Lebenswerk zunichte machen würde, sondern auch mein gesamtes Leben. Mit dieser Schmach könnte ich mich nie wieder in eine zivilisierte Gegend blicken lassen, schließlich war ich weltbekannt. Und mich irgendwo in der Einöde von Alaska zu verstecken, wäre für mich absolut keine Option. Nicht mit meiner schwerbehinderten Tochter im Schlepptau.

Die mystische innere Stimme sprach wieder zu mir (obwohl ich diesen rothaarigen Kerl nirgendwo entdeckte) und behauptete, dass der Abt ein niederträchtiger Scharlatan wäre und ich zum Beweis seinen Tee kosten sollte. Wortlos schnappte ich mir seine Tasse und probierte. Daraufhin verzog ich mein Gesicht. Es schmeckte nach hochprozentigem Rum. Wirklich ekelhaft. Tee mit einem kräftigen Schluck Rum, oder eher gesagt, Rum mit einem kleinen Schuss Kamillentee.
Ich lächelte zuversichtlich, denn das war meine Rettung. Einem Alkoholiker, selbst wenn er der Papst wäre, würde niemand Glauben schenken falls dieser behauptete, dass der geniale Schriftsteller nicht ein einziges Buch selbst geschrieben hätte, sondern nur mithilfe einer verwünschten Schreibfeder.
„Barney, du bist eine unverbesserliche Schnapsdrossel und genauso verrückt wie damals. Du redest nur Mist. Du gehörst wieder unter die Brücke oder sicherheitshalber in ein Irrenhaus, dort wärst du wesentlich besser aufgehoben.“
„Nein, William, bitte glaube das nicht! Das alles ist nur eine Sinnestäuschung! Verstehst du denn nicht, merkst du es denn nicht, dass du manipuliert wirst? Ich bin hier um dir zu helfen, um dich zu retten. Seit damals habe ich nie wieder einen Tropfen Alkohol gekostet. Das musst du mir glauben! Wir beide müssen dein lasterhaftes Leben beenden und die Feder vernichten, denn dir steht dieses reiche Leben nicht zu. Du trägst die Schreibfeder stets bei dir und deshalb bitte ich dich, komme am Dienstag um Punkt halb neun hierher, genau an diesem Tisch. Dann wirst nicht nur du gerettet werden, sondern auch alle die dir am Herzen liegen. Vertraue mir, sonst wirst du es im Jenseits bereuen!“
Barney wirkte in seiner Mönchkutte, als der Abt vom Klostermuseum The Cloisters, genauso abgedreht und unheimlich wie damals in seiner verkommenen Lederkluft. Nur seriöser, mehr aber auch nicht. Ich schmunzelte.
„Tja, lieber Vater Cornelius, da muss ich unser Rendezvous hier und jetzt gleich leider absagen. Heute Abend flieg ich nämlich nach Cape Cod und am Dienstag, gleich morgens, fliegen meine Tochter und ich von Boston zurück nach Los Angeles. Also dann, auf Nimmerwiedersehen … Barney.“
Zum Schluss legte ich ihm einen zehn Dollar Schein auf den Tisch und sagte, dass er sich dafür eine Flasche Schnaps kaufen sollte. Dann schob ich Shirley durch das Restaurant.
„Das ist gut. Das ist sogar ausgesprochen gut!“, hörte ich ihn hinterherrufen, bevor wir den Ausgang passierten. „Ich werde am Dienstagmorgen genau hier auf dich warten, mein Freund!“

Selbstverständlich hatte der Chauffeur auf uns in der Tiefgarage gewartet. Nun war es soweit und das Lampenfieber packte mich. Vor einer Lesung war ich stets genauso aufgeregt wie ein Theaterschauspieler, kurz bevor der Vorhang aufgezogen wird. Während wir zum Kaufhaus fuhren, versuchte ich vom Chauffeur etwas über diesen Abt herauszufinden. Dass er mich einen Betrüger nannte, brachte mich zum Nachdenken und ich fragte mich, ob ich tatsächlich ohne diese Schreibfeder niemals berühmt geworden wäre. Und ich fragte mich was passiert, wenn ich die Feder vernichten würde.
Der Ausdruck vernichten war ehrlich gesagt lächerlich und völlig übertrieben. Die Schreibfeder fühlte sich wie eine ganz normale Schwanenfeder an, sie war genauso biegsam und man könnte sie problemlos in der Faust zerquetschen. Ich hatte es einmal vorsichtig probiert, es aber dann doch gelassen.
„Sie meinen bestimmt Vater Cornelius, Mister Carter?“, fragte der Chauffeur während er mich im Rückspiegel anblickte. „Ja, er war schon ein eigenartiger Kauz. Er wirkte sehr verschlossen und redete wenig über sich. Gelacht hatte er auch nie, aber das tut ja keiner von diesen Jesuiten. Meistens führte er Selbstgespräche, als hätte er sich mit Personen unterhalten, jedoch war er immer alleine. War manchmal richtig unheimlich. Aber für die Sorgen anderer hatte Vater Cornelius immer ein offenes Ohr gehabt und er hatte ständig aus der Bibel zitiert. Der gute alte Mann schien die Bibel auswendig zu kennen“, schmunzelte er. „Ich schätze mal, dass ihn beinahe jeder Taxifahrer in New York kannte. Auch ich hatte ihn früher des Öfteren zum World Trade Center gefahren. Jeden Morgen hatte er sich um genau halb neun oben ins Restaurant gesetzt, verweilte dort alleine immer am selben Tisch bis zum Mittag, als hätte er auf jemanden gewartet.“
„Ist Ihnen jemals aufgefallen, dass er betrunken war?“, fragte ich. „Vater Cornelius ist nämlich ein starker Alkoholiker.“
„Vater Cornelius ein Alkoholiker? Niemals!“, beteuerte der Chauffeur. „In den Wintermonaten hielt er sich täglich unter einer Autobahnbrücke auf, in der Nähe von der Bronx, und versorgte die Obdachlosen mit warmer Suppe und Decken. Überhaupt hatte er sich insbesondre um die Obdachlosen rund um Manhattan fürsorglich gekümmert. Mag ja sein, dass er etwas merkwürdig war, manchmal wirkte er gar unfreundlich, trotzdem war er ein gütiger Mann gewesen. Großzügig war er auch, er hatte immer Trinkgeld gegeben. Gott sei seiner Seele gnädig.“
Einen Augenblick stutzte ich.
„Was-was soll das bedeuten? Weshalb sprechen Sie eigentlich in der Vergangenheitsform von ihm?“
Wieder blickte mich der Chauffeur im Rückspiegel an.
„Na weil … Vater Cornelius lebt nicht mehr. Er ist leider vor fünf Jahren gestorben.“
Ich beendete dieses Gespräch, indem ich die Scheibe zum Fahrer einfach zuzog.
In der Vergangenheit hatte ich ja schon genügend unerklärliche Dinge erlebt, aber Barneys Geisterscheinung war beeindruckend real gewesen. Selbst Shirley hatte ihn gesehen, ebenso einige Mitarbeiter des Restaurants. Dass mich die Toten nach all den Jahren schon wieder verfolgten, ging mir buchstäblich auf den Geist. Es gab anscheinend nur eine einzige Lösung, um diesen Spuk endgültig aus der Welt zu schaffen, bevor ich noch in der Klapse landen würde. Ich tätschelte auf die Brusttasche meines Jacketts, darin das silberne Etui steckte. Diese Schreibfeder müsste tatsächlich vernichtet werden.

Vor dem Kaufhaus Macy`s hatte sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt. Ich war sehr erfreut darüber, dass die New Yorker äußerst rücksichtsvoll waren und mich nicht zu sehr bedrängten. Schließlich schob ich Shirley vor mir her.
Die Lesung war ein Erfolg gewesen. Die Leute waren von meinem neuen Roman begeistert, die Bücherregale wurden komplett leergekauft. Nichtsdestotrotz plagte mich ein schlechtes Gewissen und ja, etwas fühlte ich mich nun wie ein Betrüger, als meine Fans mir ehrfürchtig die Hand schüttelten.
In meiner Heimatstadt Provincetown wurden Shirley und ich am nächsten Tag feierlich empfangen, als wäre ich der Präsident der Vereinigten Staaten. Die Häuser auf der Hauptstraße waren mit bunten Wimpeln und Bannern, darauf mein Name geschrieben standen, und Plakate mit meinem abgebildeten Gesicht geschmückt. An jedem Haus waren US-Flaggen gehisst worden und eine Blaskapelle spielte die Nationalhymne, als Shirley und ich auf einem Umzugswagen im Schritttempo durch die Straßen von Provincetown gefahren wurden. Ich ließ mir meinen Kummer nicht anmerken und verhielt mich so, wie es sich für einen Star gehört. Immer lächeln und winken, wie Freddie Mercury es vor langer Zeit sang: Show Must Go On.

Mein Elternhaus war für Shirley sehr gewöhnungsbedürftig, weil die Räumlichkeiten weitaus kleiner und enger waren als bei uns Zuhause in Kalifornien. Sie stieß mit ihrem Rollstuhl ständig gegen die Türrahmen, ins Badezimmer musste ich sie sogar hineintragen, weil es für sie einfach zu eng war, um eigenständig hinein zu gelangen. Daddy, hier gibt es ja gar keinen Fernseher, hatte sie verwundert festgestellt – das war das Erste was sie bemerkte, als wir angekommen waren und ich sie mitten in die kleinen Wohnstube geschoben hatte.
Ich schaute mich um. Alles sah genauso aus wie ich dieses Haus damals im Frühjahr 1969 verlassen hatte. Nur das Ticken der Wanduhr fehlte, diese stand schließlich mittlerweile längst bei mir Zuhause in Beverly Hills, in meinem Schlafzimmer. Ich hatte unseren alten Nachbarn Mr. Johnson all die Jahre beauftragt und selbstverständlich ihn dafür auch bezahlt, dass er mein Elternhaus in Schuss hielt. Die Wände wurden von ihm zwar neu tapeziert, sowie auch die Decken neu gestrichen wurden, aber ich verlangte exakt die gleichen Tapeten sowie Farben. Dieses Haus sollte genauso aussehen, von innen sowie von außen, wie damals in meiner Kindheit.
Ich durchstöberte den Wohnzimmerschrank. Sogar die alten Brettspiele meiner Eltern waren noch da (ein Mensch-ärgere-Dich-nicht Spiel war also vorhanden) und ich entdeckte den antiken Plattenspieler mit Grammophone, darauf sogar noch die Schellackplatte von Paul Ankas Welthit Diana lag, aus dem Jahr 1957.
Das war der Lieblingssänger meiner Mutter gewesen, den sie anhimmelte, selbst in Gegenwart meines Vaters. Vielleicht war Paul Anka genauso ihr Traummann gewesen, wie für mich damals Shirley Temple (Elvis Presley war in ihren Augen ein Sünder, allein deswegen verabscheute sie seine Songs), und wenn sie Oh Carol, Put Your Head On My Shoulder, You Are My Destiny oder Diana hörte, dann war sie fröhlich und tanzte im Wohnzimmer im Kreis. Und mein Vater und ich schauten ihr dabei zu. Wir liebten es, wenn sie Paul Anka hörte, denn dann herrschte die pure Harmonie im Haus.
Ich konnte nicht widerstehen, ließ die Schallplatte laufen und sang den Refrain lautstark mit: „Ohhhh – pleeeease – staaaay – by me – Diana.“
Dann tat ich so, als würde ich Saxophone spielen. Shirley steuerte mit ihrem Rollstuhl nahe an mich heran, gab freudige Laute von sich und als der Song ausklang, zog sie grob an meinem Jackett und forderte mich auf, dass ich dieses Lied nochmal singen sollte.

Ich trug Shirley auf meinen Armen die enge, steile Holztreppe hinauf zum Dachgeschoss, weil sie unbedingt mein altes Kinderzimmer sehen wollte. Kaum hatte ich sie behutsam auf mein altes Bett gesetzt, schaute sie sich mit leicht geöffnetem Mund interessiert um.
Dort gab es eigentlich nicht viel zu sehen, es war nur ein mickriges, düsteres Zimmer mit einem Holzofen, einem einzigen Fenster und einen Einbauschrank. Wenn man aus dem Fenster hinausblickte, sah man direkt den Strand und das offene Meer. Es war sogar noch der alte Anlegesteg meines Vaters zu sehen, dort er seinen Fischkutter immer festgezurrt hatte. Mittlerweile war dieser Bootssteg völlig verrottet und vom Moos befallen, und den Fischkutter hatte ich von Kalifornien aus längst verschrotten lassen.
An den Wänden meines Zimmers hafteten sogar noch die Überbleibsel der Klebstreifen einiger Poster. Ich schmunzelte, denn ich erinnerte mich. Das waren wundervolle Poster von Audrey Hepburn, Liz Taylor und selbstverständlich von meiner damaligen Traumfrau Shirley Temple gewesen.
Auf ein Poster davon war auch Marylin Monroe abgebildet. Sie lächelte lasziv und schaute mit ihrem Schlafzimmerblick, egal in welchem Blickwinkel man stand, einen direkt an. Und genau dieses Poster war damals der ausschlaggebende Grund für eine Familieneskalation, die sich für mich wiedermal gründlich gewaschen hatte. Nur das Filmplakat Giant, darauf James Dean abgebildet war, hatte sie verschont und hing immer noch über mein altes Bett.
Meine Mutter hatte damals dieses Poster, sowie die von Audrey Hepburn und Cleopatra, völlig empört heruntergerissen, wie auch die anderen von Shirley Temple (selbstverständlich hatte ich damals nur Poster von ihr aufgehängt, als sie schon über zwanzig Jahre alt war), hatte die Poster wie eine alte Zeitung zusammengerollt und dann damit wild auf mich eingeschlagen. Die Visagen von schlüpfrigen Frauenzimmern würde sie in ihrem Haus nicht dulden, hatte sie gebrüllt und mich obendrein ein verdorbenes Schwein genannt, das nur lüsterne Gedanken hätte. Zur Strafe musste ich das Vater Unser fünfzig Mal aufschreiben und es ihr am selben Abend vorlegen.
Shirley sah sich um und schüttelte mit dem Kopf. Dies wäre kein schönes Zimmer, meinte sie. Dann schaute sie mich fragend an.
„Daddy, Oma Opa Himmel gehen? Gießen machen?“

Wie ich es ihr versprochen hatte, besuchten wir am Nachmittag den Friedhof. Das kleine Grab meiner Eltern wurde stets von Mrs. Johnson gepflegt, schließlich besuchte sie regelmäßig ihren Sohn, sowie auch das Grab ihres vor einigen Jahren verstorbenen Ehemanns. Shirley war wiedermal äußerst aufgeregt, goss leicht zitternd das Grab ihrer Großeltern und fuhr immer wieder zur Wasserpumpe, dort sie eigenständig die Gießkanne füllte. Ich setzte mich auf eine Parkbank und beobachtete zwei geschlagene Stunden Shirley dabei, wie sie auch die Nachbargräber bewässerte. Sie kümmerte sich sogar um die Kriegsgräber und als sie vor Odd Johnsons Grabmal hielt, erzählte ich ihr, dass dieser junge Mann früher mein Freund gewesen war. Nebendran waren noch einige andere Gräber von meinen damaligen Schulkammeraden, die ebenfalls in Vietnam gefallen waren, und es schockierte mich als ich feststellte, dass dahinter mittlerweile weitere Kriegsgräber vorhanden waren. Relativ neue Gräber. Junge gefallene Soldaten aus dem Golfkrieg von 1991.
Zuhause angekommen schob ich Shirley in den Garten meiner Mutter. Dort konnte ich sie sorgenlos eine Weile alleine lassen. Sie schaute sich die Blumenpracht an und fütterte die Vögel mit Brotkrümeln.
Ich ging derweil in den alten Schuppen meines Vaters, von dort aus hatte ich Shirley wenigstens im Blickfeld (völlig unbeobachtet wollte ich sie dann doch nicht lassen). Ich zog die alte blaue Arbeitslatzhose meines Vaters an, die mir problemlos passte, und sah mich in der Werkstatt um. Mein Vater war ein sehr ordentlicher Mensch gewesen, der sein Werkzeug stets pflegte und alles seinen Platz hatte. Nie erlebte ich es, dass er irgendein kaputtes Werkzeug weggeschmissen hatte, selbst wenn der Holzgriff eines Schraubendrehers zerbrochen war, hatte er diesen mit Holzleim wieder repariert. Sogar die verbrauchten Pinsel hatte er immer abgebunden und die Malerwalzen sorgfältig ausgewaschen. Alles hing ordentlich mit Kordeln verbunden an einer Eisenstange, die er an der Wand montiert hatte.
Bei mir landete das Zeug nach getaner Arbeit immer in die Mülltonne, niemals wäre mir eingefallen, diesen Schmierkram auch noch auszuwaschen. Wozu auch? Wenn ich etwas brauchte, kaufte ich es mir.

Mit der blauen Latzhose bekleidet beabsichtigte ich meine Karriere als Schriftsteller hier und jetzt zu beenden. Zuerst versuchte ich die Schreibfeder einfach mittig zu zerbrechen, aber es war vergebens, denn es fühlte sich an, als würde ich versuchen einen Stahlnagel umzubiegen. Und einen Stahlnagel verbiegt man am besten mit einem großen Hammer. Also spannte ich die Schreibfeder in die Schraubzwinge der Hobelbank ein, holte mit dem Vorschlaghammer aus und schlug wuchtig drauf. Zu meiner Verwunderung federte der Schlag darauf abrupt ab und schleuderte mich samt Hammer zurück, wobei ich rückwärts stolperte und auf meinem Hosenboden landete. Die Schreibfeder jedoch blieb unversehrt.
Okay, dachte ich mir, holte mit dem Vorschlaghammer erneut aus und schlug seitlich auf die Feder ein. Wieder federte der Schlag ab, wobei mir der riesen Hammer aus der Hand glitt und scheppernd in ein Regal krachte, dieses sogleich zusammenbrach und hunderte Schrauben, Nägel und sonstiger Krimskrams auf dem Boden verstreut lagen.
„Aha, ich verstehe“, sprach ich vor mir her, schnappte mir die Heckenschere – damit konnte man sogar einen wirklich dicken Ast mühelos zerschneiden – setzte die scharfen Schneiden mittig der Schreibfeder an und drückte mit aller Gewalt zu. Mit kraftverzerrtem Gesicht versuchte ich die Schreibfeder zu halbieren, aber es gelang mir nicht. Stattdessen wies die messerscharfe Stahlschneide nun eine Kerbe vor. Die Heckenschere war also hinüber, niedergestreckt von einer harmlosen, flauschigen Schwanenfeder.
„Wie widerspenstig“, brummelte ich vor mich her. „Na warte, dir werde ich`s schon zeigen.“
Jetzt entschied ich mich für ein wirklich hartes Geschütz – die Kettensäge!
Es dauerte einen Augenblick und kostete mich Schweiß, bis ich die alte störrische benzinbetrieben Kettensäge endlich mit der dämlichen Ziehkordel zum Laufen gebracht hatte. Ich ließ den Motor laut aufheulen, setzte das rasende Sägeblatt an den Federhalm an und drückte zuerst nur leicht, dann aber kräftiger dagegen, weil die verdammte Schreibfeder sogar gegen die Kettensäge trotzte.
Funken sprühten, als würde ich versuchen Eisen zu zersägen … Aber die verfluchte Schreibfeder blieb tatsächlich unversehrt.
„Das gibt’s doch nicht!“, brüllte ich und drückte mit meiner ganzen Kraft dagegen, die ich aufbringen konnte. Plötzlich knallte es, die gezackte Kette riss und schleuderte wie eine Peitsche umher, traf meinen Oberarm und schmetterte gegen die Hobelbank. Das Sägeblatt schnitt sich zentimetertief in die hölzerne Werkbank rein und ich schrie vor Schmerzen laut auf. Ich ging in die Knie und sah erschrocken auf meinen blutenden Oberarm. Es war eine tiefe, klaffende Wunde, die sofort genäht werden musste. Blut floss über meinen Arm. Ich keuchte aber spürte zugleich, wie der Schmerz allmählich abklang und konnte dabei zusehen, wie der klaffende Schnitt allmählich wieder zusammenwuchs. Schlussendlich war nicht einmal eine Narbe zu sehen.
Doch die Schreibfeder steckte völlig unbeschadet in der Schraubzwinge der Hobelbank.
Jetzt war mir klar geworden, dass die Schreibfeder unverwüstlich war. Selbst der Versuch, sie mit dem Feuerzeug zu verbrennen, blieb erfolglos. Kapitulierend sank ich meinen Kopf und schaute mich verstohlen um.
Mein Vater hatte in seiner Werkstatt lebelang für Ordnung gesorgt, ich war grad mal zehn Minuten hier und hatte ein Durcheinander ohnegleichen fabriziert, und das nur weil ich versuchte, eine Vogelfeder kaputt zu machen.
Plötzlich hörte ich Shirley schreien. Sie fluchte und schimpfte woraufhin ich sofort zu ihr eilte. Sie hatte die Spatzen mit Brotkrümeln beworfen, also gefüttert, dabei hatte sie auch die Möwen angelockt. Die Möwen in Cape Cod waren schon immer besonders dreist gewesen, weil sie Touristen gewohnt waren. Eine von ihnen war einfach unverfroren auf ihren Schoß geflogen (das listige Federviech hatte es scheinbar erkannt, dass sie harmlos und vor allem hilflos war), hatte einfach ihre Papiertüte geschnappt und war damit fortgeflogen. Shirley war mächtig sauer, schaute mich empört an und schimpfte.
„Vogel hat klaut. Vogel böse!“

Am Abend brachte William Carter seine behinderte Tochter in das Ehebett seiner Eltern, legte sich daneben und las ihr aus einem Kinderbuch vor. Als sie eingeschlafen war nahm er behutsam ihre Brille ab, küsste auf ihre Stirn und zupfte die Bettdecke zurecht. Er blickte auf sein Handy, weil es piepte, und richtete sich abrupt auf. George hatte eine SMS geschrieben. Seit beinahe zwei Jahren herrschte absolute Funkstille zwischen ihnen, nun ersuchte sein Freund wieder den Kontakt. William schrieb hastig zurück.
*Hey George, würdest du mich und Shirley morgen Mittag um 13 Uhr am Flughafen abholen? Dann reden wir über alles. Würde mich sehr freuen. Wir fliegen mit der American Airlines, Flug AA11*, antwortete er per SMS.
 
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