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Die Hummel

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Die Hummel

Die Hummel kam durch den geöffneten Fensterspalt geflogen,
setzte sich auf den Rosenquarz, flog zum Bergkristall und krabbelte bis zum Rand der Schreibtischplatte. Das Insekt drehte um, lief über das aufgeschlagene Schreibheft, entdeckte den Blumenstrauß und verbarg sich zwischen den Rosenblüten.
Karsten mochte Edelsteine. Den Rosenquarz bekam er von Irene geschenkt. Es sei ein Stein der Freundschaft, er führe Menschen zueinander, ließe Bekanntschaften entstehen und vertreibe die Einsamkeit. Der Bergkristall hingegen neutralisiere böse Schwingungen, reinige die Atmosphäre und unterstütze den Heilungsprozess. Deswegen lagen die Steine auf Karstens Schreibtisch.
Seit fünf Jahre lagen sie dort Irene hatte den Rosenquarz mit dem Bergkristall und einem Amethysten sowie anderen Steinen um eine Vase drapiert, welche auf Karstens Nachttisch neben dem Bett stand. Vor fünf Jahren geschah der Schlaganfall und trotz eilig eingeleiteter Rehamaßnahmen blieb die linke Seite gelähmt; der Arm war nicht mehr zu gebrauchen. „Du solltest dich nicht so gehen lassen“, sagte sie, „weißt du, es ist alles in deinem Kopf, alles hier drin.“ Sie tippte ihm gegen die Stirn.
Ein Jahr später war klar; die Schreinerei musste in andere Hände gegeben werden. Karsten fiel ins Bodenlose . Die Schreinerei hatte er von Vater übernommen. An dessen Bett schwor er dem alten Herrn den Familienbetrieb fortzuführen und seinen Söhnen weiter zu geben. Das musste er ihm versprechen. Die Söhne wurden nie geboren. Ein kleines Mädchen war´s. Drei Tage atmete sie; dann flog die kleine Seele durch´s geöffnete Fenster hinaus. „Sie wollte halt nicht in der Welt bleiben“, lachte Irene. Für sie war die Sache klar. Alle, vom Kreißsaal bis zur Bahre trafen ihre Entscheidungen selbst. Ihr Kind? Nein, es war nicht ihr Kind. Als gehörten Kinder irgend jemandem, überhaupt, als gehöre irgendwer irgend jemandem.

Die ehemaligen Angestellten vergaßen ihn nicht.
Ralf, Robert, Demian, Karin; sie kamen, hockten an seinem Bett.
„Du hättest nicht so schnell aufgeben sollen“, stellte Irene fest. „Wir versuchen es mit einer zweiten Reha“, beschloss sie. Der Arm blieb unbrauchbar. Dafür konnte Karsten jetzt im Rollstuhl sitzen. Zuerst weigerte er sich, konnte und wollte es nicht akzeptieren. Es war das Einverständnis, das Zugeben. Irene hatte Recht. Dieses verdammte Gefährt, es war die Bestätigung für Irenes Vorwürfe und dennoch, er hatte sich nicht für diesen Schlaganfall entschieden und er hatte sich auch angestrengt während der Reha. „Du strengst dich nicht wirklich an“, warf sie ihm vor, reizte ihn damit, provozierte ihn. Ralf, Robert, Demian und Karin kamen immer noch, zuerst jede Woche, dann jede zweite Woche. Jetzt, da er im Rollstuhl saß, konnte er auch am Tisch sitzen und sie vertrieben sich die Zeit mit Spielen. Kartenspielen ging aber nicht. Der Arm, dieses nutzlose Teil. Gab es da nicht einen Spruch aus der Bibel ? Das Fleisch ist zu nichts nutze. Es ist der Geist, der lebendig macht! Also musste Gott aus dem linken Arm ausgezogen sein. Er wollte wohl nicht mehr in einem nutzlosen Arm wohnen. Und Karsten – hatte man ihn gefragt ob er mit dem nutzlosen Arm weiter gemeinsam wohnen, leben, existieren wollte? „Alles ist in seinem Kopf, alles liegt an ihm, nicht wahr.“ Frau Avanka, die bestellte Pflegekraft sprach schlecht deutsch aber sie verstand Irene und sie verstand Karsten.
Irene zog mit Demian nach Fuerteventura. Gemeinsam wollten sie ein großes Ding aufziehen, eine Werkstätte für Behinderte erbauen. Ralf, Robert und Karin kamen nur noch einmal im Monat vorbei. Karsten konnte halt nur noch bei Brettspielen mitmache. Bei Gott, das Leben besteht schließlich aus mehr als bloß Brettspielen. Kann man ´s jemandem verdenken?
Nein, er fragte nicht. Die Antwort war eh schon da. Alles in seinem Kopf, alles da drin. Dabei kratzte er sich verlegen mit dem rechten Arm an der Stirn.
Frau Avanka sagte nie zu ihm, es wäre alles in seinem Kopf. Sie schaute ihn manchmal mit einem merkwürdigen Blick an. Dann stellte sie ihm eine Tasse Kaffee auf den Nachttisch oder den Schreibtisch, wo immer er gerade lag oder saß. Und sie sorgte dafür, dass die Vase voll war. Jeden Tag, seit sie die Pflegestelle antrat, standen Blumen in der Vase. Hyazinthen, Narzissen, Forsythien wechselten sich ab mit Tulpen, Gerbera, Pfingstrosen,, Gladiolen, Lilien.
Wenn Chrysanthemen, Dahlien oder Freesien in der Vase standen, brummte es immer gefährlich im Zimmer. Hummeln und Bienen kamen durch das offene Fenster. Die Bienen flogen gleich zu den Blüten, die Hummeln machten immer erst Pause auf den Edelsteinen. Er mochte die Hummeln. Die Bienen hasste er. Die wollten immer bloß schnell Nektar sammeln und nix wie weg und außerdem empfand er sie als gefährlich. Die Hummeln hatten Zeit. Und wie sie aussahen, richtig knuffig. Er begann sich für sie zu interessieren, wollte mehr über sie erfahren und bat Frau Avanka nach Büchern über Hummeln zu suchen. Sie verstand ihn und erzählte dem Arzt von den Hummeln in seinem Kopf. Bald darauf schlief er und er schlief lange und wurde weder von Ralf, Robert und auch nicht von Karin geweckt. Die spielten Karten, irgendwo. Er konnte ja eh nicht mitspielen. Erst wegen des Armes und jetzt noch wegen der Hummeln. Wer mochte schon in einem Zimmer voller Hummeln sitzen?

Frau Avanka mochte sie nicht und sie hatte Angst um Karsten. Sie verfolgte das brummende, dicke Insekt als es sich auf Karstens Bettdecke setzte. Der Schlag mit der zusammengerollten Zeitschrift setzte dem Brummen ein Ende.
Karsten wachte davon auf.
 
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Kommentare  

Kann Evi nur beipflichten. Sehr ergreifend und wunderbar geschrieben...

Daniel Freedom (22.03.2019)

Ergreifend! Du hast einen wunderbaren Schreibstil und kannst dich hervorragend in Andere hineinfühlen. Eine sehr gelungene tragische Geschichte voller Mißverständnisse. Zum Schluss kann man nur sagen: Man hat ihm noch nicht einmal die Hummel gelassen, die wohl noch das Einzige war, an dem er sich erfreuen konnte.

Evi Apfel (22.03.2019)

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