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12 Seiten

Imhotep, der Junge aus Heliopolis - Kapitel 13

Romane/Serien · Spannendes
Kapitel 13 – Der geächtete Prinz


Während Anchesenamun friedlich schlummerte, starrte Tutanchamun weiterhin die Kabinendecke an. Er war nachdenklich. Zwar wurde sein Großvater erwähnt, aber nicht eine einzige Hieroglyphe wurde seinem Vater gewidmet, obwohl er einst eine komplette Stadt in nur wenigen Jahren hatte errichten lassen und dies doch ebenso eine hervorragende Leistung gewesen war, wie eine monumentale Pyramide zu erbauen. Aber insgeheim ahnte er, weshalb man Pharao Echnaton aus dem Gedächtnis der Menschheit zu verdrängen versuchte. Er seufzte. Ihm waren leider nur wenige Erinnerungen an seinen Vater geblieben, schließlich war er zu Echnatons Lebzeiten noch ein kleines Kind gewesen und hatte ihn überdies auch nur selten gesehen. Manchmal dachte er, dass sein Vater nur ein Hirngespinst ist und er niemals existiert hatte, weil er seit seinem Tod im Königspalast nie wieder erwähnt wurde. Sogar Eje wich stets geschickt aus, wenn Tutanchamun nach ihm fragte, genauso wie Bürsa. Tutanchamun war zwar bei der Trauerfeier vor dreizehn Jahren dabei gewesen und hatte zugesehen, wie der Sarkophag seines Vaters in die Gruft bei Achet-Aton abtransportiert wurde, jedoch hatte er damals keinen nennenswerten Schmerz verspürt. Sein Vater verschwand einfach und dies empfand er weder als gut noch als schlecht. Erst seitdem er zwölf Jahre alt gewesen war und den großen Amuntempel in Theben hatte vergrößern lassen, weil Eje ihm dazu geraten hatte, hatte er über seinen Vater tiefgründiger nachgedacht und ihn vermisst. Er hatte sich immer wieder dieselbe Frage gestellt: Warum hatte sein Vater es gewagt, alle Götter aus Ägypten zu verbannen? Er hätte es doch wissen müssen, dass diese Maßnahme letztendlich seinen Untergang bedeutete.

Vom Hörensagen hatte Tutanchamun erfahren, dass sein Vater damals sämtliche traditionelle Regeln missachtet und Ägypten in den Ruin getrieben hätte. Seine neue prunkvolle Stadt Achetaton, die er hatte errichten lassen und zur neuen Hauptstadt Ägyptens ernannte, hatte immense Kosten verschlungen, sodass die Schatzkammern des Reiches beinahe völlig ausgeschöpft waren. Zudem wurde Echnaton, dreizehn Jahre nach seinem plötzlichen Tod in recht jungen Alter von nur 39 Jahren, vom Volk weiterhin verpönt. Die Leibärzte ahnten damals, was mit dem Pharao geschehen war, als man Echnaton eines frühen Morgens auf dem Boden liegend im Thronsaal aufgefunden hatte. Um ihn herum lagen eine beachtliche Anzahl geleerter Weinamphoren und es war im Königshaus allgemein bekannt, dass der Pharao zudem viel zu häufig verschiedene Opiate konsumiert hatte. Die Ärzte hatten es ihm immer wieder prophezeit und den König damals gewarnt, er müsse seinen übermäßigen Weinkonsum unbedingt zügeln, aber Echnaton war ausgesprochen eigensinnig gewesen und hatte meistens nur Ejes Ratschlag oder dem seiner atemberaubend schönen Gemahlin befolgt. Oftmals verwarf er abgesprochene Entscheidungen und handelte letztendlich nach eigenem Ermessen, ohne dabei die Interessen des Komitees, geschweige, die Bedürfnisse der Tempelpriester zu berücksichtigen. Es hieß sogar, dass Pharao Echnaton ein wahrhaftiger Tyrann gewesen sei.
Die Tempelpriester hatten mit aller Macht, die ihnen zur Verfügung standen, versucht zu verhindern, dass man Echnaton in seiner Gruft nahe bei Achetaton beisetzte. Insbesondere waren die Amunpriester dermaßen erbost gewesen, dass sie gar zu verhindern versuchten, dass Pharao Echnaton überhaupt mumifiziert und bestattet werden würde. Echnaton brachte Schande über Ägypten und demütigte die Götter, indem er es in seiner Regierungszeit gewagt hatte, Aton als den einzigen Gott zu erheben. Echnaton behauptete damals, es gäbe nur einen einzigen wahren Gott und alle anderen Gottheiten wären Scharlatane. Aber Eje hatte sich über den Protest der Tempelpriester hinweg gesetzt und veranlasst, dass der König eine angemessene Bestattung, samt heiligen Ritualen und einer siebzigtägigen Einbalsamierung bekam, so wie es einem Pharao gebührte. Trotz alledem vermochte Tutanchamun nichts Negatives über seinen Vater zu erzählen, außer vielleicht, dass er damals zu wenig Zeit mit ihm verbracht hatte.
Tut-anch-Aton, wie sein ursprünglicher Geburtsname lautete, wuchs anfangs bei seiner leiblichen Mutter Kija, einer Nebenfrau des Echnaton behütet in seiner Geburtsstadt Achetaton auf, während sein Vater entweder durch andere Länder streifte oder mit der Königsbarke auf dem Nil fuhr, sich dort mit reicher Prominenz vergnügte und auf dem heiligen Sonnenschiff ausgiebige Orgien feierte. Aber wenn sein Vater sich seiner annahm, dann erlebte klein Tut wahre Abenteuer, wobei Echnaton und Nofretete immer darauf geachtet hatten, dass Prinzessin Anches-en-pa-Aton anwesend war, damit sich beide aneinander gewöhnen konnten, und falls es die Göttin Hathor erwünschte, dass die Halbgeschwister eines Tages füreinander gar leidenschaftliche Liebe empfinden würden.
Pharao Echnaton schätzte Ruhm und Reichtum über alles und genoss es, wenn die Menschen seinen Namen laut riefen und abertausende Hände nach ihm griffen. Regelmäßig ließ er im Land verkünden, dass er zu dem Volk sprechen würde, jedoch musste man dazu in die neue Hauptstadt Ägyptens Achetaton reisen, weil der Pharao nur dort in einen prunkvollen Streitwagen stieg, mit seiner königlichen Gemahlin und seinen beiden Thronfolgern durch die Straßen brauste, und der Herrscher sich nur dort von abertausenden bunter Tüchern winkend feiern ließ. Jedoch war Theben bereits seit der 11. Dynastie die Hauptstadt von Ägypten und der Mittelpunkt in der Bronzezeit gewesen, diese wurde aber von Pharao Echnaton schlichtweg entthront. Daran musste sich das ägyptische Volk erst einmal gewöhnen, um es irgendwann akzeptieren zu können. Selbst Menschen aus den fernen Ländern pilgerten nach Ägypten, nach Achetaton, um den Sonnenkönig, wie er ebenfalls häufig betitelt wurde, zu bewundern und ihn sprechen zu hören. Beinahe jeder Nomadenstamm betete die Sonne an und nun herrschte ein Pharao über das mächtigste Land auf Erden, der die Sonne ebenfalls wie einen wahren Gott anbetete, was dem Pharao Echnaton unglaubliche Sympathie einbrachte. Jedenfalls im Ausland. Ägypten war gespalten. Die einen liebten und die anderen hassten Echnaton, weil er dem Volk Amun nahm und auch alle anderen Götter verbannte. Die Tempelanlagen wurden entweiht und das Volk wurde dazu verpflichtet, ausschließlich dem Gott Aton zu opfern und nur ihn anzubeten.
Jubel schallte durch das Land für Pharao Echnaton, doch eben nur aus den Mündern der Reichen und Schönen Ägyptens und aus allen Mäulern der Nachbarländer, weil er großzügig war und die fremden Völker reichlich beschenkte, die dem Sonnengott ebenfalls huldigten. Das eigene mittelständige Volk und insbesondere die Armen hingegen, missachtete der König. Viele Bürger aus der Mittelschicht waren erbost und huldigten weiterhin heimlich Amun oder einer anderen Gottheit. Damals hatte sich Tutanchamun manchmal vor seinem Vater gar gefürchtet, weil der schlaksige, exzentrische Mann, der häufig mit ungewohnt farbenprächtigen Gewändern und seinem Nemes-Kopftuch bekleidet war, stets unheimlich drein schaute und oftmals teuflisch lachte. Dem Humor des Pharaos war manchmal schwer zu folgen, trotzdem lachten die Großen des Reiches in seiner Gegenwart herzhaft mit, sobald der bizarre König eine Bemerkung aussprach und er selbst über diese schmunzelte.
Pharao Echnaton starrte seinen Gesprächspartnern generell stechend in die Augen. Sein durchdringender Blick wirkte auf die Staatsmänner unheimlich und ließ so manchen Großen des Landes erschaudern, weil sie ständig das Gefühl übermannte, der Pharao durchschaue jede Schandtat, die sie ihm eventuell zuzufügen gedachten. Eje war der einzige Hofbeamter, der mit diesem sonderbaren König zurechtkam und sich traute, seine aufrichtige Meinung zu offenbaren. Im Grunde war der Pharao aber nur ein exzellenter Schauspieler und schlüpfte gerne in die Rolle des Tyrannen, weil ihn die Furcht seiner Untertanen belustigte und er seine Überlegenheit genoss. Aber insgeheim sehnte er sich nach Harmonie und war stets auf der Suche nach Menschen, die ihn zu verstehen vermochten. Eje schien einer dieser seltenen Menschen zu sein, weshalb der Pharao ihn zu seinem Vertrauten, ihn gar zu seinen Gottesvater ernannte.
Echnaton war nicht unbedingt ein schöner Mann, dafür aber ein ausgesprochener charismatischer Mann, dessen markante, kraftvolle Stimme zudem seine Persönlichkeit ausmachte. Er sprach sehr deutlich, generell laut und absolut dialektfrei, was für einen Oberägypter eigentlich untypisch war und ihm diese Eigenschaft deshalb einen gebildeten Eindruck verlieh. Anhand des Dialektes konnte man sehr gut unterscheiden, ob jemand aus Ober- oder Unterägypten stammte.

Pharao Echnatons Geburtsname lautete ursprünglich Amenophis IV. Er war der erstgeborene Sohn, weshalb ihm auch eigentlich die Krone Ägyptens zustand. Aber auch wenn sein Name dem seines Vaters nachfolgte, war er nicht als der Thronfolger vorgesehen. Er sollte eigentlich gar nicht der nächste Pharao werden; niemals sollte er das Nemes-Kopftuch sowie die Doppelkrone auf seinem Haupt tragen, hatte sein Vater Amenophis III einst entschieden. Dieses göttliche Mandat war seinem jüngeren Bruder Thotmoses vorbestimmt gewesen und Amenhotep, wie seine Freunde ihn damals nannten, sollte sich mit dem Titel des ewigen Prinzen zufrieden geben. Der Grund war, weil sich Pharao Amenhopis III und sein Sohn nie verstanden hatten. Dieser königliche Beschluss hatte Amenhotep jedoch nie gestört, weil er den Horusthron sowieso nie angestrebt hatte.
Der Prinz Amenhotep verschmähte gar die Doppelkrone und gönnte seinem jüngeren Bruder Thotmoses die zukünftige Herrschaft über das schwarze Land von Herzen. Es war letztendlich die gehörige Verantwortung gewesen, welche ein Thronfolger unweigerlich erwarten würde, die Amenhotep damals gescheut hatte. Zudem hasste er langweilige Konversationen, hauptsächlich mit den Tempelpriestern, die ihm obendrein bevorstehen würden, sollte er der König von Ägypten werden. Das Ansehen und die Macht eines Prinzen reichten ihm völlig aus, denn er bekam stets wonach er verlangte, sodass seine Bedürfnisse damit vollkommen gedeckt waren.
Amenhotep galt seit seiner Jugend als das schwarze Schaf in der Familie, weil er ständig rebellierte, oftmals am helllichten Tage im Königspalast betrunken die Priester anpöbelte und sich des Öfteren in den Tavernen mit Saufbolden prügelte. Amenhotep war zwar ein schmächtiger, schlaksiger Kerl gewesen, dafür war er aber äußerst flink und konnte geschickt mit seinen Fäusten umgehen. Er mischte sich damals gemeinsam mit seinen Bruder gerne als Edelleute gekleidet unter das Volk, wobei sie stets von den besten Kriegern begleitet wurden, die ebenfalls vornehmen angezogen waren. In ihrer Verkleidung wurden sie selten erkannt, während sie die Tavernen und Hurenhäuser unsicher machten. Die königlichen Geschwister protzten mit ihrem Reichtum, feierten ausgiebig und ließen es unter dem Volk so richtig krachen, davon aber insbesondre ihr Vater nichts mitbekommen durfte.
Der Pharao wollte von dem erstgeborenen Prinz nichts mehr wissen, seitdem dieser sich geweigert hatte, die Militärakademie in Peru-nefer zu besuchen. Amenhotep war eher ein Künstler, der ausgezeichnet singen und zeichnen konnte und sich vielmehr für das Handwerk eines Steinmetzes interessierte, anstatt das Schwert zu schwingen. Sein Wunsch war es, eines Tages ein berühmter Baumeister zu werden. Amenhotep war ein Träumer, der auch oftmals melancholisch wirkte und mit seinem unbändigen Jähzorn zu kämpfen hatte. Zudem wirkte er äußerst arrogant, obwohl er tatsächlich sehr feinfühlig war und sich viel zu viel zu Herzen nahm. Manchmal sehnte er sich sogar nach Einsamkeit, anderseits hatte er die Begabung und liebte es, ein großes Publikum stundenlang zu unterhalten, es zu belustigen oder auch zum Nachdenken anzuregen. Ein begnadeter Redner und Sänger war er allemal, immerhin hatten die Götter ihn mit einer kraftvollen Stimme erschaffen.
Sein jüngerer Bruder Thotmoses hingegen war ein Vollblutkrieger, ein geborener Kämpfer und begabter Feldherr zugleich, der stets frohlockend beiseite seines Vaters in die Schlacht gezogen war und nicht einmal seinen Mut verloren hatte, wenn der Feind mit Kriegsgebrüll und in einer Staubwolke umhüllt angestürmt kam. Dann wurde er sogar erst recht blutrünstig. Thotmoses hatte bereits mit seinen jungen zwanzig Jahren mindestens über vierzig Menschenleben auf dem Gewissen, worauf der Thronfolger auch äußerst stolz gewesen war und damit geprahlt hatte. Amenhotep konnte sich dagegen nur rühmen, dass er etlichen Trunkenbolden die Nasen gebrochen und sie um zahlreiche Zähne erleichtert hatte.
Die Prinzengeschwister waren so unterschiedlich wie Aton und Thot, wie Sonne und Mond, und doch liebten und brauchten sie einander. Thotmoses verteidigte seinen älteren Bruder bei jeder Gelegenheit, wenn das Königshaus wiedermal auf dem Kopf stand, weil Amenhotep sich abermals mit der Amunpriesterschaft angelegt und die Priester als korrupte Aasgeier bezeichnet hatte, die sogar den Kot eines Krokodils fressen würden, nur um ihre Heiligtümer zu horten. Die Art und Weise, wie er sich gegenüber den Amunpriestern verhielt, war zu jener Zeit eine große Schande, gar ein Sakrileg gewesen, und für solche Beleidigungen hätte man normalerweise selbst einen Großen des Landes gnadenlos hinrichten lassen. Aber Amenhotep war ein Prinz und demütigte die Priesterschaft bei jeder Gelegenheit – vorzugsweise in der Öffentlichkeit –, wenn sie ihm ungeschickt einen Grund dafür lieferten. Sein Bruder Thotmoses war stets amüsiert gewesen und hatte sich immer prustend die Hand vor seinem Mund gehalten, wenn sein älterer Bruder wiedermal austickte und zornig randalierte.
Der rebellische Prinz hasste die Amunbande, wie er die Tempelpriester oftmals titulierte, weil sie seiner Meinung nach nur im Königspalast herumlungerten und seinen alten Herrn so lange bequatschten, bis sie bekamen, wonach sie letztendlich verlangten. Obendrein ließen sich die Gottesdiener von der Küche des Königshauses jederzeit verköstigen – dies stand ihnen zu –, was ihm gewaltig widerstrebte, woraufhin Amenhotep den Zofen manches Mal hinter Säulen versteckt auflauerte, ihnen die Teller einfach wegnahm, die Mahlzeiten aus dem Fenster schleuderte und den verdutzten Gottesleuten daraufhin mitten ins Gesicht lachte.
Der gute Gott, Pharao Amenophis III, und sein rebellischer Sohn verstanden sich nur auf einem Niveau, nämlich dann, wenn sie mit militärischem Gefolge meilenweit hinaus in die Wüstenlandschaft marschierten und irgendwo ein Zeltlager aufschlugen. Amenhotep war, genauso wie sein Vater, ein begeisterter Entdecker und liebte die Expeditionen durch die Wüstenregionen oder in die fernen Länder. Nachts deuteten sie gemeinsam die Sterne und philosophierten über die Götter. Am Lagerfeuer war all der jahrelange Groll zwischen ihnen schließlich vergessen und es herrschte Harmonie zwischen Vater und Sohn, welche die beiden Dickköpfe besänftigte und ihre rasch aufbrausenden Gemüter wieder in Einklang brachte. Die Widdergestalt Amun, da waren sich Vater und der geächtete Prinz einig, nähme dem Volk nur seine Habseligkeiten, aber würde dafür die Priesterschaft reich machen. Reich und viel zu mächtig. Der wahre Gott, der das Leben erst ermöglichte, sei nur die Sonne: Aton. Amenhotep teilte seines Vaters Ansicht und schlug ihm vor, Aton radikal zum Reichsgott zu ernennen. Schließlich sei sein Vater der Pharao, und das Volk sowie die Tempelpriester müsste seine Entscheidung anstandslos hinnehmen. Doch Amenophis schüttelte seinen Kopf, obwohl er diesmal seines Sohnes Meinung teilte. Das Volk um seine Ersparnisse zu bringen wäre lange nicht so tragisch, wie ihren Glauben zu rauben. „Man darf dem Volk niemals ihre Götter nehmen, andernfalls droht ein Bürgerkrieg und vielleicht sogar der Untergang des Reichs, und somit der Untergang unserer Dynastie!“, ermahnte sein Vater ihn energisch. Während in solchen Momenten der Pharao gemeinsam mit Amenhotep in den Nachthimmel geschaut hatte, seufzte er. „Möge der Horus Thotmoses ein ebenso kluger König werden, wie ich es bin.“
Eines Tages, spät in der Nacht, als der Pharao längst in seinem Zelt eingeschlafen war, lag Amenhotep weit abseits des Feuerlagers einsam mit ausgebreiteten Armen im Wüstensand, starrte hinauf in die Unendlichkeit des klaren Sternenhimmels und murmelte Gebete, um den Wüstengott Seth zu provozieren und ihn herauszufordern. Als jedoch nichts geschah, schmunzelte Amenhotep und es stärkte seinen Glauben, dass Aton der einzige wahre Gott sei.

Die ungleichen Geschwister zog es immer wieder wie ein Magnet zusammen, obwohl Amenhotep wusste, dass sein Bruder der Liebling des Vaters war, ihm gar die Doppelkrone versprochen wurde. Dafür aber war Amenhotep der Liebling ihrer gemeinsamen Mutter Teje. Ihre Schwestern dagegen, waren nur existent und hatten gefälligst Söhne zu gebären; oder sich zumindest mit einem ranghohen Herrn zu vermählen, um eben gesunde Knaben auf die Welt zu bringen, denn beide Brüder wollten ihre leiblichen Schwestern nicht anrühren. Sie weigerten sich beide strikt dagegen, mit diesen dummen Nilgänsen, wie sie ihre Schwestern betitelten, nur ein einziges Mal das Schlafgemach zu teilen.
Von Rivalität war zwischen den Brüdern niemals etwas zu spüren, obwohl dies in den vergangenen Dynastien üblich gewesen war und so manch neidischer Prinz sogar tödliche Intrigen gegen seinen eigenen Blutsverwandten gesponnen hatte, um an die Doppelkrone zu gelangen. Die Geschwister hingegen hielten aufrichtig zusammen, zudem teilten sie verruchte Leidenschaften. Die Tavernen in Theben waren damals niemals vor ihnen sicher gewesen, denn dort veranstalten sie ausgiebige Sauforgien mit anschließender Zerstörung der Wirtshäuser, bevorzugt, wenn diese mit einem Widderkopf (Antlitz des Amun) beschildert waren. Amenhotep stichelte seinen Bruder stets zu einer Prügelei mit den Wirtsgästen und zum Randalieren an, wenn Thotmoses reichlich angetrunken war, weil er stark wie ein Bulle war und der Thronfolger die Kriegsgöttin Sachmet verherrlichte und ihm Amun ohnehin nicht viel bedeutete. Und wenn nirgendwo mehr etwas los war, pachteten die zwei hitzköpfigen Prinzen einfach ein Freudenhaus und vergnügten sich dort bis zum Morgengrauen mit Huren.
Huren hatten den Vorteil gegenüber einer kostenlosen Sklavin im Harem oder einer hochnäsigen Adligen, dass sie die Prinzen wie gewöhnliche Männer behandelten, ihnen meist intellektuell gewachsen waren und sogar scherzen und saufen konnten, wie es beiden gefielen. Außerdem belästigten die Huren die Brüder nicht oder drängten ständig um einen Heiratsantrag, wie es die Adelsfräuleins üblicherweise taten, nachdem sie mit ihnen eine Nacht verbracht hatten. Käufliche Frauen wurden einfach bezahlt, damit war es für die Prinzen erledigt, die Brüder waren zufrieden und konnten wieder unbeschwert nach Hause in den Königspalast gehen.
Glücksspiele mit den Reichen waren bei beiden Prinzen ebenso begehrt, wobei die Prinzenbrüder insgeheim zusammenhielten und ihre Prominenz zu ihrem Vorteil ausnutzten. Die Brüder betrogen gerne während eines Glückspiels, falls ihnen die Glücksgöttin einfach nicht beistehen wollte. Auf Betrug folgte zwar als Strafmaßnahme das Abschneiden mindestens eines Ohres, aber dieses Gesetz galt niemals für einen Prinzen und erst recht nicht für einen offiziell ernannten Thronfolger, der ohnehin Narrenfreiheit genoss. Auf festlichen Veranstaltungen begehrten die Geschwister die schönsten Frauen und in ihrer Freizeit preschten beide leidenschaftlich gerne mit dem Streitwagen um die Wette.
Thotmoses war zweifelsohne der schönere Mann von beiden Brüdern. Er entzückte die Frauen mit seinem erfrischenden Lächeln, mit seinen liebenswürdigen Augen und vor allem, mit seinem gestählten Körper, welchen er nur zu gerne zur Schau stellte. Dafür war der Prinz, der Thronanwärter, aber äußerst schüchtern und versuchte die Frauen mit Kriegsgeschichten zu beeindrucken, welche die reichen jungen Damen jedoch nicht immer überzeugten. Trotzdem himmelten sie ihn an, denn schließlich würde er einmal Pharao werden, ein sehr Attraktiver obendrein und welche Frau wäre nicht gerne Königin von Ägypten?
Der schmal gebaute, schlaksige Amenhotep dagegen war äußerst selbstbewusst, charmant und klug obendrein. Er schwang des Öfteren interessante Reden und wirkte sehr gebildet. Er war zudem ein talentierter Steinmetz und es imponierte den Frauen, wenn er, nur anhand einer Zeichnung, eine wundervolle Granitbüste ihres Antlitzes meißelte und diese den begehrten Damen am nächsten Tag überreichte. Zwar war es jeder adeligen Dame bewusst, dass Amenhotep niemals Pharao werden würde, aber einen Prinzen, und sei er noch so verrückt, würden sie auch nicht verschmähen. Amenhotep setzte eben andere Maßstäbe, die für Attraktivität sprachen und auf Frauen reizvoll wirkten. So war der eher unattraktivere Prinz gar ein erfolgreicherer Schürzenjäger, als sein gutaussehender Bruder Thotmoses. Erst als Amenhotep eine junge Adelige namens Nofretete kennenlernte, endeten seine regelmäßigen Rendezvous im Heuhaufen und Hurenhäuser, weil das junge Fräulein äußerst schwer zu erobern war und sie obendrein große Ansprüche stellte, dies dem Prinzen Amenhotep sehr beeindruckte.

Eines Tages lieferten sich die beiden Prinzen, wie so oft, mit dem Streitwagen ein Wettrennen mitten in der Wüste, bei dem zahlreiche Söhne sowie Töchter prominenter Aristokraten, bekannten Tempelpriester und überdies Nofretete anwesend waren. Solche Wettrennen wurden stets wie offizielle Festlichkeiten organisiert, wobei anschließend reichlich getrunken und bis in die späte Nacht gesungen und getanzt wurde. Selbstverständlich war das gewöhnliche Volk ausgeschlossen worden; nur wer Rang und Name hatte, durfte dieses königliche Pferderennen mit anschließender Feier hautnahe miterleben.
Im Jagdgalopp trieben die zwei Prinzen ihre Pferde unbarmherzig mit der Peitsche voran. Sie rasten mit ihren Streitwägen nebeneinander, wobei sie einen gewaltigen Staubschweif hinterherzogen. Der Fahrtwind fegte durch Amenhoteps Haar und der kahlrasierte Thotmoses blickte immer wieder verheißungsvoll zu seinem Bruder herüber. Amenhotep erwiderte seinen kämpferischen Blick, zwinkerte ihm zu und jubelte: „Lass uns ihnen zeigen, wie schnell wir sind. Der Verlierer gibt dem Sieger einen Krug Bier aus. Schneller Bruder, schneller geliebter Bruder!“
Eine gewaltige Staubwolke wirbelte hinter dem Pferdegespannen auf, während ihre Freunde sie applaudierend anfeuerten und lautstark ihre Namen riefen. Ein Obelisk, dieser der ehemalige Pharao, die Königin Hatschepsut, einst irgendwo in der Wüstenlandschaft am Grenzgebiet von Ägypten aufstellen ließ und darauf unzählige Textformeln in Hieroglyphenschrift verfasst wurden, diente den Prinzenbrüdern als Wendepunkt. Der fünfzehn Meter hohe Obelisk vermittelte warnend: „Kemet und die Götter grüßen dich, Fremdling. Das ägyptische Volk wird dich herzlich empfangen. Benimm dich jedoch ehrenhaft und achte die Nachtruhe, wenn dir deine Ohren und Nase lieb sind!“
Plötzlich brach bei voller Fahrt die Achse. Der Streitwagen überschlug sich mehrmals und zerschellte samt des Prinzen Thotmoses an dem steinernen Obelisken. Zersplitterte Trümmerteile des Streitwagens flogen durch die Luft. Nur ein einziges Rad hüpfte unversehrt weiter durch die flache Wüstenlandschaft, bis es auf der Stelle rotierte und liegen blieb. Selbst das Pferd war gestolpert und hatte sich überschlagen, stand jedoch wieder auf, schüttelte sich und rannte wiehernd davon.
Blut tränkte den Wüstensand. Amenhotep kniete sich nieder, hielt seinen leblosen, blutüberströmten Bruder in seinen Armen und schunkelte ihn wie ein Kleinkind. Dem taffen Lebemann rollten Tränen über die Wangen; sie tropften auf den geschundenen Leib seines Bruders und vermischten sich mit seinem Blut. Amenhotep war ganz alleine in der Wüste. Nur er, sein toter Bruder und der Wüstengott Seth, der soeben erfolgreich nach dem Leben des Thronerben getrachtet hatte, waren anwesend. Hilflos schrie er, so laut er konnte, seine Trauer laut hinaus und weinte bitterlich, bis seine Freunde sich sorgten und die Rabauken endlich vor der Abenddämmerung inmitten der Wüstenlandschaft auffanden.
Soeben hatte Amenhotep einen der wenigen Menschen verloren, die ihn genauso akzeptiert hatten wie seine Mutter es tat, so wie er nun mal eben war. Für Amenhotep ergab es keinen Sinn mehr, weiterhin in Theben zu verweilen. Er brach seine Steinmetzausbildung in der Schreiberschule ab, zog nach Unterägypten in die Stadt Memphis und begab sich dort in die Obhut der Ptha-Priesterschaft.
Amenhotep beanspruchte einfach die königliche Barke und wohnte dort ohne offizielle Erlaubnis des noch lebenden Pharaos Amenophis III. Der Wesir Eje war der einzige Mensch gewesen, der sich um den geächteten Prinzen, um den verstoßenen Sohn kümmerte und der veranlasste, dass all die Wünsche des Prinzen anstandslos erfüllt wurden. Eje war es, der den von Trauer gezeichneten Amenhotep gestützt und ihn ermutigt hatte, weil dieser nur noch im Schneidersitz auf dem Boden gekauert und vor sich hingestarrt hatte. Der Schmerz, den Amenhotep fühlte, weil er seinen geliebten Bruder verloren hatte, war für ihn so unerträglich gewesen, dass er sogar nahe daran war, die Liebe seines Lebens fortzuschicken. Aber Nofretete blieb hartnäckig in diesen schweren Stunden Tag und Nacht bei ihm, und ignorierte seine jähzornige Abneigung. Eje erlangte alsbald Amenhoteps Vertrauen, denn er befürwortete seine Leidenschaft für die Kunst. Amenhotep besann sich schließlich. Nun lag die Doppelkrone, die Verantwortung, die er niemals hatte tragen wollen, direkt vor seinen Füßen und es schien, als hätte er ohnehin nie eine Wahl gehabt.

Die Nachricht, dass der Thronfolger Thotmoses von Osiris frühzeitig nach Westen gerufen wurde, verbreitete sich im Land wie ein Lauffeuer. Ab sofort war Amenophis IV der Große Mann, dem man folgen sollte. Dies war insbesondere Eje bewusst gewesen und die Ptah-Priesterschaft hatte sich verheißungsvoll die Hände gerieben. Amenhotep, so glaubten die Ptahpriester, die tagtäglich die Abneigung des Prinzen gegenüber dem AmunRe-Kult erkannten, würde nun sicherlich Ptah, den Schutzgott der Handwerker, offiziell zum Reichsgott ernennen, denn dieser war ohnehin bereits der Lokalgott der Provinz von Memphis. Davon waren sie überzeugt. Ägypten würde demnach eine Wende erleben. Endlich würde der mächtige Amun nach hunderten Jahren gestürzt werden, glaubten die Pthaanhänger. Kemet erwartete einen Pharao, eine Zukunft, von der die Menschheit noch tausende Jahre später erzählen würde. Aber von nun an hegte Amenhotep nur noch einen Gedanken: Die falschen Götter zu eliminieren, um den wahren Gott zu erheben: Aton.
Als Amenophis IV zum Pharao gekrönt wurde, heiratete er zugleich Nofretete und verkündete dem Volk mit ausgebreiteten Armen seinen neuen Namen: Echnaton (Der Aton dient). Der Thronfolger Thotmoses war tot und Echnaton nun geboren. Eine Wende stand Ägypten zwar bevor, jedoch nicht so, wie das Volk es erwartet und erhofft hatte.
 
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