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12 Seiten

Die Rute

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Das darf doch nicht wahr sein. Dieser Tag zählte offenbar schon wieder nicht zu meinen Glückstagen.
„Verdammt!“, brüllte ich zornig und schlug auf einen der fünf laufenden Spielautomaten, die ich mit meinen letzten Groschen gefüttert hatte. „So ein verfluchter Mist aber auch!“
Das Sonnenbild verfehlte die Position in der Mitte. Was für ein erbärmliches Pech mich schon wieder heimsuchte. Das wäre der Jackpot von mindestens dreihundertfünfzig Euro gewesen. Das hätte zwar das Eis meines Schuldenbergs nicht unbedingt zum Schmelzen gebracht, dafür aber mich vom ständigen Palaver meiner Ehefrau verschont. Wenigstens heute Abend. Mit dem Gewinn hätte ich meinen Kindern ein paar Weihnachtsgeschenke kaufen können. Sicher, meiner Frau natürlich auch.
„Hey, du schlägst noch einmal auf einen der Spielautomaten und ich schwöre dir, du fliegst hier hochkantig raus und bekommst Hausverbot!“, ermahnte mich daraufhin der Schankwirt.
„Ist mir doch egal“, murmelte ich vor mich hin und trank meine Cola leer. Ich beabsichtigte ohnehin zu gehen, weil es absolut keinen Sinn machte, weiterzuspielen. Hat das verfluchte Pech einem einmal am Kragen gepackt, lässt es auch nicht so schnell wieder los. Ich weiß wovon ich spreche, schließlich bin ich ein erfahrener Spieler und weiß, wann Schluss ist. Ich öffnete mein Portmonee und schaute nochmal nach. Vielleicht hatte ich eine fünfzig Cent Münze übersehen? Einmal noch, ich versuche es nur noch ein einziges Mal, dann höre ich aber wirklich auf, hatte ich beschlossen. Aber es war vergebens. Mein Geldbeutel war so leer wie zuhause der Kühlschrank.
„Bevor du nur noch einen Cent in einen der Automaten steckst, bezahlst du gefälligst deinen Deckel, Freundchen!“, rief mir der Schankwirt zu.
Der Wirt machte nicht unbedingt einen erfreuten Eindruck auf mich, als ich ihm zu verstehen gab, die zehn Euro im Moment nicht einstecken zu haben. Daraufhin wies er mich hinaus und ich sollte mich nicht eher blicken lassen, bevor ich meine Zeche begleichen könnte.

Die Hände in meinen Hosentaschen gesteckt, den Mantelkragen hochgezogen wegen des starken Schneefalls, schlenderte ich durch das Nachtleben der Stadt. Es war eigentlich ein ganz gewöhnlicher Freitagabend, bis auf das es weihnachtete und die Straßen wegen all die vielen Lichtern heller, bunter und freundlicher wirkten, worüber ich mich aber keineswegs erfreute. Zuhause brauchte ich mich jetzt gar nicht blicken zu lassen, denn was sollte ich schon da? Etwa wieder die Vorwürfe meiner Ehefrau anhören, was für ein Versager ich doch bin, weil unser Bankkonto stets im Minus steht? Die Spielautomaten sind doch meine einzig wahre Chance, uns aus dieser misslichen Lage rauszuholen und meiner Familie eine glückliche Zukunft zu bieten. Immerhin muss unser Haus, unsere zwei Autos und dies und das irgendwie finanziert werden. Meine Kinder essen schon seit einigen Wochen nur Dosensuppen, weil mein Gehalt einfach nicht ausreicht. Meine geliebte Frau will es einfach nicht einsehen, dass ich nur in unser Glück investiere und unsere Ersparnisse nicht verzocke, so wie sie es nennt. Außerdem wirft sie mir ständig vor, dass ich neuerdings kaum zu Hause wäre und unsere Kinder sowie auch meine Pflichten vernachlässigen würde. Sie versteht es einfach nicht, dass ich nach Feierabend praktisch Überstunden schrubbe, damit wir bald im Wohlstand leben. Die Spielautomaten sind Schatztruhen, die nicht einmal lästig gefunden sondern nur geknackt werden müssen, weil die Automaten selbst überall in einem Imbiss zu finden sind. Herrgott, alles was ich dafür benötige, ist doch nur etwas Zeit. Mehr nicht.
Es schneite unentwegt. Jeder Schritt knirschte und die Stadt sah märchenhaft aus, wie von dicker Watte überdeckt. Ich sah Familienväter, die mit ihren Kindern fröhlich eine Schneeballschlacht machten. Wie gerne würde ich es mit meinen eigenen Kindern ebenso tun, dachte ich. Aber leider hatte ich momentan dafür keine Zeit, schließlich war ich unterwegs, um Geld zu verdienen.
Ich schlurfte betrübt in eine abgelegene Gasse hinein, die nicht von einer nervigen Weihnachtsbeleuchtung erhellt wurde. Plötzlich stand ich vor einer kleinen Kneipe, aus dessen Fenstern Licht leuchtete. Über dem Eingang der Schenke hing ein Schild, darauf „Katastrophe“ geschrieben stand.
Mir war kalt, der Schnee stürmte schräg herab und ich beschloss, in die Katastrophe hineinzugehen. Vielleicht würde mir der Schankwart einen Deckel gewähren, denn momentan war ich völlig pleite. Zudem könnte ich ein bisschen Kleingeld gebrauchen, um es in einen Spielautomaten zu investieren. Mit dem Gewinn könnte ich auch dann sogleich meinen Deckel bezahlen, war mein Gedanke. Ich öffnete die Tür. Ein samtroter Umhang schlug mir mit einem warmen Luftzug entgegen, als wollte dieser mich verdrängen. Hier war es ruhig, allein nur vier Gäste, die mit dem Schankwart würfelten, belebten die muffige Atmosphäre. Die Beleuchtung war diesig. Zigarettendunst schwebte wie ein Nebel in der Luft. Abseits in der Ecke stand auf einem Tisch ein kleiner Weihnachtsbaum, mit roten Kugeln und Lametta geschmückt. Ich hauchte in meine Hände und rieb sie. Hier drinnen war es angenehm warm und beabsichtigte, wenigstens eine halbe Stunde zu bleiben, um mich genügend aufzuwärmen. Insofern mir der Wirt auch Kredit gewähren würde. Ein mir sehr vertrauter tutender Klang, der mein Gemüt sofort wieder belebte, ertönte aus einen der Spielautomaten.
„Jetzt muss der Button gedrückt werden. Jetzt sofort!“, dachte ich mir und war nah dran zu fragen, ob ich den Jackpot holen dürfte. Doch der am Tresen sitzende Mann schaute nur gelangweilt auf diesen wild blinkenden Automaten und beobachtete ihn gelassen, während er an seinem Bierglas nippte. Es war mir unbegreiflich, er überließ es doch tatsächlich dem Schicksal.
„Männer, ich sage euch wenn das was wird, hol ich den ganzen Zaster aus dem Apparat raus und dann gehen die nächsten Runden auf mich. So wahr ich hier sitze!“, war lediglich sein Kommentar, welchen ich stets von allen Leuten hasste, die Kneipen besuchten um sich zu besaufen, mitunter mal fünf Euro in ihr Glück investierten und meinten, falls die Kasse klingeln sollte, es sogleich sinnlos in den Rachen zu schütten. Dabei verstehen sie das Prinzip nicht. Gar nichts verstehen sie. Es ist nämlich absolut töricht, während einer Glückssträhne einfach abrupt aufzuhören. Grad dann muss man nämlich dran bleiben und beharrlich weiterspielen!
„Tut mir Leid, Männer. Das war wohl nichts mit der Runde“, verkündete der Biertrinker ohne jeglichen Missmut und ließ wieder die Würfeln im Becher klackern. Der Mann lachte und würfelte mit seinen Kumpanen munter weiter. Sagte ich doch, sie verstehen rein gar nichts. Um eine leuchtende Schatztruhe zu knacken, bedarf es nicht nur den Segen von Fortuna, sondern hauptsächlich Geduld, Geschick und jede Menge Kleingeld.
„Hey du, Spieler. Komm rüber und setz dich zu mir. Lass uns spielen“, riss mich eine knurrige Stimme aus meinen Gedanken.
Ein älterer Herr mit einem schneeweißen Bart, bekleidet mit einer Jagdtracht und einem Tiroler Hut, der abseits in der düsteren Ecke neben dem kleinen Christbaum saß, lächelte und winkte mir freundlich zu. Misstrauisch blickte ich ihm entgegen, denn er mischte sehr geschickt ein paar Skat-Karten.
„Worauf wartest du, Spieler? Heute könnte dein Glückstag sein. Ich will dir etwas zeigen. Sag mir fünf Karten, und genau diese werde ich aufdecken. Ich wette mit dir um fünfzig Euro, dass ich es kann“, behauptete er, während er flink die Karten mischte.
Ich zögerte. Lächerlich, dachte ich, darauf falle ich doch nicht rein. Das ist bloß ein simpler Kartentrick, weiter nichts. Aber fünfzig Euro hörten sich verführerisch an und ich würde ihm ganz genau auf die Finger schauen. Aber bevor ich ihm überhaupt antwortete, legte er nach und nach fünf Karten auf den Tisch, wobei er mich mit gekniffenen Augen frech angriente.
Pik Zehn, Pik Bube, Pik Dame, Pik König und Pik Ass, hatte er aufgelegt. Grundgütiger, eine große Straße und zudem ein Royal Flush in Pik. Ich war überrascht, ließ es mir aber nicht anmerken, denn genau diese Kombination hatte mir gedanklich vorgeschwebt, obwohl ich kein Wort darüber verschwendet hatte. Konnte dieser alte Mann etwa meine Gedanken lesen? Gewiss nicht, denn es war nur ein Kartentrick. Aber es war ein genialer Kartentrick, der mich beeindruckte.
„Was bevorzugst du, Spieler? Die Karten, die Würfel, die Wetten oder bist du etwa der einsame Spieler, der sich nur mit diesen tutenden, faszinierend leuchtenden Apparaten abgibt? Sag, wer bist du?“
Ich wollte keine Ahnung haben, was er meinte und dennoch wusste ich ganz genau, wovon er sprach und blickte ihn einen Augenblick verwundert an.
„Ich bevorzuge die Karten. Wir könnten Poker spielen, mein Herr.“
Der Alte mit dem Tiroler Hut lächelte und lud mich zum Hinsetzen ein, indem er wortlos beide Hände über die Tischpatte ausbreitete. Doch es gab ein Problem. Ich hatte keinen einzigen Groschen einstecken und somit nichts, womit ich überhaupt einsteigen konnte. Er schaute mich an, griff in seine Trachtentasche und legte zwei ansehnlich gebündelte Geldscheine auf den Tisch und tätschelte darauf. Das waren zwei regelrechte Päckchen!
„Ich kann dir Kredit geben. Das hier sind jeweils fünfundzwanzigtausend Euro. Wir spielen jetzt um sage und schreibe, fünfzigtausend Euro. Was sagst du dazu, Spieler?“
Er wirkte etwas vorwitzig auf mich, aber trotzdem vertraut wie ein Großvater. Seine Augen glänzten, während er mich schelmisch mit seinem weißbärtigen Gesicht anlächelte. Ich war sprachlos und hielt dies zuerst für einen Scherz. Der Alte wollte mir tatsächlich einen Kredit von fünfundzwanzigtausend Euro geben? Einfach so?
„Was ist nun, junger Freund, weshalb zögerst du? Was hast du denn schon großartig zu verlieren? Ich borge dir fünfundzwanzigtausend Euro. Falls du gewinnen solltest, verlange ich bloß ein paar Zinsen von dir“, grinste er.
Ja, was hatte ich schon zu verlieren, dachte ich. Unsere Schulden, die Hypothek des Hauses, die Raten unsere Autos, Weihnachtsgeschenke die gekauft werden mussten, und noch vieles mehr. All das konnte ich jetzt erspielen. Endlich bekam ich die lang ersehnte Chance einen sehr großen Gewinn, einen wirklichen Jackpot einzuheimsen. In diesem Augenblick wurde vermutlich mehr Adrenalin in meiner Blutbahn ausgeschüttet, als in einer Meute Kindergartenkinder, die zappelnd vor ihrem Gabentisch standen, sie aber allererst ein lästiges Gedicht aufsagen mussten, bevor die Bescherung endlich losging. Ich zog rasch meinen Mantel aus und setzte mich zu ihm hin, genau gegenüber. Wir entschieden uns für Texas Hold`em, ein gewöhnliches Pokerspiel.

Es war fantastisch, denn ich gewann eine Partie nach der anderen. Zum allerersten Mal in meinem Leben erlebte ich eine scheinbar unbezwingbare Glückssträhne. Die Fünfhunderter wanderten scharenweise über den Tisch, und ich durfte letztendlich diesen Geldsegen mit beiden Händen zu mir rüber ziehen, weil ich ständig gewann. Ich war völlig trunken und konnte es kaum abwarten, bis der Herr mit dem Tiroler Hut neue Karten austeilte.
Trotz dass der alte Mann ständig verlor, blieb er nett und höflich, freute sich sogar für mich und war obendrein spendabel genug, für die Getränke zu sorgen. Nach jeder gewonnener Partie klopfte er dreimal kräftig auf den Tisch, lobte mein glückliches Händchen und meinte, ich könne jederzeit aussteigen und den Gewinn behalten, darüber wäre er keineswegs böse. Diesen Gefallen tat ich ihm aber weiß Gott nicht. Bin ich denn etwa ein Narr? Schon bald war ich im Besitz von fünfundvierzigtausend Euro und nun setzte er einen Big-Blind, seine letzten fünftausend Euro. Zuerst zögerte ich doch dann ging ich mit, obwohl ich zwar niedrige Karten hatte, dafür hatte ich aber eine Chance auf einen Flush, dieser letztendlich sogar auf dem Tisch lag. Ich jubelte meine Freude laut heraus, denn wer würde dies nicht tun, wenn man fünfzigtausend Euro gewinnen würde? Aber plötzlich griff er nach all dem Geld und zog diesen beachtlichen Papierberg zu sich rüber.
„Du hattest ein glückliches Händchen, Spieler. War eine Freude gewesen, mit dir zu pokern.“
„Hey, was soll das? Gib mir sofort mein Geld zurück. Ich habe gewonnen. Mir steht mindestens die Hälfte zu!“
„Dir steht rein gar nichts zu. Worüber beschwerst du dich überhaupt? Es ist doch mein Geld. Ich habe es dir lediglich geborgt und nun will ich es wieder zurück. Plus Zinsen, so lautete der Deal und du warst einverstanden gewesen. Mein Zinssatz beträgt übrigens hundert Prozent, also genau fünfundzwanzigtausend Euro“, schmunzelte er. „Glaubst du etwa, ich sei ein Idiot oder der Weihnachtsmann, der dir etwas schenkt? Was wäre gewesen, wenn ich anstelle gewonnen hätte? Was hätte ich dann von dir bekommen? Ich sag`s dir … Nada, nur ein leeres Portmonee, richtig?“
„Sie haben mich reingelegt, mein Herr!“, schimpfte ich wütend. „Sie hatten nicht erwähnt, dass Sie Wucherzinsen verlangen!“
„Du hättest vorher Fragen sollen“, lachte der Alte mit dem Tiroler Hut frech. „Aber weil bald Weihnachten ist, will ich dir eine weitere Chance gewähren, mein junger Freund. Jedoch wenn du mit mir spielen willst, verlange ich ab sofort auch eine vergleichbare Sicherheit von dir!“
Ich fühlte mich aus einem wundervollen Traum entrissen, denn ich war mir ganz sicher, dass meine Glückssträhne sich fortsetzen würde. Gewiss sogar. Ich akzeptiert es, dass wir erstmal quitt waren. Meine Glückssträhne würde mir weiterhin beistehen, daran glaubte ich felsenfest.
„Aber was soll ich denn einsetzen? Sie wissen doch, dass ich kein Geld habe.“
„Mein junger Freund, gerne spiele ich mit dir weiter doch diesmal gibt es keinen Kredit von mir. Gib mir einfach etwas Gleichwertiges und ich werde schauen, ob ich deinen Einsatz akzeptiere. Ich bevorzuge selbstverständlich Gegenstände mit hohem Wert, aber ich werde auch persönliche Dinge akzeptieren, die dir sehr am Herzen liegen. Nun lass uns spielen, Spieler“, lächelte der Herr mit dem weißen Bart.
Also zog ich meine Uhr vom Handgelenk, die ich von meinem kürzlich verstorbenen Großvater persönlich am Sterbebett vermacht bekam. Sie hatte zwar keinen allzu hohen Verkaufswert, danach hatte ich mich bereits gewissenhaft erkundigt, aber dafür hing ich sehr an diesem Erinnerungsstück. Diese Uhr gehörte einst meinem Urgroßvater und sollte eigentlich von Generation zu Generation weiter vererbt werden. So jedenfalls lautete unser familieninternes Stammbaumgesetz. Diese Armbanduhr stand also rechtens meinem Sohn, später einmal seinem Urenkel zu und gehörte mir quasi gar nicht, wurde mir augenblicklich bewusst, als ich sie auf seinen Fünfhunderter legte. Ich lächelte ihn verlegen an und hoffte, dass er diese Uhr für wertvoll hielt. An seinen hochgezogenen Augenbrauen erkannte ich, dass ihm dieser Einsatz zu niedrig erschien. Mein Ehering wanderte daraufhin in die Mitte des Tisches und nun willigte er mit einem kessen Grinsen nickend ein. Sollte ich also verlieren, wovon ich momentan aufgrund meiner unschlagbaren Glückssträhne nicht ausging, würde ich höchstwahrscheinlich mächtigen Ärger mit meiner lieben Ehefrau bekommen. Aber das war ich ja sowieso gewohnt und wer gewinnen will, muss eben auch einiges riskieren, war immer meine Devise.

Eine neue Pokerrunde begann. Hartnäckig blickten wir uns in die Augen. Selbst die würfelnden Herrschaften schauten uns schon bereits seit einer geschlagenen Stunde gespannt zu und waren über die ungewöhnlich hohen Einsätze sichtlich erstaunt. Der alte Mann legte lässig ein Bündel Hunderter nach und nach auf die Tischmitte und ich setzte alles, was ich bei mir trug. Nachdem er mich selbst meiner Halskette, die meine Frau mir einst zum Hochzeitstag schenkte entledigt hatte, und sogar meinen Personalausweis gewann, einigten wir uns auf Schuldscheine, die ich mittels der rumliegenden Bierdeckel dafür benutzte. Darauf schrieb ich meine Wertsachen auf und wenn er nickte, legte ich den Bierdeckel auf die Geldscheine. Meine Glückssträhne legte scheinbar eine kleine Pause ein, denn mittlerweile verlor ich meinen Bausparvertrag, meine Kranken- und Rentenversicherung, meine Lebensversicherung sowie auch meinen Arbeitsvertrag. Er war dann sogar damit einverstanden, dass ich meinen Hund versetzte doch als ich es listig mit dem Kanarienvogel, Hamster und dem Goldfisch versuchte, lehnte er energisch ab und wies mich zurecht, dass der Wert des Einsatzes sich nicht mindern dürfte.
Mein heißgeliebtes Anglerset plus meine wertvolle Beatles Sammlung waren mir ein Pärchen Asse wert gewesen, schließlich setzte er fünftausend Euro. Als er noch einmal erhöhte, versetzte ich meinen Haustürschlüssel, die Eisenbahnanlage meines Sohnes, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, die Schaukel meiner kleinen Tochter, die sie so liebte, die Bibel meiner Mutter und das Fahrrad meines besten Freundes, das ich ihm einst geschenkt hatte. An seinen Augen erkannte ich nämlich, dass er sehr wahrscheinlich bluffte, also erhöhte ich den Einsatz, indem ich ihm unser Haus und Heim überschrieb … Und verlor, weil, er hatte leider doch nicht geblufft. Jetzt konnte ich nur noch meine Frau und meine Kinder versetzen, änderte meine Strategie und beschloss, dem alles oder nichts Prinzip zu folgen. Wer hätte das nicht getan, wenn das Blatt ein Full House mit drei Königen und zwei Asse zeigte? Jetzt schaute er mir tief in die Augen, erhöhte den Einsatz und blätterte ebenfalls seine letzten Geldscheine auf den Tisch. Fünfzigtausend Euro lagen nun im Jackpot! Mir war klar, wenn ich jetzt nicht mithalte und aussteige, hätte ich alles verloren. Ich hatte nur noch ein einziges Dokument in meinem Besitz und hoffte, er würde dieses akzeptieren. Meine Geburtsurkunde. Meine Existenz legte ich fein säuberlich auf einen angehäuften Berg von Geldscheinen, diversen Schnickschnack und etliche beschriftete Bierdeckel. Er kniff seine Augen zu und nickte mit einem breiten Grinsen. Mein Herz pochte wild und drohte vor Euphorie zu explodieren, als ich meine Karten auf den Tisch offenbarte und mit der Siegerfaust drauf schlug.
„Full House, Leute! Ein überaus hohes Full House sogar, mit drei Könige und zwei Assen. Jawohl, ich hab’s geschafft. Ich bin reich! Juchuuuuuh!“
Als ich gerade mit einem Freudentanz jubelnd durch die Kneipe marschierte, deckte er jedoch seine zwei Karten auf und musste sogleich verbittert feststellen, dass er im Besitz zweier Asse war. Der alte Herr mit dem Tiroler Hut konnte also vier Asse, ein Vierling vorweisen und hatte somit haushoch gewonnen. Jetzt war ich verloren und alles, was ich besaß, war weg. Einschließlich meiner Existenz sowie Hund und Hamster gehörten mir nicht mehr.

Die Sonne schien mittlerweile grell am strahlend blauen Himmel und die Fußstapfen knirschten im Schnee, als ich gewohnt wie ein Verlierer durch den belebten Weihnachtsmarkt nach Hause schlenderte. „Was für ein Blödsinn“, fuhr es mir durch die schläfrigen Gedanken, „der Alte hat mich lediglich um ein paar Gegenstände und bekritzelten Bierdeckel gebracht, mehr nicht“.
Die Müdigkeit übermannte mich und weil ich zudem nicht einmal einen Haustürschlüssel einstecken hatte, klingelte ich an meiner Haustür. Mein Sohn und meine Tochter öffneten. Misstrauisch schauten sie mich an und als ich gerade dabei war hineinzugehen, riefen beide laut nach ihre Mutter. Verwundert schaute mich meine Ehefrau an.
„Wer-wer sind Sie? Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte sie überrascht. Sogar mein eigener Hund bellte mich an, als ob ich ein Fremder wäre.
Meine eigene Familie erkannte mich nicht mehr und als ich verzweifelt versuchte ihnen zu erklären, dass ich der Vater ihrer Kinder und auch ihr Ehemann sei, drohte meine Ehefrau doch tatsächlich mit der Polizei. Ich war verwirrt, völlig übermüdet und brauchte unbedingt etwas Geld für eine Unterkunft und unverzüglich eine Mütze voll Schlaf. Wenn ich wieder fit und bei Sinnen wäre, würde sich bestimmt alles aufklären, dachte ich mir, und ging in das Bankinstitut um etwas Geld abzuheben. Eine Bankkarte hatte ich zwar nicht mehr aber schließlich war ich dort ein bekanntes Gesicht. Doch es war vergebens, denn auch dort erkannte man mich nicht. Selbst als ich meine Kontonummer angab behaupteten die Bankangestellten, dass die Kontonummer nicht mit meinem angegebenen Name übereinstimmen würde. Also verließ ich genervt das Bankinstitut und versuchte bei meinem besten Freund zu nächtigen, zumal der Hunger mich plagte. Doch auch mein Kumpel wies mich zurück und behauptete, mich nie zuvor gesehen zu haben. Sogar meine eigenen Eltern erinnerten sich nicht mehr an mich und schickten mich wieder hinaus in die Kälte. Aber sie waren trotz alledem so gnädig und schenkten mir ein paar Plätzchen mit den Worten: „Frohe Weihnachten.“

Völlig erschöpft, mit knurrendem Magen, stampfte ich einsam weiter durch die verschneite Stadt umher. Es wurde wieder dunkel und die Weihnachtsbeleuchtung spendete abermals ein freundliches Licht. Schon bald erreichte ich wieder die kleine Kneipe „Katastrophe“. Der alte Mann, der mit dem weißen Bart, bekleidet mit einer Jagdtracht und Tiroler Hut, saß genau am selben Tisch bei diesen kleinen Christbaum, und mischte wieder seine Skat-Karten. Demütig trat ich vor ihm.
„Hallo Spieler, soll ich dir ein verblüffenden Kartentrick zeigen?“
„Alter Herr, ich bitte dich, gib mir meine Sachen zurück. Wenigstens mein Haus, damit ich einen warmen Unterschupf habe. Ich bin sehr müde und hungrig obendrein.“
„Ich soll dir mein Haus schenken?“, fragte er ungläubig. „Sehe ich etwa wie der barmherzige Weihnachtsmann aus, der einen großen Sack mit sich herumträgt und Geschenke verteilt? Außerdem, was nützt dir ein Haus, wenn meine Frau dich dort nicht hineinlässt? Und selbst wenn meine Frau so freundlich wäre, dich eventuell aufzunehmen, würden meine Kinder sie dazu überreden, keine fremden Leute hineinzulassen. Letztendlich würde es mein Hund niemals dulden, dass fremde Leute mein Haus betreten.“
„Na gut“, sagte ich, „dann bitte ich dich, mir wenigstens meine Bankkarte wiederzugeben, damit ich mir wenigstens etwas zu essen kaufen kann.“
„Das könnte ich zweifelsohne tun, doch sag mir, Spieler, was nützt dir eine Bankkarte wenn du bei keinem Bankinstitut registriert bist? Selbst wenn du ein Bankkonto besitzen würdest, wäre es nicht gedeckt. Mein Arbeitgeber überweist dir schließlich kein Geld mehr, weil du keinen Job hast. Begreife endlich, du existierst nicht mehr, sondern du bist jetzt mein Eigentum. Ich sah aber keinen Sinn darin, dich auf irgendeinem Amt anzumelden, denn die Hundesteuer meines Hundes ist bereits teuer genug und mein Hamster frisst mir beinahe die Haare vom Kopf“, lächelte er freudenstrahlend.
Ich war sprachlos.
„Doch weil Weihnachten vor der Tür steht, gebe ich dir die Chance, einen beliebigen Gegenstand, und sei es dein Haus oder deine Frau oder Kinder zurückzugewinnen. Ich gebe dir diesmal ausnahmsweise sogar einen zinsfreien Kredit. Was sagst du dazu, Spieler? Um welchen Gegenstand oder um welche Person möchtest du gerne spielen?“, fragte er grinsend.
Der alte Mann mit dem Tiroler Hut zog wieder ein beachtliches Geldbündel aus seiner grünen Trachtentasche und legte es in die Mitte des Tisches. Ich schaute ihn nur mit müden Augen an und schüttelte belanglos mit dem Kopf.
„Nein, mein Herr. Das alles macht für mich keinen Sinn. Ich begreife nun, dass ich eine Kette verloren habe und alles, was du mir anbietest, ist lediglich ein Glied davon. Ich wünsche mir vom Herzen alles wieder zurück. Meine Frau, meine Kinder … Hund, Hamster, Kanarienvogel … Einfach mein geliebtes Zuhause und meinen Arbeitsplatz, sowie auch meine Eltern und meine Freunde möchte ich gerne wiederhaben. Wenn das geschieht, werde ich nie wieder spielen. Nie mehr wieder. Dafür bürge ich mit meinem Leben!“
Meinen Eid, den ich ablegte, schien dem weißbärtigen Alten nicht sonderlich zu beeindrucken. Er glotzte mich nur wortlos mit funkelnden Augen an und grinste dabei. Ich erwiderte seinen Blick, bis eine Träne über meine Wange rollte. Trotzdem zeigte er kein Erbarmen.
Ich wunderte über mich selbst. Normalerweis tobte und schimpfte ich, wenn ich verlor. Ich neigte dazu, was mir in die Hände fiel, zu zerstören, aber nun war ich nur niedergeschlagen, erschöpft und unendlich traurig. Und sein breites Lächeln sprach zu mir und sagte: Lass es dir eine Lehre sein, Spieler!
Mit gesenktem Haupt verließ ich am späten Abend die Kneipe Katastrophe, wanderte ziellos durch die verschneiten Gassen und stand dann plötzlich mitten auf dem Weihnachtsmarkt. Kraftlos blickte ich auf einen riesengroßen Christbaum. Der Anblick dieser unzähligen Lichter und die bunten Kugeln vermischten sich vor meinen Augen zu einem nebligen Schleier, bevor ich ohnmächtig zusammenbrach. Die Übernächtigung, Verzweiflung und die Sorgen, all das hatte mich völlig erschöpft und kraftlos gemacht.
„Papa, Papa, wach endlich auf. Wir haben dich schon überall gesucht. Endlich haben wir dich gefunden!“
Eine nasse Hundezunge schlabberte über mein Gesicht und schlaftrunken erkannte ich, wie meine Frau mit Tränen in den Augen vor mir stand. Meine zwei Kinder stürzten sich auf mich und umklammerten meine Schulter. Leicht taumelnd erhob ich mich. Meine Frau war kaum wiederzuerkennen. Anstatt wie sonst gewohnt, mir eine Standpauke zu halten, weinte sie Freudentränen heraus. Sie umarmte mich sogar und beichtete mir, dass sie sich tatsächlich um mich gesorgt hatte und sich fürchtete, ich sei nun endgültig in den abgrundtiefen Spielsumpf versunken. Ich atmete erleichtert auf und schloss meine Familie überglücklich in die Arme. Der Spuk hatte offensichtlich ein Ende. Ich war mir sicher, währendem ich unter dem großen Weihnachtsbaum schlief, dass ich nur einen schrecklichen Traum hatte und flüsterte meiner Frau ins Ohr: „Ich verspreche dir hiermit hochheilig, dass ich nie wieder eine Münze in einen Spielautomaten stecken werde.“
Die Bratwurst mit Pommes waren für mich ein Genuss, genauso wie der Geruch von gebrannten Mandeln und Zuckerwatte. Als ich mich umsah, erkannte ich nach langer Zeit wieder all die Schönheiten des Lebens und ausgerechnet die bunte Weihnachtsbeleuchtung, die ich vorher so verpönt hatte, erhellte nun meine verdunkelte Spielerseele. Aber das alles wäre nichts wert, dessen war mir nun bewusst, wenn ich nicht gemeinsam mit meiner Familie über diesen Weihnachtsmarkt schlendern würde. Ich hatte im Laufe der Zeit einfach vergessen, wie wundervoll es ist, eine Familie zu haben und mich zu freuen.
Plötzlich standen wir vor einer Menschenmenge, die ein hell beleuchtendes Podium umzingelten. Neugierig regte ich meinen Hals und erhaschte kurze Blicke auf den Weihnachtsmann, der auf einem Thron saß, auf dessen Schoß zwei Kinder hockten. Meine Tochter und Sohn quengelten, weil auch sie den Weihnachtsmann sehen wollten. Sie nahmen mich an ihren Händen und wir eilten zum Podium. Als wir direkt vor ihm standen stutzte ich, denn der Weihnachtsmann sah dem alten Herrn aus der Kneipe Katastrophe verblüffend ähnlich. Seine Augen, der weiße Bart, ja, sein Gesicht, welches schelmisch lächelte. Jetzt war ich mir absolut sicher. Der Alte, der mit dem Tiroler Hut und der Jagdtracht. Er ist es.
„Sie … Sie sind also der Weihnachtsmann?“, fuhr es erstaunt aus mir heraus.
Der Weihnachtsmann schaute mich warmherzig an und antwortete lächelnd: „So ist es, mein junger Freund. Nicht nur unartige Kinder verdienen eine Rute, sondern oftmals auch die Erwachsenen.“
 
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