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4 Seiten

Ein Tag

Trauriges · Kurzgeschichten
Bereits vor dem Klingeln des Weckers war sie erwacht. Sie hatte den Dämmerzustand zwischen Schlummer und klarem Bewusstsein ausgespart. Stattdessen hatte sie einfach die Augen geöffnet und sich im Bett aufgerichtet. Es war noch früh am Morgen, das fahle Zwielicht der Morgendämmerung konnte die nächtlichen Schatten in ihrem kleinen Zimmer nicht vertreiben. Ihr Blick tastete sich an den grauen Umrissen der Einrichtung entlang. Er wanderte über die dunkle Masse des Schrankes, erahnte mehr den Standort des Schreibtisches, wie des Bücherregals, senkte sich zum Boden und glitt zu Tür. Auf dem weißlichen Rechteck, das ihr gegenüber schwach im Halbdunkel leuchtete, verharrte sie. Ein merkwürdiges Hochgefühl hatte sie erfasst, sie spürte ihr Herz heftig schlagen, Wärme stieg in ihr hoch. Unverwandt starrte sie auf die Tür – und lächelte. „Ja...heute ist der Tag!“, dachte sie.
Die Hände unter der Decke auf den Bauch gelegt, wartete sie. Ihr Ohren vernahmen nichts als das geschwinde Pochen ihres Herzens. Als das Licht des neuen Tages langsam den Gegenständen des Raumes Konturen verlieh, die hineinfließende Helligkeit den Schein der weißlackierten Tür verblassen ließ, seufzte sie. Ihr rechter Arm kroch unter der Decke hervor, sie langte nach dem Wecker und drückte den Knopf, um seinem misstönenden Ruf zuvorzukommen. Sie schlug die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett, erschauerte, als ihre nackten Füße das abgewetzte Parkett berührten und erhob sich.
Im Badezimmer schlüpfte sie aus ihrem Nachthemd, stieg aus ihrer Unterhose und warf beides achtlos auf den Wäschekorb neben der Waschmaschine. Sie schob den Duschvorhang zurück und stieg in die Wanne.
Sie nahm die Brause, drehte den Heißwasserhahn auf, hielt ihren Unterarm unter den Strahl und wartete bis ihr das Wasser genügend heiß erschien. Dann duschte sie lange und ausgiebig.
Sie schob den Vorhang zurück, griff nach dem großen Handtuch und rubbelte ihren vom heißen Wasser geröteten Körper trocken.
Sie entsieg der Wanne, hüllte sich in den alten Bademantel ihrer Mutter, verließ das Bad und ging wieder in ihr Zimmer, um sich anzukleiden.
In ihrer Unterwäsche stand sie versonnen, den rechten Zeigefinger an die Unterlippe gelegt, vor dem geöffneten Kleiderschrank. Schließlich entschied sie sich für ihren knöchellangen schwarzen Rock, ihre weiße Satinbluse und das schwarze Fleecejäckchen. Denn heute war der Tag und es sollte etwas besonderes sein!

Vollständig angekleidet stand sie vor dem Badezimmerspiegel. Ihr Blick erwiderte den der großen grauen Augen ihres Spiegelbildes. „Was hältst Du von ein wenig Make - up – so zur Feier des Tages?“ Die junge Frau im Spiegel schüttelte lachend den Kopf. Sie nickte sich zu und lachte zurück: „Hast Recht! Nicht gleich übertreiben!“ Sie zwinkerten sich zu, dann verließ sie das Bad, nahm ihre Jacke vom Haken, schulterte die Tasche und verließ die Wohnung.

In der U – Bahn sah sie kaum in das aufgeschlagene Buch auf ihrem Schoß. Noch immer war in ihr jenes seltsame Hochgefühl, das sie seit dem Erwachen nicht verlassen hatte und sie mit freudiger Erregung erfüllte. Sie sah aus dem Fenster, ohne dass ihre Augen wirklich etwas wahrgenommen hätten. Für Sie selbst überraschend verspürte sie auf einmal den Drang zu lachen. Rasch nahm sie die Hand vor den Mund, um nicht aufzufallen. Musternd schweifte ihr Blick über die Mitfahrenden. Ein junger Mann mit langen Haaren und einer Nickelbrille zwinkerte ihr frech zu. Ein blassrosa Schimmer huschte über ihre Wangen, aber sie lächelte leise und kurz zurück. Dann sah sie rasch weg und tat so, als vertiefte sie sich in ihr Buch.

Der Vormittag in der Schule verging schneller, als sie erwartet hatte. In der letzten Stunde schaffte sie es sogar, sich zu melden und mit ungewohnt fester Stimme und unter nur leichtem Erröten einen längeren Vortrag zu halten. Ihre nette Geschichtsreferendarin nickte ihr mit freundlichem Lächeln zu und lobte sie. Sie bemerkte das übliche Augenrollen und Getuschel ihrer Mitschüler, aber es ließ nicht wie sonst ihr Gesicht vor Scham rot erglühen, noch krampfte sich etwas in ihrer Brust schmerzhaft zusammen.

Auf dem Nachhauseweg stieg sie zwei Stationen früher aus. Sie hatte beschlossen, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Obwohl der Weg weit war, genoss sie jeden Schritt und war beinahe enttäuscht als sie vor der Haustür stand.
Sie wollte noch nicht nach oben gehen. Daher rollte sie sich eine Zigarette, entzündete sie, lehnte sich an den Müllkübel, der auf dem Gehweg stand und rauchte mit langen Zügen. Sie inhalierte den scharfen Rauch mit geschlossenen Augen und spürte die Wirkung des Nikotins auf ihren Kreislauf. Als nur noch ein kleiner Rest ihrer selbstgedrehten, filterlosen Zigarette übrig war, schleuderte sie diese auf die Strasse.
Sie griff in die Tasche ihrer Jacke, holte Feuerzeug und Tabak hervor und versenkte beides in den Müllkübel. Dann schloss sie die Haustür auf.

Aus dem Zimmer ihrer Schwester drangen gedämpfte Musikklänge, als sie die Wohnung betrat. Sie ging in die Küche, las die Nachricht ihrer Mutter auf dem Küchentisch.
Sie sah kurz in den Topf, der auf dem Herd stand.
Sie nahm sich die letzte Rotweinflasche aus der Ecke neben dem Kühlschrank. Im Wohnzimmer entnahm sie der Vitrine ein langstieliges Weinglas. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer.
Sie warf ihre Tasche und die Jacke auf den Parkettboden.
Sie entkorkte die Flasche, füllte das Glas bis zum Rand und stellte es auf ihren Schreibtisch, die Flasche daneben. Einen Augenblick lang stand sie reglos vor dem Schreibtisch, den Kopf leicht zur Seite geneigt und betrachtete die dunkelrote Flüssigkeit in dem Glas. Mit einem kurzen Kopfschütteln und gerunzelter Stirn löste sie sich von dem Bild und ging zu ihrem Kleiderschrank.
Sie ließ sich auf die Knie nieder und zog die Schublade mit der Unterwäsche auf. Mit beiden Händen wühlte sie zwischen Büstenhaltern, Hemden, Unterhosen und Nachtwäsche bis sie die beiden Großpackungen „Rohypnol“, die sie bereits vor Wochen versteckt hatte, fand. Die rechteckigen Schachteln legte sie behutsam auf den Boden. Für einen kurzen Moment kauerte sie reglos, die Hände auf die Oberschenkel gelegt, vor der Schublade. Abermals schüttelte sie den Kopf, als wollte sie verhindern, in dieser Haltung zu erstarren. Sorgfältig, Stück für Stück, begann sie die Wäsche zu sortieren und alles an seinen angestammten Platz zu räumen. Erst als sie ganz zufrieden und die Ordnung wiederhergestellt war, schob sie die Schublade wieder zu.
Sie brach eine Tablette nach der anderen aus der Verpackung, zwischendurch trank sie, ohne etwas zu schmecken, mir langen Schlucken von dem Wein. Mit spitzen Fingern nahm sie zwei Tabletten auf, ließ diese in die flache Hand gleiten, führte die Hand zum Mund, öffnete ihn und warf die Tabletten hinein. Mit der rechten ergriff sie das Rotweinglas, nahm einen großen Schluck und spülte die Tabletten hinab. Dann fing sie an, die restlichen säuberlich auf der Platte ihres Schreibtisches aufzureihen.

Sie verengte die Augen in Konzentration, während sie sich bemühte, einen möglichst gleichen Abstand zwischen den weißen Pillen einzuhalten. Als sie hiermit fertig war und befand, dass es nun gut war, lachte sie leise in sich hinein.
Sie schlug ihr „Gedankenbuch“ auf.
Sie nahm ihren Füller, schraubte ihn auf und setzte die Feder auf eine noch unberührte Seite. Mit der linken nahm sie eine weitere Tablette und schluckte sie. Dann schrieb sie. Ihren Namen.
Sie füllte das Glas nach. Nahm zwei Tabletten und schrieb einmal mehr ihren Namen.
Sie zählte die Tabletten, während sie am Ende ihres Füllers nagte.
Sie drehte den Kolben des Tintentanks des Fühlers nach vorne. In dicken Tropfen fiel die Tinte auf das Papier und ihren Namenszug. Ihre linke griff sich einige Tabletten. Ihr rechter Zeigefinger tauchte in den Tintenfleck.
Sie rührte mit der Fingerspitze darin herum und verwischte ihren Namen bis zur Unleserlichkeit.

Vom Alkohol und den Schlaftabletten benommen erhob sie sich von ihrem Schreibtisch. Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu und dämmerte dem Abend entgegen. Sie musste sich auf den Stuhl stützen, anderenfalls wäre sie sofort zu Boden gesunken. Ihre verschleierten Augen starrten trübe auf den Schreibtisch. Das aufgeschlagene Buch mit der tintenverschmierten Seite schien ihr zuzugrinsen. Schwerfällig zählte sie vier noch verbliebene Tabletten, die Flasche war leer, am Boden des Glases war nur noch ein kleiner Rest vom Wein. Schwankend schaffte sie es zu ihrem Bett. Sie zog sich nicht aus, legte sich nicht unter die Decke, sondern nur auf das Bett. Die Arme eng an den Körper angelegt, lag sie vollkommen regungslos da. Aus Furcht vor Übelkeit wagte sie nicht, ihre Augen zu schließen. Stattdessen starrte sie blicklos an die Zimmerdecke. Langsam und träge nur gelang es ihr, einen letzten Gedanken zu fassen. „Das war mein letzter Tag...“.
Sie versuchte zu lächeln, aber nun gelang ihr dies nicht mehr.

Irgendwann, später, schlief sie ein.
 
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Kommentare  

Hallo Ingo,

ich danke dir für deinen Kommentar.
Die Geschichte ist bewusst in einer Art radikal - realistischem Dokumentarstil geschrieben, ohne dass ich Erklärungsmuster oder gar erkennbare moralische Wertungen dem Leser liefern wollte. Insofern ist der Text ein wenigbeeinflusst von Realismus in der polnischen Literatur der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, namentlich von Zofia Nalkowska (hierzulande wohl eher nicht bekannt!?);dein Hinweis auf den Syntaxfehler bestätigt mir, dass du die Geschichte aufmerksam gelesen hast - nochmals danke. Ich habe den Satz gewissermassen als bewusste Dissonanz "falsch" gesetzt - allerdings ist den Einwand sachlich gerechtfertigt; entsprechend habe ich die Stelle geändert

Gruss, Bozena


 (15.07.2004)

Ich hatte während des Lesens auf Suizid oder ein Rendez-Vous getippt!
Krass ist, dass Du das Ereignis fast als etwas Alltägliches darstellst. Das geht ja schon aus dem Titel der Geschichte hervor, die "Ein Tag" anstatt "Der Tag" heisst.
Mich hätte der Grund zu dieser Entscheidung der Protagonistin interessiert. Der Text deutet ihre Probleme nur an. Aber vielleicht wolltest Du ja aufzeigen, dass der Suizid-Versuch gar keinen besonderen Grund hatte, womit wir wieder bei der Deutung des Titels wären. Ich schreibe Suizid-Versuch, weil es ja nicht klar ist, ob die Protagonistin wirklich stirbt. Wäre ja möglich, dass sie noch von ihrer Schwester entdeckt wird, bevor es zu spät ist.
Noch etwas zur Satzstellung: Den Satz "In der letzten Stunde schaffte es sie sogar, sich zu melden..." solltest Du ändern auf "In der letzten Stunde schaffte sie es sogar, sich zu melden...". Es ist ein Unterschied, wenn jemand etwas schafft, oder wenn etwas jemanden schafft.

Ich freue mich auf weitere Geschichten von Dir!

Gruss


Ingo Gärtner (15.07.2004)

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