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29 Seiten

Vollweib

Romane/Serien · Romantisches
Christine schmorte seit geraumer Zeit im eigenen Saft. Von ihrer Stirn flossen die Schweißbäche herab, liefen über ihre pausbäckigen Wangen, den Hals, über ihre runden Schultern, durch das tiefe Tal ihrer gewaltigen Brüste, bahnten sich einen Weg über die Wellen ihres Bauches und verschwanden schließlich in dem Gestrüpp zwischen ihren kräftigen Schenkeln. Mit fahriger Bewegung strich sie ihr rot – schwarz gefärbtes Haar zurück und wischte den Schweiß aus den Augen. ´Noch fünf Minuten, sonst lohnt ´s sich nicht´, dachte sie und stöhnte. Ihr leicht verschleierter Blick fiel auf das schlanke Mädchen, das ihr gegenüber auf dem Holz lag. Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen und völlig entspannt da, nur vereinzelte Schweißperlen glitzerten auf ihrer bronze - farbenen, makellosen Haut. Christine sah an ihrem üppigen Körper herab und seufzte. Natürlich, es ginge nur darum, sich selbst zu lieben und so zu nehmen wie man nun mal ist und so weiter und so weiter. Ihre Therapeutin, eine trotz vierfacher Mutterschaft gertenschlanke Endvierzigerin hatte ihr dies schließlich in ellenlangen Sitzungen einzubleuen versucht. Jeder ist schön, auf seine eigene Weise – das sang doch auch diese Sängerin mit den langen Beinen und der Wespentallie. Die haben leicht reden! Christine wusste nur zu gut, dass sie nicht dem seit langem gültigen Schönheitsideal entsprach. ´Weil ich fett bin!!´. Sicher, Kati, ihre beste Freundin, erklärte ihr ständig, dass sie höchstens „mollig“ sei, dafür schönes Haar und weibliche Formen habe – auch wenn diese ein wenig den Rahmen sprengten. Im übrigen sei sie doch so ein lieber und toller Mensch, mit einem wundervollen Charakter, eine Beschreibung ihrer Person, die Christine beinahe noch übler empfand, als wenn man sie schlicht „fett“ geschimpft hätte. Sie hatte es ihrer Therapeutin zu erklären versucht: „Ich bin alleine, habe seit sechs Jahren keinen Mann mehr gehabt...das ist doch nicht normal, oder? Ich will doch auch nur, was alle wollen. Das ist doch nicht schlimm, wenn man an Sex denkt und so...verdammte Scheiße!! “ Damals hatte sie im Behandlungszimmer von Frau Dr. Goibert Rotz und Wasser geheult, gleichzeitig wäre sie wegen ihres offenen Bekenntnisses am liebsten vor Scham gestorben. Frau Dr. Goibert riet ihr, eine Kontaktanzeige aufzugeben. Christine befolgte den Rat. Die Sache mit der Anzeige war ein Fiasko sondergleichen!! Die wenigen Männer, die sich bei ihr meldeten waren widerwärtige Proleten, hatten weder Benehmen noch Verstand und obwohl sie allesamt wie Grottenolme aussahen, ließen sie Christine wissen, dass sie ihr noch einen Gefallen tun würden...Christine hatte durchaus ihre Vorstellungen und Wünsche, was den Traummann anging: So sollte dieser wenigstens 180 cm messen, schlank, vielleicht sogar durchtrainiert sein, über reichlich Verstand und Bildung verfügen und nett sein. Sie war selbstverständlich bereit, gewisse Abstriche zu machen – aber schlank, kultiviert und nett, das sollte er schon sein.
Ihr eigener Einfall war es gewesen, das örtliche Saunaparadies aufzusuchen. Nun, zugegeben, nicht ganz: Kati riet ihr dazu. Denn zum einen könne sie dort etwas für ihren Körper tun (abnehmen!), zum anderen gäbe es an diesen Orten bestimmt auch Männer, die sie näher kenne lernen wollten. „Natürlich darfst Du nicht verklemmt und schüchtern sein!! Zeig´ mal ruhig was Du hast – ist ja nicht wenig!“ Letzteres wusste Christine selbst am besten, allerdings mutmaßte sie, dass ihre beste Freundin in gewisser Weise Recht hatte: Denn sie war in der Tat schüchtern und Exhibitionismus gehörte zu den eher letztrangigen Einfällen, die ihr für gewöhnlich in den Sinn kamen. Andererseits gab sie sich selbst gegenüber zu, dass sie in unbekleidetem Zustand durchaus viel Weiblichkeit zu bieten hatte – insofern ...wer weiß?
Zu Anfang war es dann doch sehr schwer, die Sache mit dem „textilfrei Saunen und Baden“. Denn leider befand Christine, dass jene Mädchen – die mit den Modelfiguren – nackt keinen Deut schlechter aussahen, als in ihren knappen Jeans und Oberteilen, da sie neben ihrer einwandfreien Figur und ihrer cellulitefreien Haut zu allem Überfluss noch nahtlos braun waren. Da Christine Freibäder und dergleichen bisher gemieden hatte, darüber hinaus weder Balkon noch Garten zum Sonnenbaden und Bräunen hatte, war ihr Körper weitestgehend käsig weiß. Lediglich die wenigen Stellen, die hin und wieder der Sonne ausgesetzt worden waren, zeigten ein wenig Sommerbräune. So kam sie sich wie gestreift vor und leider, da sie es nicht lassen konnte, Vergleiche anzustellen, nicht „sehr weiblich“, sondern nur „sehr fett“ vor. Deswegen blieb sie anfangs meistens in ihren neuerworbenen Bademantel gehüllt und betrat die Saunen meist nur, wenn keine Gefahr bestand, diese mit jemand anderem – Frau wie Mann! – zu teilen.
Allmählich stellte sie aber fest, dass nicht nur junge Frauen mit Heidi – Klum – Figur zu den Dauergästen des Saunaparadieses gehörten – sondern eben auch die anderen. Hier nun fielen die Vergleiche zu Christines Gunsten aus, wie sie sich selbst oft und gerne sagte; außerdem waren vor allem die älteren Frauen, die keinerlei Hemmungen hatten, sich offen nackt zu zeigen, zu ihr stets sehr freundlich und grüßten sie, wenn sie sie sahen. So legte Christine nach und nach ihre Scheu ab und empfand es bald als sehr angenehm, unbekleidet zu baden, zu saunen und sich zu sonnen. So hatte sie schließlich nach nur vier Wochen eine Ganzkörperbräune vorzuweisen, auf die sie sehr stolz war – auch wenn sie in Zeiten des Frustes fand, dass sie nun aussehe wie ein Spanferkel...
Denn leider gab es nach wie vor die eine oder andere Sache, die sie mit sich selbst hadern ließ. Da war zum Beispiel das mit dem Schwitzen: Natürlich ging man/frau in die Sauna oder in ´s Dampfbad um zu schwitzen. Nur: Christine schwitzte wie ein Braten. Nun hatte sie schon immer stark geschwitzt, was sie selbstredend nicht gerade glücklich machte - wobei Christine nie schlecht roch, auch wenn sie selbst oft genug beinahe paranoid nach Körpergeruch forschte. Seltsamerweise empfand sie ihr Schwitzen in der Sauna aber besonders störend und fand sich gerade in den Kabinen besonders unattraktiv, wenn nicht gar abstoßend. Zu allem Überfluss bewirkte das Ausschwitzen solch gewaltiger Flüssigkeitsmengen nicht die kleinste Gewichtsreduktion. Christine mochte so oft sie wollte auf die Waage steigen: Ihre 79, 5 kg Lebendgewicht bei einer Körpergröße von 166 cm blieben ihr trotzig erhalten! Und so wenig sie von überflüssigen Pfunden verlassen wurde, so völlig aussichtslos erschien es ihr nach sechs langen Wochen endlich einem Mann nach Maß zu begegnen. Nicht dass es keine gegeben hätte, die ihren Kriterien hinreichend genügt hätten: Doch leider schienen diese Prachtexemplare entweder in festen Händen zu sein – so sie nur mit einer – natürlich schlanken! – Freundin kamen, oder sie balzten nur und ausschließlich um die Gunst der Mädchen mit den perfekten Körpern. Zwar nahm Christine mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, dass sie reihenweise abblitzten, ein echter Trost konnte dies freilich nicht sein. Denn sie wurde, auch wenn sie gelegentliche, sehr zurückhaltende Flirtversuche unternahm, schlichtweg ignoriert. Was Christine verständlicherweise eher gar nicht aufbaute, sondern in erneuten Frust stürzte. Daher sagte sie sich eines Morgens, als sie ihr Früchtemüsli löffelte: „Noch diese Woche, dann knicke ich die ganze Sache und versuche irgendwie mit meinem Leben klar zu kommen!“ Folglich nahm sie sich selbst den feierlichen Schwur ab, nur noch bis Freitag Ausschau zu halten und ein wenig zu wagen. Bei Fehlschlag würde sie sich auf ein künftiges Leben mit Arbeit, Fernseher, Frau Dr. Goibert und massenhaft Schokolade einrichten.
Nun war es Freitag, bereits 19.00 Uhr und ihr selbstgesetztes Ultimatum lief ab. Seit vier Stunden war Christine nun schon in dem Saunaparadies und nichts, rein gar nichts hatte sich ereignet! Es war einfach nur anstrengend gewesen und langsam fühlte sie sich völlig erschöpft.
Christine sah auf die Sanduhr und stellte erleichtert fest, dass die fünf Minuten um waren. Sie erhob sich umständlich, wiewohl mit einer ihr selbst verborgenen Eleganz, dabei peinlich darum bemüht, keine Schweißtropfen auf dem Holz zu hinterlassen. Sie stellte sich unter die Kaltwasserdusche, die sie kaum erfrischte, rieb sich trocken und dachte: ´Oben noch ´ne Zigarette und dann...was soll ´s, bringt doch nichts...geh´ ich nach Hause!´, dachte sie. Sie hüllte sich in ihren Bademantel und forderte den Aufzug zur Dachterrasse an.
„Hallo, Du! Kannst Du den Aufzug aufhalten? Ich will auch mit!“ Das Mädchen, das mit Christine in der Sauna war, winkte ihr, während sie ihre Haare frottierte. Christine nickte. Als der Aufzug kam, drückte sie den Halteknopf. Das Mädchen kam leichtfüßig angelaufen und knüpfte ein Badetuch über ihre Brüste.
„Danke Dir! Das dauert sonst immer ewig, bis der blöde Aufzug kommt – weißt Du ja!“ Sie lächelte freundlich und Christine nickte zustimmend. ´Die ist nett´, dachte Christine, als sie in das strahlend lächelnde Gesicht sah. Dennoch fühlte sie sich in der Gegenwart der hübschen jungen Frau befangen; so war es ihr unmöglich ihrerseits zu lächeln: Christine nickte nur und konzentrierte ihren Blick auf die Fahrstuhltür. Oben angekommen, gingen sie beide zu den Liegeplätzen. Das Mädchen winkte und sagte „Tschüss!“ zu Christine - und ging zu einer gemischten Gruppe junger Leute, die sich sonnten. Sie küsste einen hübschen jungen Mann auf die Wange, legte ihr Handtuch ab und streckte ihren makellosen Körper auf einer Liege aus. Christine biss sich auf die Unterlippe. Sie fühlte sich schlecht, ihr war auf einmal nach Weinen zumute. Sie wendete sich ab, schnürte ihren Bademantel fester und ging hinüber zu der Bank, neben der der einzige Ascher stand. Sie setzte sich und kramte ihre Zigaretten aus der Manteltasche, steckte sich eine an und rauchte mit zu Boden gesenktem Blick. Sie fühlte sich den Tränen nahe. ´Fett, hässlich...und auch noch dumm. Warum kriege ich nur meinen Mund nie auf...die war doch so nett...da kann ich Männer erst recht vergessen...!“ Christine schniefte. Sie wollte hier nicht Heulen. Es war so schon alles schlimm genug – sie musste sich nicht noch zusätzlich lächerlich machen!
Gerade als Christine einen tiefen Zug an ihrer Zigarette nahm, hörte sie in ihrer unmittelbaren Nähe eine Männerstimme: „Verzeihen Sie....“ Christine schrak zusammen, hob ein wenig den Kopf - und sah vor sich ein imposantes männliches Geschlechtsteil. „Oh, Entschuldigung! Ich wollte Sie nicht erschrecken!“, sagte der Penis. Christines Blick wanderte über einen schlanken, muskulösen Bauch, eine breite Brust, einen schlanken Hals, ein Kinngrübchen, schöne volle Lippen, eine edle gerade Nase, um schließlich in zwei leuchtend blaue Augen zu sehen. Der Mann war in den Dreißigern, hatte dunkle lockige Harre und lachte sie mit seinem ganzen Gesicht an. „Es tut mir leid! Aber ich sah Sie rauchen...Ob Sie mir wohl mit einer Zigarette aushelfen könnten? Wenn es Ihnen nichts ausmacht!“
„Äh...nee, schon okay...äh...“ Christine errötete und beeilte sich, mit nervösen Fingern nach der Zigarettenschachtel zu suchen. Sie reichte dem Mann die Schachtel. Dabei senkte sie den Blick. Sie verfluchte innerlich ihre verdammte Schüchternheit! Wenigstens wollte sie vermeiden, dass dieser Mann ihre glühenden Wangen sah. Er entnahm eine Zigarette – und setzte sich ohne weiteres neben Christine auf die Bank. „Hätten Sie auch Feuer, bitte?“ Christine meinte, ihr Herz müsste stehen bleiben. Sie kramte in ihrem Bademantel nach dem Feuerzeug. Nach einer halben Ewigkeit hatte sie es endlich gefunden. Beim dritten Anlauf konnte sie es entzünden. Der Mann hielt schützend eine Hand vor die Flamme. Dabei berührte er ganz leicht Christines Hand. Ihr lief ein Schauer durch den ganzen Körper. Er tat einen kräftigen Zug und lehnte sich zurück. Christine zog verlegen ihren Bandemantel enger um ihre Schultern. Verstohlen sah sie aus den Augenwinkeln zu dem rauchenden Mann. Dieser blinzelte, ihr abgewendet, in den Nachmittagshimmel. ´Oh Gott...was bist Du schön!´, dachte Christine. Sie meinte, jeden Muskel unter der glatten, sonnengebräunten Haut sehen zu können. Kein Gramm Fett. Und dieser... Sie hatte noch nie einen so großen Penis gesehen. Sie erschrak über sich selbst, als sie dass Ziehen in ihren Brüsten und das Kribbeln zwischen ihren Schenkeln spürte. Sie erröte erneut und noch heftiger, schlug die Beine übereinander und rückte vorsorglich so weit es ging von dem Mann weg. Dabei quetschte sie sich fast in die seitliche Begrenzung der Bank. ´Geh´ weg, Du dumme Kuh! Bevor es peinlich wird!´, zischte ihr eine innere Stimme zu. ´Der ist nicht Deine Klasse! Du wirst Dich nur zur kompletten Idiotin machen!´ Christine drückte ihre Zigarette aus und stand auf. ´Nur schnell weg!!´ „Oh, möchten Sie schon gehen?“
„Ich...äh...“, stammelte Christine. Die Hitze in ihrem Gesicht brachte sie fast zur Verzweiflung.
„Ich finde, ich sollte mich bei Ihnen revanchieren! Für die Zigarette, meine ich. Darf ich Sie zu einem Getränk einladen?“, dabei zeigte der Mann das bezauberndste Lächeln der Welt. Fand Christine. Und meinte, ihr Kopf müsse bald vor Überhitzung platzen. ´Sag´ was!! Verdammt noch mal!! Siehst Du denn nicht, dass das Deine große Chance ist? Mach´ den Mund auf, Du blöder Trampel! Und bemühe Dich, zur Abwechslung auch mal freundlich zu gucken!´, beschwor die innere Stimme. „Ja...äh...Ja! Sehr gerne...äh...“, sagte Christine mit belegter Stimme und schaffte ein schüchternes Lächeln.
„Toll!“, lachte der Mann, „Ich ziehe mir nur rasch etwas über, kleinen Moment!“ Er stand auf und ging zu den Liegestühlen. Christine sah ihm nach und auf das muskulöse, runde Hinterteil. Sie bemühte sich, so unverkrampft wie möglich zu stehen. Sie schaute zu den Sonnenbadenden. Ihr Blick traf sich mit dem des hübschen Mädchens. Diese lächelte und zwinkerte ihr frech zu. Christine erschrak und sah weg; aber dann schaute sie wieder zu dem Mädchen. ´Du bist echt nett!´, dachte Sie – und zwinkerte kaum sichtbar zurück.
Im Restaurant tranken sie Espresso. Christine war unendlich erleichtert, dass sie beide schnell ins Gespräch gekommen waren. Denn Walter – so stellte er sich ihr vor – hatte eine gewinnende, einfach nette Art. Er verstand sich bestens darauf, jedwede peinliche Gesprächspause zu überbrücken. Diese drohten immer dann zu entstehen, wenn Walter Christine eine Frage stellte. So erfuhr sie, dass er bei den „British Airways“ arbeitete, als Steward, Deutsch – Engländer war und zur Zeit bei Freunden abgestiegen sei; noch dieses Wochenende, am Montag wäre er dann wieder in der Luft und unterwegs. Er lachte viel, machte allerlei ironisch – abwertende Bemerkungen über seinen Job, dass er eigentlich viel lieber Maler geworden wäre, für die Kunst aber zu wenig Talent mitbrächte, dass er mal ein wenig studiert hätte (erfolglos!), dass er das Reisen noch immer lieben würde und so weiter und so weiter. Christine hing an Walters Lippen, die sie wundervoll und überaus sinnlich fand. Sie hörte eigentlich nur mit halbem Ohr zu – auch wenn sie seine Geschichten nicht uninteressant fand; aber allein die Tatsache, dass sie mit einem Mann, der absolut ihrem erträumten Ideal entsprach, im Bademantel Kaffee trank, machte sie benommen. Aber es war kein schlechtes Gefühl.
„Oh, ich rede viel zu viel! Sie kommen gar nicht zu Wort! Außerdem haben Sie mir Ihren Namen nicht verraten. Oder ist das ein Geheimnis?“, dabei schaute er Christine herausfordernd, aber freundlich an.
„Ich heiße Christine...“, sagte sie leise.
„Ein schöner Name!“ Christine war diesbezüglich eigentlich anderer Ansicht, aber sie konnte in Walters Gesicht nichts anderes als Ehrlichkeit entdecken. „Und...Christine!...was machen Sie beruflich – wenn ich fragen darf?“
´Du darfst alles!!´, dachte Christine und antwortete: „Ich arbeite bei der Rundschau.“ „Sie sind Journalistin?“
„Äh...nein...ich arbeite in der Anzeigenverwaltung...nix besonderes, so ´n Bürojob eben!“, sie merkte, dass ihr das Blut in die Wangen schoss.
„Na ja, diese Arbeiten müssen auch erledigt werden, nicht wahr? Wissen Sie, meine Arbeit ist eigentlich völlig banal – und anstrengend. Es ist bei weitem nicht so aufregend und abwechslungsreich, wie viele Leute meinen. Um ehrlich zu sein: Ich bin es manchmal leid – irgendwie. Aber...was könnte ich großartig anderes machen? Ich schätze, dass ich bei Ihrer Zeitung kaum eine Stelle bekommen würde, beispielsweise.“
„Ja...das ist schwer, heute... Aber...hm...“
„Sagen Sie, Christine, Sie kommen häufig hierher?“
„Wohin?“ ´Wohin wohl – blöde Kuh!!´
„Oh Verzeihung, in die Therme meinte ich!“
„Ja...schon eine Weile. Ich habe eine Dauerkarte.“
„Das sieht man. Sie sind wirklich sehr schön braun. Das steht Ihnen sehr gut, die Bräune. Passt gut zu Ihren Augen!“ Christine lächelte scheu.
„Danke“, wisperte sie. Sollte Walter etwa zum Flirten übergegangen sein? „Ich finde, dass blaue Augen und dunkle Haare herrlich zusammen passen. Und...Sie haben sehr schöne Augen, Christine.“
„Meine Haare sind gefärbt!“, sagte Christine, der keine bessere Entgegnung einfiel. ´Außerdem sieht es bei Dir noch viel besser aus – Du hast wirklich dunkle Haare!´. Walter lachte, als hätte sie einen besonders gelungenen Scherz gemacht. ´Du hast das schönste Lachen, das ich je gesehen habe!´
„Was?“, erschrak sie.
„Ich mache irgendetwas falsch, scheint mir. Sie erschrecken so häufig. Ich fragte, ob wir uns nicht vielleicht ...duzen möchten?“
´Liebend gerne!´, Christine kaute auf ihrer Unterlippe, aber sie schaffte es, dabei zu lächeln.
„Ich heiße Christine...äh...sorry...das weißt...Du...schon!“
„Und ich bin Walter – das weißt Du aber auch schon! Sag´ Christine: Hättest Du Lust, was Essen zu gehen? Ich meine, nur wenn Du nichts anderes....“
´Zum Beispiel fernsehen oder in den Schlaf heulen!! Jetzt reiß Dich zusammen, verdammt! Er kann Dir kaum weiter entgegenkommen! Sei mutig!!.´ Christine ließ ab vom Lippenkauen und lächelte, wobei sie ebenmäßige weiße Zähne entblößte.
„Ich glaube, dass ist ´ne gute Idee! In der Nähe ist ein Perser, der ist ganz toll. Wenn Sie....Du, Persisch mögen, natürlich nur!“
„Ich glaube, ich hätte Lust, es kennen zu lernen! Dann schlage ich vor, dass wir uns in zehn Minuten vorne an der Kasse treffen. Ich muss eben mein Zeug holen und mich umziehen!“ Walter stand auf.
„Bis gleich! Und warte auf mich!“, dann ging er Richtung Aufzug. Christine sah ihm nach. Mit klopfendem Herzen stand sie auf. Sie ging zu den Duschen. Dort duschte sie gründlich. In der Umkleide fönte sie hektisch ihre Haare. Sie zögerte kurz, ob sie etwas Make – Up auftun sollte, verwarf dies jedoch. ´Vielleicht will er mich so wie ich bin – ganz natürlich´, dachte sie und zog sich an. Sie schaute noch einmal in den Spiegel. Sie zupfte an ihrer Bluse und ihrem Rock herum. ´Dünner wirst Du davon auch nicht...lass´ den Unsinn!!´
Walter stand bereits an die Theke im Foyer gelehnt. Er winkte ihr zu.
„Bist Du soweit? Dann kann ´s ja losgehen. Soll ich Deine Tasche nehmen?“
„Nein, nicht nötig!“ Draußen war es immer noch sehr warm. Christine fing sofort an zu schwitzen. ´Scheiße – und natürlich wieder dunkle Sachen an!!´ Sie ging zügig in Richtung des persischen Restaurants, denn sie wollte schnellstmöglich ankommen und sich frisch machen. Daher steuerte sie resolut einen Tisch am Fenster an und nahm Platz.
Als sich Walter gesetzt hatte, sagte sie: „Muss eben noch Zigaretten holen, Augenblick!“
„Lass´ mich das doch machen! Ich brauche schließlich auch welche!“
„Ich kann Dir welche mitbringen!“, erwiderte Christine ungeduldig, schnappte ihre Tasche und ging Richtung Zigarettenautomat, wo sich auch die Toiletten befanden.
„Gauloises blondes, bitte!“, rief Walter ihr nach.
´Ich schwitze wie ein Schwein!!´, dachte Christine entsetzt, als sie vor dem Spiegel der Damentoilette stand. Sie ging in eine der Kabinen, holte ihr Handtuch aus der Tasche und zog ihre Bluse aus. Dann rieb sie sich den Schweiß ab und rubbelte sich die Haare. ´Der muss mich für total bescheuert halten!! Zigaretten holen...und die Sporttasche mitnehmen...oh Gott!“ Sie fand, dass es nun ohnehin gleich sei und schminkte sich die Lippen und brachte ihre Frisur in Ordnung.
´Schöne Augen...´dachte sie nach dem letzten prüfenden Blick, verließ die Damentoilette, zog zwei Päckchen Zigaretten und ging zurück ins Restaurant.
„Sorry, hat länger gedauert. Musste mich noch frisch machen!“
„Danke! Du siehst toll aus!“ ´Meint der das im Ernst?´, aber sie musste trotzdem ob des Komplimentes lachen. Und im Verlauf des Abends lachte Christine viel. Weil Walter nett war. Weil er witzig war. Weil er eine schöne Stimme hatte. Weil er gut aussah. Weil er ihr Komplimente machte. Weil er offen mit ihr flirtete. Weil er wunderschöne Augen hatte. Weil er eine traumhafte Figur hatte. Weil er sie ansah, wie er sie ansah. Weil Christine nie zuvor von einem solchen Traummann beachtet worden war. Weil sie mit Walter ins Bett wollte. Weil Walter alles war, was sie sich je erträumt hatte. Und weil die verdammte Zeit schneller verstrich, als es nötig gewesen wäre.
Es war kurz nach Mitternacht, sie waren als letzte gegangen und nun standen sie vor dem Restaurant. Walter erzählte irgendwas. Aber Christine hörte nicht hin. Sie sah auf den Boden. ´Schön war ´s! Und gleich ist es vorbei und ich seh´ Dich nie wieder!´ „Was hast Du, Christine? Du bist plötzlich so still?“
„Nichts, bin nur müde...“
„Möchtest Du nach Hause?“ ´Nein, bitte!!´ „Fände ich schade! Ich meine, ist zwar ein blöder Spruch...aber die Nacht ist noch jung!“ Christine hörte die innere Stimme. Sie sprach langsam und eindringlich: ´Sag´ es, los! Du hast nichts zu verlieren! Mach´ schon!´ Christine sah Walter an. Sah in das schöne, freundliche Gesicht.
Sie gab sich einen Ruck und sagte: „Ja, das stimmt! Ich...ich...wohne in der Nähe. Ich...äh...möchtest Du...mitkommen, zu mir?“ Walter sah sie an, ernst. Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und fuhr sanft mit seiner Hand über ihre Wange.
„Ich glaube, im Moment wüsste ich nichts, was ich lieber täte!!“
Christine lag auf dem Bauch. Das Laken war schweißnass. Sie hatte die Augen geschlossen. Ein verträumtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Walter strich mit der Hand über ihren Rücken. Sanft knete er ihr Fleisch. Fing an, ihren Hintern zu massieren.
„Du bist ein richtiges Vollweib!“, flüsterte er mit sanfter Stimme in ihr Ohr. Christine öffnete leicht ihre Schenkel, als Walters Hand tiefer glitt. Sie seufzte leise und genoss die Berührung.

Sie hatten nur wenige Pausen gemacht. Vom Wohnzimmer war es in die Küche gegangen. Dort nahm Walter Christine auf dem Küchentisch. Im Schlafzimmer hatten sie sich zunächst auf dem Fußboden geliebt. Später auf und im Bett: Mal war Christine auf Walter geritten, mal war er seitlich in sie eingedrungen, das letzte Mal hatten sie es von hinten gemacht.
Und jetzt lag Christine auf dem Bauch, fühlte sich geschlaucht, war wund und seufzte leise, während Walters Finger an ihren Schamlippen spielten. „Weißt Du....“, sagte sie leise, „weißt Du, so hab´ ich noch nie...so oft und so...wild. Mein letzter Freund... den habe ich sehr lieb gehabt. Es war mit ihm auch nicht schlecht. Aber...so was hab´ ich noch nie erlebt. Ich...fühle mich...so...toll...ich weiß nicht...!
Walter zog die Hand weg. „Hör´ nicht auf! Das ist schön, so sanft!“
„Du bist wundervoll, Christine! Ich hab´ noch nie eine wie Dich...ich glaube, ich...“ Ruckartig drehte sich Christine. Sie sah Walter an. Zornig. Ihre rechte Wange zuckte ein wenig. „Bitte...red´ nicht weiter! Ich würde sonst...ich meine...Du wirst am Montag fort sein. Ich möchte nicht, dass es weh tut!“
Walter wich erschrocken zurück. „Aber...ich...wollte nicht...es ist doch...“, stammelte er.
Christine legte ihre Fingerspitzen an seine Lippen. „Sch......! Lass´! Was wir jetzt haben zählt – sonst nichts. Ich möchte nicht an Morgen oder Übermorgen denken.“ Sie küsste ihn auf die Augen und fasste ihm an den Penis. „Ich glaube, ich könnte wieder. Wie sieht ´s bei Dir aus?“, sagte sie und zwinkerte kokett. Walter streichelte ihre Brust. Dann grinste er auch: „Schon möglich – Du Vollweib!“
Später, Walter schlief – an sie gekauert und ruhig atmend – da weinte Christine vor Glück still in sich hinein. ´Du bist auch wundervoll. Du Traummann! Ich liebe Dich!´ Diese letzten Worte klangen in ihr nach, als sie in den Schlaf hinüberglitt.
Der Montag kam viel zu schnell. Wortlos saßen sie in der Küche und starrten in ihre Kaffeebecher. Sie hatten auch am Samstag und am Sonntag die meiste Zeit miteinander geschlafen, Christines Körper war übersät von roten Flecken – die Überbleibsel von Walters leidenschaftlichen Küssen. Kurz vor dem Aufstehen – um sechs Uhr in der Frühe! – hatten Sie zum letzten Mal Sex miteinander gehabt. Christine hatte Walters Samen geschluckt und hatte noch immer den scharfen, salzigen Geschmack auf der Zunge; dieser ließ sich auch nicht vom Kaffe vertreiben. „Ich glaube, ich...“, brach Walter das Schweigen, „ich glaube, ich muss langsam los. Muss um neun einchecken...“
„Soll ich mitkommen...ich meine, soll ich Dich fahren?“
„Nein. Ich denke, dass es leichter ist, wenn wir uns jetzt gleich verabschieden. Ich meine...für beide...“ Christine nickte und konzentrierte sich auf den Inhalt ihres Bechers. Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen.
´Scheiße!!´, dachte sie, als die ersten Tränen in den Kaffee fielen. Walter stand auf, ging vor ihr in die Hocke und hob ihr Kinn.
„Wein´ doch nicht, Süße! Es ist doch nicht für immer...“ Christine schniefte und kniff die Augen zusammen.
„Heißt das, ich soll auf Dich warten? Und wenn Du nicht wieder kommst? Das wär´ zuviel für mich!!“, sagte sie und musste noch heftiger weinen.
„Ja, Du hast Recht. Ich mache Dir keine Versprechungen. Deswegen: Warte nicht auf mich! Denke an unsere Zeit. Es war das schönste Wochenende meines Lebens, glaube mir! Ich werde es versuchen, ehrlich. Vergiss das nicht, hörst Du!“
Christine rieb sich die Augen und versuchte Walter anzulächeln. Es gelang ihr nicht wirklich, doch war sie froh, dass er nichts mehr sagte. Sie brachte ihn zur Tür, er umarmte sie und küsste sie noch ein letztes Mal flüchtig.
„Auf Wiedersehen! Christine!“. Dann ging er. Christine sah ihm kurz nach, als er die Treppe hinunterstieg, schloss die Tür, ging wieder in die Küche und füllte ihren Becher nach. Sie setzte sich an den Tisch. Ihr Blick fiel auf den halbvollen Becher, den Walter stehen gelassen hatte. Christine legte die Arme auf den Tisch. Sie bettete ihren Kopf auf sie - und weinte in dieser Haltung solange, bis ihr die Tränen ausgingen.

Die Zeit danach – nach dem Wochenende mit Walter – war schlimm für Christine. Als sie am Montagabend von der Arbeit nach Hause kam, wartete sie schon auf Nachricht von Walter. Auf ihrem Anrufbeantworter war keine Nachricht. Sie versuchte sich abzulenken, wollte lesen, fernsehen – schrak aber bei jedem Geräusch, das entfernt wie ein Telefon klang, hoch. Es war bereits kurz vor Mitternacht, Christine hatte eben ihr Nachthemd angezogen und wollte zu Bett gehen, als es ihr einfiel:
Sie hatte weder Adresse, noch Telefon - oder Handynummer von Walter; sie konnte sich nicht einmal an seinen Nachnamen erinnern. Und er? Nun, es war immerhin möglich, dass er ihren Nachnamen am Klingelschild gelesen hatte – doch war es auch wahrscheinlich?. Sie waren die ganze Zeit viel zu beschäftigt gewesen, hatten kaum miteinander geredet. Nichts anderes war wichtig gewesen. Aber nun? Christine fühlte Beklommenheit, es wurde ihr seltsam eng in der Kehle.
´Ich hab´ ihm nicht mal meine Nummer gegeben...´, dachte sie. Sie ging in die Küche, um etwas zu trinken. Sie wollte die Wasserflasche ansetzten, aber sie entglitt ihr und zerbrach in tausend Stücke. „Scheiße!!“, rief Christine laut. Sie bückte sich, um die Scherben aufzuheben. Da schossen ihr Tränen in die Augen. Sie plumpste gegen den Kühlschrank. Sie weinte stumm, aber nicht lange. Apathisch starrte sie an die gegenüberliegende Wand. Sie sah nichts. Eine entsetzliche Empfindung würgte sie und drohte sie zu ersticken: Das Gefühl, gänzlich alleine und verlassen zu sein.
Sie erwachte im Morgengrauen – auf dem Küchenboden liegend. Christine beschloss, sich zusammen zu reißen. Sie setzte die Kaffeemaschine in Betrieb, machte das Radio an und ging in ´s Badezimmer, um zu duschen. Das Gesicht, das sie aus dem Spiegel heraus anblickte, sah übernächtigt und kränklich aus. Der Rücken schmerzte entsetzlich vom Liegen auf den Küchenfliesen. ´Eine heiße Dusche tut bestimmt gut´, dachte sie und zog ihr Nachthemd über den Kopf. Der Anblick von Walters Hinterlassenschaften auf ihren Brüsten gab ihr einen herben Stich – aber sie kämpfte die aufwallende schlechte Empfindung nieder. Sie duschte sehr heiß und sehr lange. Danach verwendete sie geraume Zeit darauf, sich zu schminken. Schließlich saß sie im Bademantel am Küchentisch, trank Kaffee in kleinen Schlucken und ließ jeden Gedanken durch das laut plärrende Radio vertreiben. Als sie vom Nachrichtensprecher darüber informiert worden war, dass es 7.00 Uhr war, stand sie auf, um sich anzuziehen. Sie wählte das schwarze Leinenkleid mit den kurzen Ärmeln und knöpfte es bis zum Hals zu. Sie nahm ihre Handtasche, verließ die Wohnung und machte sich auf zur Arbeit.
Da sie nur wenig und schlecht geschlafen hatte, war sie im Büro meistenteils damit beschäftigt, sich wach zu halten. Auf dem Nachhauseweg wäre sie in der Straßenbahn fast eingenickt. Sie war froh über die dumpfe Müdigkeit. Diese machte sie gefühllos und verhinderte jedes Nachgrübeln. Zu Hause ging sie sehr früh zu Bett. Sie schlief traumlos durch bis zum nächsten Morgen.
Auch der Mittwoch ging auf ähnliche Weise vorüber. Auf der Arbeit konzentrierte sie sich verbissen auf jede noch so banale Handlung. Dadurch blieb ihr Kopf frei von negativen Gedanken. Sie schuf damit in sich eine Leere, die sich nicht wirklich angenehm anfühlte, aber zumindest die Stunden erträglich verstreichen ließ.
Das änderte sich am Donnerstag. Christine bekam ihre Periode und wurde von heftigen Unterleibsschmerzen geplagt. Weder Schmerzmittel, noch Tees, noch eine Wärmeflasche auf ihrem Bauch gaben ihr Linderung. Die Bauchkrämpfe füllten ihr inneres Vakuum wieder auf – und der seelische Schmerz kehrte zurück. So stark, dass es ihr Übelkeit verursachte. Sie lag zusammengekrümmt auf der Wohnzimmercouch, hielt sich mit den Händen ihren Bauch und schluchzte und schrie in die Polster. Sie rief um Hilfe, mal verzweifelt, mal wütend – aber es war niemand da. Niemand der sie auffangen und trösten konnte. Der Anfall ging vorüber. Christine setzte sich wieder auf.
´Muss mit jemandem reden...!´, dachte sie, ging zum Telefon und wählte Katis Nummer.
„Ja?“ „Ich bin ´s! Du...mir geht ´s grad´ nicht gut. Ich...brauche jemanden zum Reden. Hast Du...kannst Du?“ Kati hatte Zeit. Sie verabredeten sich für Freitag Abend im „Wallenstein“ – „Da ist es ruhig, da können wir uns ungestört unterhalten!“, meinte Kati. Die Aussicht darauf, ihrer besten Freundin ihr Herz auszuschütten, erleichterte Christine etwas. ´Wenn nur schon Morgen Abend wäre...´

Als Christine geendet hatte, sah sie Kati erwartungsvoll aus geröteten Augen an. Diese musterte sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck. Als sie sprach, klang ihre Stimme streng und vorwurfsvoll:
„Also...weißt Du...ich find´ das alles totale Scheiße, was Du mir da erzählst!!“ Christine sah sie verstört an: „Ich.....wie meinst Du das?“ Kati lehnte sich zurück, stieß geräuschvoll den Atem aus. Als sie antwortete, klang es noch eine Spur schärfer.
„Ich meine...ich fass´ es nicht! Du nimmst einen Typen mit nach Hause, von dem Du überhaupt nichts weißt. Du bumst mit dem ohne Gummi das ganze Wochenende rum – und Deine einzige Sorge ist, dass der nicht wiederkommen könnte? Sag´ mal Chrissie, hat ´s bei Dir irgendwie ausgehakt?“
Die Heftigkeit von Katis Erwiderung machte Christine wütend.
„Ich hab´ gestern meine Tage gekriegt, wenn Du das meinst!?“
„Nee, das meine ich nicht! Raffst Du ´s denn überhaupt nicht? Du hast mir eben erzählt, dass der Typ Steward ist. Ich bin mir sicher, dass der alles bumst, was nicht bei drei auf den Bäumen ist! Mensch, Frau! Was ist, wenn Du Dir was geholt hast?“ Christine glotzte ihre Freundin verständnislos an. Kati packte sie an den Handgelenken:
„Aids! Das meine ich!“ Christines Kinn zuckte, in ihren Augen standen Tränen. Sie riss sich aus Katis Griff los, verbarg das Gesicht in den Händen und saß da, mit bebenden Schultern. Kati schlang ihren Arm um ihre Schultern. Mit sanfterer Stimme redete sie auf sie ein:
„He, Chrissie! Du! Du musst einen Test machen lassen – um sicher zugehen. Muss ja nichts passiert sein! Aber...hm...Du bist doch meine beste Freundin. Ich will Dir doch nur helfen, hm?“
„Ich weiß!“, sagte Christine mit tränenerstickter Stimme, „Aber......es tut so...furchtbar weh, das alles...ich weiß gar nicht..“
„Ich versteh´ Dich doch! Aber – na ja! Ich weiß ja nicht...vielleicht solltest Du zu Deiner Psychotante gehen...kann Dir vielleicht helfen, so mit dem Liebeskummer eben.“
Christine nickte. Ja, daran hatte sie natürlich selbst schon gedacht. Ja, Kati hatte Recht. In allem! Klar! Sie blickte ihre Freundin an und bemühte sich um ein tapferes Lächeln.
„Muss ich wohl durch jetzt! Ich mach´ ´n Test, versprochen!“ Kati lächelte sie augenzwinkernd an und knuffte sie in die Seite:
„Du bist mir Eine, Chrissie...“ Sie lachte und nach einer Weile konnte Christine einstimmen. So war es dann doch ein ganz netter Abend. Christine fühlte sich viel, viel besser. Als sie sich verabschiedeten, beschloss Christine zu Fuß nach Hause zu gehen. Das empfand sie als recht angenehm. Sie trug ein seltsames Hochgefühl in sich. ´Alles wird gut!´, dachte sie
Die gute Stimmung verflog, sobald Christine im Treppenhaus war. Sie sah vor ihrem geistigen Auge alles vor sich, was sie mit Walter erlebt und getan hatte. Die Erinnerungsbilder trafen sie so schwer und unvermittelt, dass sie es nicht auf Anhieb in ihre Wohnung schaffte. Sie musste sich auf die Stufen setzen und einige Minuten tief durchatmen. In der Wohnung kollabierte sie vollständig. Im Flur versagten ihr die Beine, sie fiel zu Boden und bekam keine Luft mehr. Schmerz – und Wut, auf sich, auf Walter, auf Kati schüttelten sie. Sie trommelte mit den Fäusten auf den Boden, schrie:
„Du Scheißkerl! Ich dumme Sau!! Warum muss immer mir so eine Scheiße passieren????“

Sie konnte sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern, wie sie es in ´s Bett geschafft hatte. Sie rief Frau Dr. Goibert schon früh an. Diese versprach, sie am Montag Vormittag dazwischen zu schieben. Sie erkundigte sich eindringlich, offenbar durch Christines Flehen um einen Termin alarmiert, ob sie denn alleine über das Wochenende klar käme. Christine bejahte.
„Gut, ich vertraue Ihnen, Christine! Dann sehen wir uns am Montag, um 8.30 Uhr.“
Samstag und Sonntag verbrachte Christine größtenteils im Bett oder mit angezogenen Beinen auf der Couch hockend. Sie aß nichts, trank nur wenig. Obwohl sie wegen ihrer Periode stark blutete, hatte sie keine Lust sich zu waschen. Sie vernachlässigte sogar das Wechseln von Binden und Tampons. Es störte sie nicht, dass auf ihrem Nachthemd Blutflecken und auf dem Bettlaken Schmierstreifen waren. Ihre Gedanken drehten sich einzig und allein um Walter. Nur um ihn. Sie führte endlose Selbstgespräche, in denen sie Walter sagte, wie sehr sie ihn liebte; sie stellte sich vor, dass er bei ihr wäre – und ihr sagte, dass er sie auch liebte. Sie ballte die Fäuste, und verfluchte ihn.
Um gleich drauf zu sagen: „Verzeih´ mir! Ich lieb´ Dich doch!“ Sie sah ihn im Bett mit dem hübschen Mädchen aus der Sauna – beide lachten sie aus. Darauf beschimpfte sie ihn – um sogleich wieder unter Tränen auszurufen: „Bitte, Gott! Mach´, dass er wiederkommt!“ Und so fort.

Am Montag meldete sie sich bei der Zeitung krank. Sie verließ die Wohnung ungeduscht, mit ungepflegten, fettigen Haaren. Im Behandlungszimmer ihrer Therapeutin saß sie dann mit hängenden Schultern, zusammengesunken vor dem Schreibtisch der Ärztin. Dr. Goibert schwieg eine halbe Ewigkeit, bevor sie sich zu Christines Bericht äußerte:
„Das alles gefällt mir überhaupt nicht, Christine! Sie klangen schon am Telefon nicht gut. Um ehrlich zu sein: Wenn ich Sie hier so sehe – ich mache mir ernsthafte Sorgen. Sie sehen schrecklich aus. Ich weiß, dass sie sehr auf ihr Äußeres bedacht sind. Ich habe Sie noch nie so – entschuldigen Sie – so verwahrlost gesehen. Offengestanden: Im Moment bin ich ein wenig ratlos, was ich mit Ihnen machen soll!“ Christine sah sie aus verquollenen Augen an, schwieg jedoch.
Die Ärztin sprach weiter: „Ich bin mit Ihrer Vorgeschichte vertraut, wie Sie wissen. Sie haben damals, nach der...äh...Trennung von Ihrem Freund...“, sie verbesserte sich, “nachdem er Sie verlassen hat, sehr unter Depressionen gelitten. Ich nehme ´Liebeskummer´ nicht auf die leichte Schulter. In Ihrem Fall erst recht nicht! Sagen Sie mir: Kann ich Sie in diesem Zustand alleine lassen oder wäre professionelle Betreuung rund um die Uhr für Sie besser?“ Christine sah sie misstrauisch an. Mürrisch fragte sie: „Wollen Sie mich in die Psychiatrie einweisen?“
„Genau das meine ich!, antwortete Dr. Goibert sachlich – kühl.
„Ich...ich weiß nicht. Ich...es ist...“. Weiter kam sie nicht.
„Ich würde Sie krank schreiben – sofern Ihnen das hilft, natürlich! Ich kann Ihnen auch Medikamente verschreiben, die gegen Depressionen helfen. Aber...ich bin nicht richtig davon überzeugt, ob sie diese auch nehmen würden....“
„Ich...ich glaube, dass es mir...hm...schon helfen würde, wenn...wenn ich ein wenig Zeit für mich hätte. Und ein Mittel, das...das den Schmerz und ...das alles...wegnimmt. Ich...möchte nicht..., dass....dass es so wehtut!“
„Ich weiß, Christine.“, sagte die Ärztin ungewohnt sanft. Sie schwieg erneut nachdenklich. Dann nickte sie langsam und seufzte:
„Wir versuchen es. Auch wenn ich mich nicht sehr gut dabei fühle. Ich werde sie erst mal für zwei Wochen krankschreiben. Sie werden ein Medikament bekommen, dass Sie sehr müde machen wird – aber dafür werden Sie Ihre...Sorgen allenfalls aus der Distanz wahrnehmen. Ich möchte allerdings, dass Sie mich jeden zweiten Tag aufsuchen. Sollte ich nur das geringste Anzeichen feststellen, dass Sie alleine nicht klar kommen, würde ich verfügen, dass Sie ständig professionell betreut und überwacht werden.“ Sie hielt inne und musterte Christine mit strenger Miene.
„Haben Sie mich verstanden?“
„Ja...ja, danke Frau Dr. Goibert.“, murmelte Christine.
„Gut, dann verlasse ich mich auf Sie. Dann ist da noch etwas... Hören Sie, auch ich bin der Ansicht, dass Sie einen HIV – Test machen sollten. Die Blutabnahme kann hier bei mir geschehen, wir würden die Probe dann zur Auswertung wegschicken. Ich schätze, das würde Ihnen selbst auch entgegenkommen. Sind sie damit einverstanden?“ Christine neigte den Kopf zur Seite und nagte an Ihrer Unterlippe. Sie sagte nichts, nickte aber wenigstens.
„Gut!“. Dr. Goibert nahm ihren Rezeptblock und schrieb ein Rezept aus. Sie drückte auf den Knopf der Sprechanlage:
„Carmen? Kommst Du mal, bitte!“ Es klopfte und die Arzthelferin betrat das Zimmer. „Carmen, würdest Du Frau Mainhardt gleich Blut abnehmen – für einen Test, Du weißt ja, was zu tun ist!“ Carmen nickte. Dann wandte sich die Ärztin wieder Christine zu und reichte ihr das Rezept:
„Das wird Ihnen helfen. Seien Sie behutsam im Umgang. Diese Psychopharmaka sind nicht gerade frei von Nebenwirkungen.“ Christine stand auf.
„Danke!“, sagte sie nur. Dr. Goibert sah sie noch einmal eindringlich an, dann sagte sie leise:
„Passen Sie gut auf sich auf, Christine! Ich möchte Sie nicht verlieren!“ Christine sah sich noch einmal um, als sie der Arzthelferin nach draußen folgte. Die Ärztin nickte mit dem Kopf und lächelte.

Die erste Woche ging Christine nur aus dem Haus, um ihre Therapeutin aufzusuchen. Man hatte sie darüber informiert, dass das Ergebnis des Testes erst in sechs Wochen vorliegen würde. Doch das interessierte sie wenig. Das Medikament bewirkten einen dauerhaften Dämmerzustand, der Christine zwar sehr passiv machte, ihr andererseits aber Ruhe und eine gewisse Gleichgültigkeit gaben. Sie dachte ständig an Walter und die intensive Zeit mit ihm. Aber es war, wie Dr. Goibert gesagt hatte: Alles blieb fern und erreichte sie nur gedämpft, wie in Watte gepackt. Obwohl jenes Wochenende erst zwei Wochen zurücklag, war ihr Erinnerungsbild seltsam verschwommen, wie in einen Nebelschleier gehüllt. Ein Teil von ihr fand daran kein Gefallen und wehrte sich zaghaft gegen das Verblassen ihrer Erinnerung – aber das starke Psychopharmakon behielt die Oberhand. Die Zeit verging.
Ab der zweiten Woche, fing Christine wieder an, sich mehr um sich zu kümmern. Davor war es ihr sogar schwer gefallen, sich überhaupt zu waschen. Keinesfalls hatte sie sich zu sorgfältigerer Körperpflege als gelegentlichem Duschen durchringen können. Sie vernachlässigte ihre Haare, schminkte sich nie und trug nur ihr schwarzes Kleid, da es ohnehin im Wohnzimmer rumlag und es so am einfachsten war. Es war Dr. Goibert, die sie wachrüttelte. Am Mittwoch der zweiten Woche, schimpfte sie aufgebracht mit ihr.
„Christine, Sie lassen sich gehen! Das geht nicht an. Sie sind eine sehr attraktive junge Frau! Und solange ich Sie kenne – immerhin auch schon über zwei Jahre! – habe ich Sie noch nie so daherkommen sehen. Ihre Frisur sieht unmöglich aus! Und dieses Kleid! Verdammt noch mal! Sie haben es jetzt seit über einer Woche an – das Teil hat schon Flecken!“
Christine schaute sie nur ausdruckslos und abwesend an. Irgendwo, ferne in ihrem Kopf dachte sie, dass sie weder „sehr attraktiv“ sei, noch „jung“ mit ihren 38 Jahren. Die Ärztin stand auf, ging um ihren Schreibtisch herum, fasste Christine an die Schultern und schüttelte sie.
„Hören Sie mir überhaupt zu! Christine!“, rief sie wütend.
Christine aber sah sie nur an und lächelte geistesabwesend. Auf einmal verzog Dr. Goibert das Gesicht. Sie blickte entsetzt und angewidert:
„Sagen Sie mal...waschen Sie sich überhaupt noch?“.
Es war diese Frage ihrer Therapeutin, die den Ausschlag gab. Denn die tiefsitzende Angst vor Körpergeruch, davor schlecht zu riechen, drang durch den medikamentenbedingten Nebel in Christines Gehirn. Erschrocken sagte sie: „Stinke...ich meine, rieche ich denn?“ Die Ärztin nickte langsam.
„Ja...das...nee...Ich...Sie haben Recht...das geht nicht! Um Himmelswillen!!“
Die Gesichtszüge Dr. Goiberts entspannten sich:
„Ach, Christine! Hören Sie, wir müssen die Medikamente absetzen oder wenigstens reduzieren. Ich denke, das tut Ihnen überhaupt nicht wohl. Wissen Sie...Sie sind – davon bin ich überzeugt - stärker als Sie glauben. Sie selbst müssen sich aus diesem Loch, in das Sie gefallen sind, befreien. Sie müssen etwas für sich tun! Und ich denke, es wäre ein guter Anfang, wenn Sie erst mal zum Friseur gingen.“
Es kostete Christine einige Anstrengung, nicht wieder wegzudämmern. Aber sie schaffte es, dagegen anzukämpfen. Zögerlich sagte sie:
„Ich werde zum Friseur gehen...ja...Und mich...richtig waschen!“ Sie sah zu Boden. „Ich....ich schäme mich so...“
Sachte berührte die Ärztin Christines Schulter:
„Ich mag Sie sehr, Christine! Es...es tut mir selbst weh, sie so zusehen!“ Christine starrte die Ärztin mit überraschtem Gesicht an. Diese räusperte sich und ging wieder hinter ihren Schreibtisch. Sie wirkte wieder sachlich und kühl – distanziert.
„Also, Sie reduzieren bitte die Einnahme um die Hälfte. Ganz sollten wir noch nicht auf das Antidepressivum verzichten. Ich möchte, dass Sie mir folgendes versprechen: Gehen Sie wieder raus, treffen Sie sich mit Ihrer Freundin Kati, gehen Sie einkaufen. Tun Sie worauf Sie Lust haben. Und denken Sie dabei, dass Sie alleine der wichtigste Mensch auf der Welt sind. Ich weiß nur zu gut, dass das wie ein Gemeinplatz klingt. Was anderes ist es auch nicht. Aber – Sie erinnern sich! -: Wir selbst müssen uns wichtig nehmen, sonst können wir uns nie akzeptieren und selbst lieben lernen!“
Diese Ansprache war für Christine nicht weiter von Bedeutung; es war ohnehin nur eine Variante dessen, was sie von Dr. Goibert von Anfang an immer wieder gehört hatte. Aber es war der kurze Augenblick, als die Ärztin ihre professionelle Nüchternheit vergaß und mit ihr geschimpft hatte, der sie tief berührt hatte; vor allem aber die überraschenden Worte der Zuneigung, die sie ihr gesagt hatte, trafen sie in ihrem Inneren. Und Christine hatte es eilig nach Hause zu kommen, um etwas für sich zu tun. So hatte sie erst viel Zeit darauf verwendet, ihre Wohnung in Ordnung zu bringen. Der Schweiß war ihr in Strömen heruntergelaufen, als sie den Küchenboden auf den Knien geschrubbt hatte. Aber die körperliche Anstrengung war von ihr als angenehm empfunden worden. Sie hatte das Bett – endlich! – abgezogen, hatte die schmutzige Bettwäsche mitsamt dem fleckigen Kleid in die Waschmaschine gestopft. Sie hatte sogar die Matratze mit einem Polsterreiniger verbissen bearbeitet, bevor sie das Bett neu bezogen hatte. Nachdem sie Wohn – und Schlafzimmer gründlich gesaugt hatte, war das Bad dran, und sie hatte erst aufgehört zu putzen und die Armaturen zu wienern, als sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Zum Schluss hatte sie sich selbst vorgenommen.
´Meine Haare sind echt widerlich! Muss zum Friseur, so bald wie möglich...oh Gott!´, hatte sie erschrocken gedacht. Nicht minder entsetzt war sie von ihrem Gesicht gewesen, das vom vielen Weinen – vielleicht auch wegen der Medikamente? – verquollen und abgehärmt aussah. Sie hatte lange geduscht, sich mit einer Körperlotion eingerieben, ihrem Gesicht die teure Crème gegönnt und ihre Haare sorgfältig gefönt. Sie hatte ihre Friseurin angerufen und einen Termin für den folgenden Tag ausgemacht. Sie hatte sich auf das Sofa gelegt und eine CD von Léo Ferré , ihrem Lieblingssänger, gehört.
Zum Abend hin nahm sie noch ein Bad. Als sie schließlich in ihrem Bett lag, hatte sie die Schwermut noch nicht verlassen – aber sie fühlte sich wieder etwas gestärkt.
´Er hat „Auf Wiedersehen!“ gesagt...´, war ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief.

Die Zeit verging. Cristine arrangierte sich. Sie ging nach den zwei Wochen wieder zur Arbeit; sie war bereit, ihren Jahresurlaub nach hinten zu verlegen (wegen der krankheitsbedingten Fehlzeit!); sie sprang für Kollegen ein; machte viele Überstunden – alles aus dem einzigen Grund, um beschäftigt zu sein, um nicht in grüblerischen Trübsinn zu verfallen. Ihre Wohnung putzte sie so häufig wie nie zuvor. Sie duschte zweimal am Tag – morgens und abends – verwandte viel Zeit auf Körper – und Gesichtspflege. Nie wieder wollte sie „verwahrlost“ aussehen oder „stinken“! Sie telefonierte häufig mit Kati, war bei den Gesprächen aber stets bemüht, die Themen „Walter“, „Liebeskummer“ und „Aids“ zu vermeiden. Daher traf sie sich in dieser Zeit auch nie mit ihrer Freundin. Denn Katis Neugier einerseits, ihre sicher aufrichtige Besorgnis andererseits, hätten diese Dinge bei einem Vier – Augen – Gespräch unvermeidbar auf den Tisch gebracht; davon war Christine überzeugt. Sie war bemüht zu verdrängen – so gut es ihr eben gelang. So verbrachte sie die Wochen in angespannter Betriebsamkeit – und meistens alleine, mit sich.
In der achten Woche nach dem Abschied von Walter, es war ein Donnerstag, hatte sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter:
„Praxis Dr. Goibert. Das Testergebnis ist da, Frau Mainhardt. Sie können es jederzeit zu den Sprechzeiten einsehen“. Christine musste sich setzen. Die Erkenntnis traf sie hart und unvermittelt – denn zumindest den HIV – Test hatte sie erfolgreich aus ihrem Kopf verbannt. Ihr war auch mit einem Male klar, dass sie nie wirklich daran gedacht hatte, ob sie möglicherweise angesteckt worden war, sich das tödliche Virus eingefangen hatte. Sie hätte nicht sagen können warum – aber Aids und ihre Person waren in ihrer Vorstellung nie eine Verbindung eingegangen.
´Und wenn ich...mich infiziert hab´? Oh Gott...´ Angst schnürte ihr die Kehle zu. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie fror. Sie rauchte hektisch eine Zigarette. Dann noch eine. Und direkt danach eine dritte hinterher. Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr schwindelte. Einen Moment fürchtete sie, ohnmächtig werden zu müssen. Sie erhob sich mit zittrigen Knien und ging in die Küche.
´Muss was trinken...´, dachte sie, suchte eine Flasche Rotwein heraus, öffnete sie mit nervösen Fingern und trank einen großen Schluck aus der Flasche. Sie nahm sich ein Glas, setzte sich an den Küchentisch und trank, schnell, hastig. Die Flasche war bald leer, Christine öffnete eine zweite. Auch diese trank sie in kürzester Zeit aus. Dann saß sie, blicklos aus dem Fenster starrend, da und rauchte. Es dauerte nicht sehr lange und der Sturztrunk zeigte Wirkung: Der Alkohol löschte ihr Denkvermögen aus wie ein nasser Schwamm die Kreideschrift auf einer Schultafel, hüllte sie in dumpfen Dunst. Schwankend ging sie in ´s Wohnzimmer hinüber, wo sie sich auf die Couch fallen lies. Nach kurzer Zeit schlief sie ein.
In der Nacht erwachte sie – ihr war speiübel. Sie rannte in ´s Bad und schaffte es noch zur Toilette, wo sie sich lange und schmerzhaft übergab. An die Schüssel gelehnt, saß sie mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, schnappte nach Luft, der widerliche Geschmack in ihrem Mund war ihr ekelhaft und machte sie wütend.
´Ich bin echt ´ne dumme Kuh! Scheiße...alles vollgekotzt!!´ Zwar war sie durch das Erbrechen wieder halbwegs nüchtern geworden, allerdings auch sehr erschöpft, so dass keine neuen Angstgefühle aufkamen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie aufstehen konnte. Sie verzog angewidert das Gesicht, als sie die Toilettenschüssel sah, die völlig von ihrem Erbrochenen verschmutzt war. Sie verdrehte die Augen und stöhnte, als sie bemerkte, dass auch ihre Bluse einiges abbekommen hatte. Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus und steckte ihre Sachen in die Waschmaschine. Sie holte die Putzsachen und machte sich an ´s Putzen. Erst nach einer Stunde war sie zufriedengestellt. Sie zog auch ihre Unterwäsche aus, gab sie ebenfalls in die Waschmaschine. Dann wusch sie sich am Waschbecken von Kopf bis Fuß. Erst gegen drei Uhr morgens fand sie Schlaf.

„Guten Tag. Sie haben mich angerufen, wegen des Testes...“ Die Arzthelferin lächelte freundlich:
„Ach ja, Frau Mainhardt, einen Augenblick, ich hole es eben!“ Sie kramte in der Schublade des Aktenschrankes und zog einen braunen Umschlag heraus. Sie ging zu Christine und reichte ihr den Umschlag.
„Bitte sehr, Frau Mainhardt! Sie können das Testergebnis im Warte...“
„Ja, danke!“, Christine verstaute den Umschlag in ihrer Tasche und verließ die Praxis. Unten auf der Straße stand sie mit klopfendem Herzen unschlüssig rum. Bei der Arbeit war sie nervös und unkonzentriert gewesen. Sie hatte – entgegen ihres am Morgen gefassten Vorsatzes – das Büro früher verlassen. Obwohl Freitag war und sie ohnehin nur bis 13.00 Uhr hätte arbeiten müssen. Aber das Bedürfnis, Gewissheit zu haben, wollte ihr keine Ruhe lassen – und so war sie um kurz nach elf gegangen. Nun fürchtete sie sich, den Umschlag zu öffnen.
´Erst ein bisschen spazieren gehen...´, sagte sie sich und setzte sich in Richtung Fluss in Bewegung. Sie lief über eine Stunde an den Promenaden entlang, bis sie eine einsame Bank fand, auf der sie sich niederließ. Sie holte tief Luft, öffnete ihre Tasche und holte den braunen Umschlag hervor. Sie las ihren Namen. Sie legte den Umschlag auf ihren Schoß. Holte ihr Zigaretten heraus, entnahm eine und ihr Feuerzeug, steckte die Zigarette an und inhalierte tief. Ihr Blick fiel auf den Umschlag. Ihr Herz schlug wie wild.
´Bringt nichts! Jetzt oder nie!!´ und sie riss den Umschlag auf. Darin war ein weißes Blatt im DIN A 4 – Format. Christine las langsam, von oben nach unten, Zeile für Zeile. Die Bedeutung der einzelnen Begriffe und Testergebnisse war ihr verschlossen. Aber sie verstand das Gesamtergebnis:
Keine Befund: HIV negativ! Wie? Negativ!!
´Negativ! Ich hab´ nicht...!!´ Christine schwindelte, sie drückte ihre Zigarette aus – und rannte los, den Brief halb zerknüllt in der Hand.
´Muss Kati anrufen...Erzählen...nichts passiert!! Bin gesund!! Oh, Gott!!´
Sie fand eine Telefonzelle, wählte Katis Nummer - was ihr vor Aufregung erst beim dritten Anlauf fehlerfrei gelang – und schrie fast ihn den Hörer als sie Kati dran hatte: “Ich bin ´s, Chrissie! Du , Du ...ich hab ´s nicht, ich meine ich hab´ mich nicht angesteckt! Es ist alles in Ordnung!. Der Test ist negativ! Ich bin so froh...“
„Gott sei Dank!“ Ach, Chrissie, ich weiß gar nicht... He, das müssen wir feiern. Heute abend? Im „Wallenstein“? Passt Dir das?“
„Ja! Ich freu´ mich!“

Kati war völlig aus dem Häuschen und plapperte ohne Unterlass. Dies war teilweise auf das Glas Sekt und die drei Weine zurückzuführen – hauptsächlich schien sie sich wohl aber für und mit Christine zu freuen. Christine hatte noch mit den Nachwirkungen ihres Rotweinexzesses zu kämpfen, weswegen allein der Gedanke selbst Alkohol zu sich zu nehmen, ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend verursachte. Deswegen begnügte sie sich mit Cola, saß still da und hörte dem Redeschwall ihrer Freundin zu.
„...echt Chrissie, ich muss es immer wieder sagen: Ich bin so gottfroh, dass alles gut gegangen ist. Ich weiß wirklich nicht, wie ich damit klargekommen wäre, wenn Dir was passiert wäre...ich meine, wenn...na, Du weißt schon!“, sagte sie wahrscheinlich zum zehnten Mal, um gleich darauf zu einem vollkommen anderen Thema zu springen. Christine genoss ihre Gesellschaft und fühlte sich recht wohl. So wohl wie schon lange nicht mehr. Sie lächelte ruhig vor sich hin, verdrehte in gespielter Empörung die Augen, wenn Kati lautstark über die anderen Gäste im „Wallenstein“ ablästerte – und war tatsächlich in ihre eigenen Gedanken vertieft.
´Irgendwie geht ´s eben weiter...Muss einen Schlussstrich ziehen, unter die ganze Sache. Wenigstens war ´s schön! Na ja...Neuanfangen...irgendwie...so schlecht ist es nicht. Kati hat ja Recht: Es gibt noch andere...und wenn gar nicht...deswegen muss man sein Leben nicht wegwerfen...Warst wohl nur ´n Traum...aber ein schöner. Nicht das schlechteste. Reiß´ Dich zusammen! Das Leben geht weiter...´
So kreisten ihre Gedanken. Christine nahm sich vor, tief durch zu atmen. Und das, was ihr ihr Leben zu bieten hatte – auch wenn es vielleicht nicht viel war – zu nehmen. Eben: Das war sicher nicht das schlechteste!
Sie lehnte sich zurück und ließ ihren Blick durch das Lokal schweifen.
´Die anderen sind auch nicht besser dran...´, dachte sie noch – und dann blieb ihr das Herz stehen! Sie hatte jemanden erspäht, den sie kannte: Es war das schöne Mädchen aus der Sauna. Sie betrat eben die Kneipe. Und sie war nicht allein: In ihrer Begleitung war ein hochgewachsener Mann – Walter!
Von Panik erfasst rempelte sie Kati, die munter vor sich hin redete, an:
„Können wir gehen? Ich meine...jetzt gleich?“
Kati gab einen Laut des Schreckens und Schmerzes von sich und sah Christine verwirrt fragend an.
„Was ist denn los? Du siehst aus, als ob Du ein Gespenst gesehen hättest?“ „Erzähl´ ich Dir nachher! Sieh´ zu, dass wir zahlen können und gehen. Ich muss hier raus, verdammt!“ Kati zuckte mit den Schultern und hielt den Kellner resolut an. Sie zahlten („“Nein!! Jetzt sofort!!“), Christine stand auf und eilte zum Ausgang. Kati hintendrein, die sich immer noch fragte, was in ihre Freundin gefahren war.
Sie schafften es nicht nach draußen. Kurz vor dem Eingangsbereich wurde Christine an die Schulter gefasst. Sie blieb stehen und drehte sich um. Direkt vor ihr stand er, Walter, ein, zwei Schritte hinter ihm das Mädchen.
„Christine....mein Gott! Ich...ich kann´ s fast nicht glauben, dass ich Dich hier...ich...ich...weiß gar nicht...hab´ Dich gesucht!“
Er ging einen Schritt auf sie zu:
„Ich hab´ Dich so entsetzlich vermisst, mein Gott!“ Christine sah ihn an, in ihren Augen glomm es. Wut! Mit leiser, eisiger Stimme sagte sie:
„Vermisst? Aha...“, sie nickte geringschätzig zu Walters Begleiterin, „das sehe ich....“vermisst“!“
Walter wich erschrocken einen Schritt zurück. Christines Augen sprühten förmlich Funken – wäre in diesem Moment eine Fliege in ihren Fokus geraten, sie wäre möglicherweise verbrannt. Walter verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln: „Aber...aber...das ist... äh...Melanie...ich meine: Es ist nicht so, wie Du denkst...“ Christines Zorn wuchs nun erst recht, sie setzte an zu schreien, vielleicht hätte sie ihn angefallen – aber kurz vor dem Ausbruch hielt sie etwas zurück. Das Mädchen, sie hieß anscheinend Melanie, war vorgetreten. Sie legte eine Hand auf Walters Arm. Ernst sah sie Christine an. Den Blick unverwandt auf Christine gerichtet, sagte sie zu Walter:
„Hau´ ab! Ich rede mit ihr!“, dabei zwinkerte sie Christine frech zu. Christine kam urplötzlich ihre flüchtige Begegnung mit der jungen Frau in den Sinn, damals...es schien schon viele Monate zurück zu liegen. Sie erinnerte sich, dass ihr das Mädchen sympathisch gewesen war, „nett“, hatte sie gedacht, damals! Auch an jenem Tage hatte sie ihr zugezwinkert – Christine hatte es seinerzeit für ein Zeichen unter Verbündeten verstanden. Und auch jetzt spürte sie eine Art von Verbundenheit zu dieser ihr kaum bekannten Frau. Langsam entkrampften sich Christines vor Wut verzerrten Züge; sie nickte und sagte:
„Okay! Okay...bin gespannt, was Du mir zu sagen hast...“
„Du wartest hier, wir gehen vor die Tür!“, sagte sie streng zu Walter. Dieser stand linkisch da.
„In Ordnung!“, murmelte er undeutlich. Kati, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, mittlerweile die Szene aber einigermaßen durchschaute, wollte sich einmischen. Das Mädchen sah sie scharf an:
„Das gilt auch für Dich! Wir haben was unter vier Augen zu besprechen! Da stört jeder andere nur!“ Kati machte ein böses Gesicht und öffnete den Mund, um etwas – sicherlich wenig freundliches – zu erwidern. Aber Christine gebot ihr Einhalt:
„Lass´! Es ist in Ordnung!“
„Wenn Du meinst...“, sagte Kati mürrisch, aber sie ließ Christine mit der jungen Frau nach draußen gehen.
Vor der Tür sagte Melanie:
„Geh ´n wir ´n paar Schritte!“ und ohne auf Antwort zu warten setzte sie sich in Bewegung. Als Christine zu ihr aufgeschlossen hatte, fing sie an zu reden:
„Klingt alles ziemlich komisch, weiß auch nicht, ob Du mir glaubst, aber trotzdem, egal! Wir haben Dich gesucht! Deswegen sind wir unterwegs, zusammen!“ Christine lauschte so gespannt wie zweifelnd.
„Also, es war so: Der Typ, Walter eben, hat jeden in der Sauna genervt, hat die Leute nach Dir gefragt und so. War ziemlich anstrengend, kannst Du mir glauben. Ließ nicht locker, wirkte irgendwie total verzweifelt oder so. Willst Du wissen, wie er Dich beschrieben hat?“ Christine wollte, sagte dennoch nichts.
„Erzählte allen, die er gesehen hat, von einer Frau, die schwarz - rote Haare hat, eine sehr weibliche Figur, ´wundervolle´ blaue Augen, wärest so ´ne Stille, ´n bisschen schüchtern....“ ´Das hat er...bisschen schüchtern ...pah!´, dachte Christine.
„Ich hab´ Dich sofort wiedererkannt, in der Beschreibung. Na ja, und wir haben uns dann unterhalten. Hab´ gemeint, dass ich Dich auch nicht kenne, aber dass ich ihm gerne suchen helfe, weil er sich hier nicht so auskennt..!“
„Ich verstehe das nicht! Warum...warum wolltest Du Walter helfen, nach mir zu suchen? Das klingt alles...“
„Komisch? Klar, weiß ich. Ich sag ´s Dir, warum: Nicht wegen dem Typen, Kerle na ja...nee...Weil ich Dich vom ersten Augenblick an mochte!“ Christine bleib stehen. „Oh Mann, schau´ nicht so! Ich stehe nicht irgendwie auf Frauen oder so! Ich fand´ Dich eben damals irgendwie klasse – kann ich auch nicht erklären! Du hast so...hm...glücklich ausgesehen, als ihr zusammen weggegangen seid, damals eben. Und Walter? Na ja...der ist komplett in Dich verschossen. Ich kenn´ mich da aus, kannst Du mir glauben. Mensch, wie der die ganze Zeit über Dich redet! Hm, kann ich verstehen. Wenn ich ´n Kerl wäre, wärst Du bestimmt auch mein Typ. Wenn Du noch mal so blöde glotzt , dann hau´ ich Dir eine runter!“ Melanie sagte dies nicht böse. Sie lächelte Christine an – und zwinkerte. Christine lächelte zaghaft zurück, gleich darauf schüttelte sie den Kopf:
„Nein! Nein...so einfach ist es das nicht...ich...es ist zuviel...passiert...!“
Melanie hob eine Augenbraue:
„Niemand hat gesagt, dass irgendwas einfach ist! Ich denke nur, dass ihr miteinander reden solltet. Ich meine, mich geht das alles echt null an...aber...hm...wenn Du es gar nicht versuchst? Geht ´s Dir dann besser?“
Christine kaute auf ihrer Unterlippe. Nach einer Gedankenpause fragte sie die Jüngere mit schüchterner Stimme:
Meinst Du...ich... weiß nicht! Trau´ mich gar nicht!“ Das Mädchen zögerte einen kurzen Moment, dann lachte sie – und nahm Christine kurzer Hand in den Arm:
„Du bist echt ´ne total süße Maus! Ach, Mensch! Der hat genauso Angst vor Dir, wie Du vor ihm. Hey, tu ´s mir zuliebe, ja? Und fang bloß nicht an zu Heulen! Ich hasse es, wenn Weiber flennen!“ Christine wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und lächelte unsicher. ´ „Süße Maus“ – na, wie blöd!! Aber lieb...´
Dann weinte Christine doch in Melanies Armen und empfand es als sehr tröstend, dass ihre neue Freundin sie festhielt.

Christine und Walter waren zum Fluss gegangen. Dort saßen sie und redeten. Lange. Erst Walter. Dann Christine. Walter fing hinten an: Dass er sich nicht an das Haus erinnern gekonnt hätte, in dem Christine wohnte; dass er nicht mal ihren Nachnamen gewusst hätte („Mainhardt!“), auch keine Telefonnummer nichts; dass er, weil es das einzige, was ihm eingefallen wäre, eben in die Therme gegangen wäre, um sie dort zu finden; dass er in Bankog festgehangen hätte, weil es Ärger mit den Behörden gab; dass er nicht sofort wieder nach Deutschland hätte kommen können („Ich lebe in London.“) und schließlich:
„...Dich zum aller ersten Mal sah, wie Du auf dieser Bank gesessen bist – da dachte ich: ´Die! Oder keine!´. Aber ich hatte danach Angst! Du warst so abweisend, als...als ich Dir sagen wollte, dass ich ...dass ich mich in Dich verliebt habe. Schon vom ersten Augenblick an. Ich dachte...fürchtete mich, Du würdest mich nicht wollen...“ Christine reagierte darauf nicht. Sie erzählte statt dessen, vom Zeitpunkt ihres damaligen Abschiedes an: Von ihrem Zusammenbruch, dass sie beinahe ernsthaft krank geworden wäre; wie Dr. Goibert („meine Seelenklempnerin...“) ihr mit freundschaftlicher Zuneigung (´Jawohl!!´) geholfen hätte; dass sie vergessen wollte, dass sie geschuftet habe, nur um vergessen zu können; von ihrer Angst, sich mit dem Virus angesteckt zu haben und der Standpauke von Kati, damals im „Wallenstein“. Christine erzählte von lange zurückliegenden Dingen, ihrer furchtbaren Zeit, nachdem sie Markus wegen einer anderen „sitzen gelassen hatte“, ihren Depressionen und ihrer Einsamkeit; vom Alleinsein – ohne Mann, sechs lange Jahre lang; von dem Gefühl, fett und hässlich zu sein und deswegen ausgelacht zu werden. Sie endete:
„Es ging mir gut, an diesem Wochenende, als wir zusammen waren. Aber ich hatte solche Angst, dass...dass Du ...mich nur abschleppen wolltest, mich eben nur für ´s Bett und so...na Du weißt schon. Weil...ich, ich bin und Du...Du jede haben könntest!“
Christine verstummte. Sie starrte geradeaus, auf das Wasser. Walter wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor:
„Kennst Du Léo Ferré? Es gibt ein berühmtes Chanson von ihm – „Avec le temps“ heißt es. Es geht in dem Lied unter anderem darum, wie es ist, am Ende des Lebens Bilanz zu ziehen. Und vor allem, wie man sich fühlt, wenn man sich an seine verpassten Gelegenheiten erinnert...“
Sie machte eine Pause.
„Ich glaube, ich würde es mir später nie verzeihen, wenn ich Dich jetzt nicht fragen würde, ob Du mit zu mir kommen möchtest...“ Walter sah sie an. ´So guckst Du nicht sehr schlau! Vielleicht hat Melanie gar nicht so unrecht...´ Er stammelte reichlich verlegen:
„Heißt das...äh...ich meine...dass Du und ich...dass wir es noch mal versuchen...“ „Nein, das meine ich nicht! Ich meine, wir könnten erst mal anfangen...“
Walter standen Tränen in den Augen (´Warum nicht mal so rum?´):
„Christine, ich...ich liebe Dich!“
Christine fiel ihm um den Hals. Er sagte:
„Du, Süße...ich verspreche Dir...ich meine wegen Aids und so...ich mach´ so bald wie möglich auch den Test...bis dahin...“
Christine schaute ihn an. Sie zwinkerte. Und machte einen Schmollmund:
„Heißt das...gar kein Sex? Nicht mal ein klitzekleines Bisschen?“ Dabei strich sie mit ihrer Zunge über sein Ohr.
„Äh...na ja...vielleicht...möglicherweise! Ach, Süße...Du...“
„Sag ´s!“
„Du Vollweib!“

Als sie Arm in Arm zu Christines Wohnung gingen, wusste sie, dass sie erst am Anfang des Weges standen – und noch viel vor ihnen lag. Aber es war ein Anfang – und nicht der schlechteste!
 
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Das ist ein Wechselbad! Zum einen ist die Geschichte über weite Strecken psychologisch nachvollziebar und sehr feinfühlig geschrieben, zum anderen verspielt sie ihre Glaubwürdigkeit (vor allem durch das Ende) wieder, da sie dermassen versöhnlich wird. Es kommt mir vor, als wenn ein britischer Autorenfilmer einen Film gedreht und Steven Spielberg für die amerikanische Fassung ein anderes Ende verlangt hat. Ich bin nicht konsequent gegen ein Happy-Ending, aber es muss glaubwürdig sein. Wenn so ein Adonis daherkommt, der nicht nur sensibel und intelligent ist, sondern auch noch die goldene Phalluslänge hat, muss ich mich in einem Märchen für Erwachsene wähnen. Dafür aber ist die Geschichte dann doch wieder zu stark dem Realismus verpflichtet.
Schön ist, wie Du einen Menschen aus der Masse von 7 Milliarden Menschen, die dem Schönheitsideal nicht entsprechen, greifst und aufzeigst, was übrigens überhaupt nicht denunzierend wirkt, wie dieser Mensch nach eben jenem Schönheitsideal strebt, ob am eigenen Körper oder in Form eines Lebenspartners!

Gruss


Ingo Gärtner (09.08.2004)

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