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11 Seiten

Schattenmacht - Das letzte Licht -1-

Romane/Serien · Fantastisches
"Es wird sein, dass der Lichtträger nach einer Zeit niedergeworfen werden wird und tief in der Hölle zu deren Herr erklärt wird. Und er wird gefangen sein dort, auch als Sklave der Hölle, für jeweils hundert Jahre lang, um erneut dann von den Engeln niedergeworfen werden. Und der Allmächtige wird ihn härter als alle bestrafen für seinen Ungehorsam. Er wird bestimmen, das kein Wesen dieser Welt ihn mehr berühren kann, ohne dass der Gefallene dabei große Schmerzen leidet. Und alle Schuld, die die Menschen ihm anlasten wollen, soll ihm aufgebürdet werden und ihm Qual bereiten.
Und seine Schwesterseele soll dazu verdammt sein, die verdorbenen Seelen zur Hölle zu tragen und ihm damit noch mehr Qual bereiten. Und keiner von beiden wird jemals wieder die Sonne aufgehen sehen."

-- Buch der Prophezeiungen, Lucifers Verdammung --

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Der wahre Feind zeigt sich



New York --- Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts


Ich stehe hoch oben, auf einem dieser himmelhohen Gebäude und blicke furchtlos in die Tiefe hinunter. Es regnet und mein dunkler Umhang mit der großzügigen Kapuze ist mittlerweile schwer von Feuchtigkeit. Bald nachdem ich aus der Welt genommen wurde, hatte ich mir diesen Umhang angeeignet. Jemand hatte ihn in einem Park vergessen und mir kam er gerade recht.
Auch wenn ich von der Zeit unberührt bleibe und weder Hunger, noch Durst verspüre. Auch wenn ich Kälte oder Hitze nur noch wahrnehme, wenn ich mich darauf konzentriere, so gibt es in der Welt immer noch Dinge, die mich berühren können. Regen gehört dazu. Es ist nicht gerade angenehm in nassen Kleidern herumzuwandern, auch wenn ich nicht mehr krank werden kann. Von daher habe ich mir diesen vergessenen Umhang genommen, als ich ihn entdeckte.

Es ist schon seltsam. Einerseits bestehe ich außerhalb der Welt, andererseits aber bin ich auch irgendwie in ihr. Nun man könnte es am besten so erklären, das ich nicht mehr länger in der Welt der lebendigen Menschen verweile. Ich brauchte damals einige Zeit um mich an diese seltsame Existenz zu gewöhnen, aber mittlerweile ist es ganz normal für mich. Ich vermisse auch kaum etwas aus dem Leben, außer vielleicht ab und an mal jemanden zum reden. Aber auch das ist nicht weiter tragisch.
Einsamkeit hat mir noch nie etwas ausgemacht. Aber ob ich mich an diese modernen Erfindungen, wie etwa Automobile und Hochhäuser, gewöhnen werde können, das weiß ich nicht. Die Welt ist um so vieles schneller und schnelllebiger geworden. Da kann man sich als solch ein zeitloses Wesen, wie ich es mittlerweile bin, schon manchmal seltsam vorkommen.
Ich trete einen weiteren kleinen Schritt zum Rand des Hochhausdaches und blicke neugierig hinab. So viel Licht und das mitten in der Nacht. Es versetzt mich immer noch in erstaunen und ich frage mich, wie ein Mensch in solch einer Umgebung überhaupt zur Ruhe kommen kann. Sie ist so laut geworden, diese Welt und so schrill und hektisch. Ich frage mich, wie es wohl in weiteren hundert Jahren aussehen würde. Ein leises Seufzen löst sich von meinen Lippen. Langsam habe ich es satt, hier oben auf den Engel, der mich hier her brachte, zu warten.
Vor wenigen Stunden war dieser Engel, Uriel, in dem kleinen Dorf, in dem ich mich derzeit aufhielt aufgetaucht. Ich war etwas erstaunt ihn so bald wieder zu sehen. Er bat mich ihn zu begleiten, er wolle mir etwas zeigen, aus dem er selbst nicht so ganz schlau würde, aber ich würde es vielleicht. Neugierig geworden lies ich zu, das er mich hochhob. Nur zögernd schlang er seine starken Arme um mich, gerade so als befürchte er, das er dafür bestraft werde.
Aber nachdem ich meine Arme fest um seinen Hals gelegt hatte und er mich sicher in seinen Armen wusste, schwang sich der Engel mit mir in die Lüfte empor.
Ein Lächeln gleitet über mein Gesicht. Der Flug mit Uriel war sehr aufregend gewesen. Es war das erste mal, das ich flog und ich genoss es sehr.

Engel sind seltsame Wesen, finde ich. Sie können von einem Moment zum anderen verschwinden und sie können aber auch fliegen. Den Menschen, jedenfalls den lebenden, erscheinen sie als normale Mitmenschen und ihre Schwingen sind für sie unsichtbar. Wenn sie sich aber in die Lüfte erheben, oder es einfach nur wollen, dann verschwinden sie ganz aus der Wahrnehmung der Menschen.
Ähnlich verhält es sich mit den Dämonen, von denen manche Flügel besitzen und manche eben nicht. Auch sie können mit nur einem Gedanken den Ort wechseln, wenn sie das möchten.
Auch ich kann mich auf diese ganz besondere Weise fortbewegen und gelange so von Ort zu Ort. Ich weiß nicht ob ich diesen Schritt zwischen Hier und Dort so mache, wie es die Engel tun, oder doch eher wie die Dämonen, oder ob es schlussendlich sowieso ein und das selbe ist. Ich jedenfalls muss den Ort kennen, an den ich hingehen möchte. Oder es muss dort eine starke emotionale Resonanz geben, damit ich hinfinde. So finde ich auch immer wieder den Gefallenen, denn ich kann Seine starke Sehnsucht spüren, sobald er diese Welt betritt.

Ich lasse meinen Blick schweifen und sehe dann wieder in die Tiefe vor mir. Ein neuerliches Seufzen schleicht sich über meine Lippen. Langsam habe ich diese Warterei wirklich satt.
Nachdem ich also mit Uriel geflogen bin, setzte mich der Engel, mit der Entschuldigung, er müsse noch etwas erledigen, auf diesem Dach ab. Dann tauchte er im Sturzflug zwischen die Häuserschluchten hinab und ich blieb zurück. Und nun stehe ich hier, im Regen, auf dem Dach eines Hochhauses, in einer gigantischen, lärmenden, kalten, grauen Stadt, in der ich noch niemals war, und warte.
Ich runzle die Stirn leicht und beschließe noch genau bis zur vollen Stunde zu warten. Wenn Uriel bis dahin nicht wieder auftaucht, dann würde ich diesen Engel suchen gehen. Eine weitere, große Lärmquelle ganz in der Nähe lässt mich zusammenschrecken. Dann sehe ich eine große Flugmaschine, die entfernt an eine Libelle erinnert. Das Ding fliegt in einem recht geringen Abstand an mir vorbei und hält dann auf ein großes Gebäude zu. Irritiert sehe ich dem Hubschrauber nach. Ich hatte gehört, das es diese Dinger gab, aber bisher habe ich sie nur von weitem gesehen.
Die Kirchturmglocke läutet leise, ich kann sie hören. Die volle Stunde ist angebrochen und Uriel noch immer nicht zurückgekehrt. Nun denn, dann würde ich diesen Engel also suchen gehen. Mein Blick schweift noch einmal in die Tiefe vor mir, dann trete ich mit einem Schulterzucken in die leere Luft hinein und beginne sanft dem Erdboden entgegen zu schweben. Levitation ist eine weitere meiner Fähigkeiten, die mir verliehen wurde, nachdem ich aus der Welt genommen wurde. Vielleicht hatte ich sie auch schon davor und nur keine Ahnung davon. Das weiß ich nicht. Allerdings ist die Fähigkeit, wie ich zugeben muss, sehr, sehr praktisch.

Minuten später setze ich sanft auf dem Asphalt auf und blicke mich um. Fast sofort muss ich einem Lebenden ausweichen, der beinnahe mit mir zusammenstößt.
Er würde nicht wirklich mit mir zusammenstoßen, sondern durch mich hindurch laufen, aber das Gefühl dabei ist für mich alles andere als angenehm und die Lebenden fühlen sich auch unbehaglich dabei. Jetzt fällt mir auch wieder ein, warum ich moderne Städte nicht sonderlich mag. Die himmelhohen Gebäude, die Straßen aus Stein und Asphalt, die schlechte Luft, all die harten, rechtwinkligen Kanten und kaum ein Fleckchen Natur. Obwohl es so viel Leben hier gibt und die Lichter so bunt sind und hell, wirkt meine Umgebung tot und grau auf mich.
Irgendwie fühlen sich alle großen Städte so an, finde ich. Nämlich tot und grau und der Regen heute macht es auch nicht besser. Nicht zum ersten mal in der letzten Stunde frage ich mich, warum Uriel mich heute hier her gebracht hat. Entschlossen drehe ich mich einmal ganz um mich selbst und versuche eine mentale Spur des Engels zu finden. Aus einer Seitenstraße, ein gutes Stück weiter, bekomme ich eine starke Resonanz. Also hebe ich meinen Rock ein wenig, damit er nicht in den Pfützen schleift und beginne mit festen Schritten darauf zu zulaufen. Am Rande bemerke ich, das die Straßen sich bereits geleert haben und nur noch vereinzelte Menschen im Regen nach Hause hasten. Es ist mir ganz recht so, denn so muss ich nicht allzu vielen Lebenden ausweichen.
Als ich die Seitenstraße endlich erreiche, muss ich aber dann doch einen großen Schritt zur Seite machen, denn vier Jugendliche kommen eilig daraus hervor. Irgendetwas muss sie wohl erschreckt haben, das verraten mir ihre nervösen Gesichtsausdrücke. Einer der jungen Männer hat eine seltsame Ausstrahlung, fällt mir auf und ich schärfe meinen Blick, während ich ihm hinterher sehe. Tatsächlich formt sich aus dem Schatten um ihn herum eine dunkle Präsenz, die mich erschrocken anstarrt. Es ist kein Dämon, viel eher ein dunkler Geist. Aber auch sie fürchten mich ein wenig, zumindest scheine ich sie zu erschrecken.

Gedankenverloren wende ich mich nun endlich um und entdecke, das mich meine Sinne nicht im Stich gelassen haben. Ein gutes Stück die Nebenstraße hinab steht Uriel bei einem anderen, weiblichen Engel, mit schneeweißen Flügeln. Viel mehr kann ich nicht erkennen, da sie selbst einen Mantel mit Kapuze trägt. Entschlossen laufe ich nun in seine Richtung und räuspere mich laut. "Uriel, hättest du nun endlich bitte die Güte und würdest mir sagen warum du mich quer durch die halbe Welt geschleppt und dann auf diesem Dach hast stehen lassen?" Der Todesengel zuckt zusammen und starrt mich einige Augenblicke irritiert an. "Oh entschuldige," meint er, nachdem er seine Stimme wieder gefunden hat, "es hat etwas länger gedauert, als ich dachte. Bitte verzeih mir." Mittlerweile habe ich die beiden erreicht und ziehe nur eine Augenbraue in die Höhe.
Der andere Engel hat sich umgedreht und sieht mich nun mit großen Augen an. Nun muss ich doch lächeln. Meine Kleidung passt nun wirklich nicht mehr in dieses Jahrhundert.
"Sei mir gegrüßt," spreche ich diejenige mit den weißen Schwingen an, "ich weiß nicht, wie ich mich dir ohne Namen vorstellen soll. Aber ich glaube mittlerweile nennen mich alle Wesenheiten, die zwischen die Welten treten können, nur noch Hoffnung."
Die andere Frau ergreift meine ausgestreckte Hand und wirkt etwas verwirrt. Dann jedoch weiten sich ihre Augen und sie sieht mich ungläubig an.
"Du meine Güte, du bist SIE, " stößt der Engel atemlos hervor, "du bist das letzte Licht, SEINE Hoffnung!"

Mein Lächeln wird kurz breiter, während ich dem überraschten Engel vorsichtig meine Hand wieder entwinde. Engel haben eine erstaunliche Kraft und die Überraschung lässt die Frau vor mir vergessen, dass ich kein Engel bin.
"Ja," antworte ich, "genau so ist es. Ich bin das letzte Licht."
Aufmerksam mustere ich mein Gegenüber. Schlank ist sie mit einem jung erscheinendem, sehr weiblichen und fein gezeichneten Gesicht. Große, intensivgrüne Augen, die irgendwie ein wenig in die Ferne blicken und in deren Tiefe sich Traurigkeit und Müdigkeit eingenistet haben.
Alte Augen in einem jungen Gesicht! Augen, die schon viel zu viel gesehen haben! Wenn ich in einen Spiegel sehe, erblicke ich ähnliches in meinen eigenen Augen.
Aber besonders faszinieren mich die Haare des Engels, die lang sind und dunkelrot. Ich kenne nur einen einzigen anderen Engel, der solch rotes Haar besitzt und ihres ist nur einen Ton heller als seines. Mein Blick verliert seine Intensität und mein Lächeln seine Fröhlichkeit, dafür wird es sanfter. Jetzt weiß ich, wen ich vor mir habe.
"Du gehörst zu Ihm! Du bist SEIN Engel,seine Schwester, nicht wahr?"
Meine Stimme ist leise und klingt weich. Eigentlich habe ich nur aus Höfflichkeit gefragt, denn ich weiß es bereits. Die Frau mir gegenüber sieht mich nur stumm an und nickt dann schließlich. Plötzlich huscht ein kleines, schräges Lächeln über ihr Gesicht.
"Und ich dachte mich könnte nichts mehr überraschen."
Ihre Stimme klingt nun eindeutig amüsiert und ich beschließe, das ich ihr Lächeln sehr mag.
Ich werfe Uriel einen kurzen Blick zu und muss keine Gedanken lesen können um seine zu erraten. Der Todesengel mit den grauen Schwingen blickt zwischen mir und ihr hin und her. Ganz offensichtlich ist er sich nicht sicher, ob es so gut ist, dass Lucifers Hoffnung ausgerechnet Lucifers Engel begegnet ist. Ich muss ein Lachen unterdrücken und der Frau mir gegenüber, die meinem Blick gefolgt ist, ergeht es ganz ähnlich.

Während unsere Blicke auf dem Engel ruhen scheint sich dieser plötzlich unbehaglich zu fühlen. Schließlich beschließe ich, ihn zu als erste von unserem Blick zu erlösen und wende mich wieder der anderen Frau zu.
" Entschuldige bitte," sage ich freundlich, "aber ich habe ja noch gar nicht nach deinem Namen gefragt." Der Engel mit den roten Haaren und diesen wunderschönen grünen Augen wird plötzlich ernst und bedenkt mich mit einem sehr seltsamen Blick, der in mir unwillkürlich die Frage aufwirft, ob überhaupt schon einmal jemand nach ihrem Namen gefragt hat. War es jemals jemanden wichtig ihn zu erfahren, oder hatten sie alle immer nur viel zu große Angst vor ihr, der Schwester des Gefallenen?
In den nunmehr Dreihundert Jahren, die ich nun schon über diese Welt wandle, habe ich genug Geschichten über Lucifers Engel gehört, um mir solche Fragen zu stellen. Außerdem kann ich neben der müden Traurigkeit in ihren Augen auch eine kalte Härte sehen. Dieser Ausdruck lässt mich nicht daran zweifeln, dass die Kernaussagen dieser Geschichten der Wahrheit entsprechen.
Es kümmert mich wenig. So wie ich die Seelen der Toten, die meinen Trost brauchen finde, so findet sie die von dunkler Bösartigkeit verdorbenen Seelen um Gerechtigkeit zu üben. Obwohl sie genauso gefallen ist, wie Er, so ist sie dennoch ehrlicher in ihrem Sein, als so manch anderer, der noch immer unter der Gnade des Schöpfergottes existiert. Außerdem mag ich sie.
Ein Lächeln wischt den ernsten Ausdruck von ihrem Gesicht und im Gegensatz zu den Gefühlsregungen, die ich bisher in ihrem Gesicht gesehen habe, ist diese Lächeln nicht beherrscht und in seiner Sanftheit wunderschön.
"Shanael," antwortet sie mir endlich, "mein Name ist Shanael Abendstern."
Es freut mich zu sehen, das es immer noch etwas sanftes und freundliches in ihrem Wesen gibt.
"Es ist schön dich kennen zu lernen, Shanael."
Auf dem Gesicht des Engels erscheint ein eindeutig amüsierter Ausdruck, doch schon wieder hat sich ihre Maske der Beherrschung davor geschoben. Es ist egal, mittlerweile kann ich durch fast jede Maske blicken.
Grinsend drehe ich mich wieder zu Uriel um, der uns beide immer noch misstrauisch mustert.
"Also," meine ich zu ihm, "du wolltest mir doch etwas zeigen, Uriel. Oder etwa nicht?"
Uriel blinzelt, aufgrund meines plötzlichen Themenwechsels, irritiert und schüttelt dann kurz den Kopf, gerade so, als wolle er Spinnweben daraus vertreiben.
"Ja... natürlich. Also komm schon, hier entlang."
Er geht einige Schritte und blickt zu mir zurück.
Shanael sieht mich neugierig an.
" Uriel will dir etwas zeigen?"
"Ja," antworte ich," er sagt mir aber nicht was. Er meint nur, er selbst würde nicht so richtig schlau daraus, aber ich würde es vielleicht."
Die Frau sieht mich leicht überrascht an, blickt zu Uriel und dann wieder zu mir.
"Also das will ich auch sehen!"
Shanaels Worte lassen den Mann herumschnellen.
"Hast du hier nichts zu tun?"
Meine Augen verengen sich leicht. Habe ich da gerade so etwas wie Panik in Uriels Stimme vernommen? Die Frau neben mir grinst ihm ins Gesicht.
"Doch schon, aber das kann auch noch etwas warten."
Uriel wirft hilflos die Hände in die Luft.
"Bitte," meint er, während er sich umdreht, "dann kommt ihr eben beide mit."
Entschlossen stapft der Engel voran und wir beide müssen uns beeilen, um ihn einzuholen.
"Oh Gott," murmelt er leise vor sich hin, "was habe ich jetzt wieder angestellt?"
Uriel hat wohl vergessen, das übernatürliche Wesen, wie wir es sind, auch ein wesentlich schärferes Gehör besitzen. Ich zumindest kann sein Gemurmel gut verstehen und ein Blick zur Seite zeigt mir, dass es auch Shanael so ergeht. Diskret verkneifen wir uns beide einen Kommentar, grinsen uns aber wissend zu.
Obwohl wir beide schon viel gesehen haben und meist eigentlich sehr ernst sind, benehmen wir uns im Moment wie zwei junge Mädchen, die ihren großen Bruder aus reinem Übermut und sehr erfolgreich zur Weißglut getrieben haben. Erfreut sehe ich das die müde Traurigkeit ein wenig aus Shanaels Augen gewichen ist. Uriel wirft uns einen scharfen Blick über die Schulter zu, sagt aber nichts. Stattdessen blickt er wieder kopfschüttelnd nach vorne. Das lässt mich wiederum fast laut lachen. Es bereitet mir eine geradezu diebische Freude Uriel etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen und wenn ich das beinnahe verborgene Glitzern in Shanaels Augen richtig deute, dann ihr ebenso. Schließlich schließen wir dann doch zu dem Engel, mit den grauen Schwingen, auf und laufen einige Zeit neben ihm her. Endlich wird er langsamer.
“Wir sind gleich da,” meint er leise, “der Ort war heute Nachmittag schon seltsam. Irgendwie dunkler als er sein sollte.”
Ich bekomme plötzlich kaum mehr Luft. Fremde Emotionen überschwemmen meinen Geist. Ich empfange Schmerzen und Qual und Leid und Angst! So schrecklich viel Angst und Leid!
Ich erstarre regelrecht und sehe meine Umgebung nicht mehr, so blendend ist der fremde Schmerz und diese grauenhafte Angst von vielen unschuldigen Geschöpfen. Ich nehme undeutlich wahr, wie sich Uriel zu mir umdreht und dann kann ich seine erschrockene Stimme hören, verstehe aber nicht was er da ruft. Mühsam verschließe ich meinen Geist vor den fremden Emotionen, so gut es eben geht und hebe die Hand um Uriel zum Schweigen zu bringen. Dann schiebe ich ihn beiseite und laufe mit langen Schritten die schmale Gasse entlang. Am Rand des beinnahe rundem Platzes, der am Ende der Gasse liegt bleibe ich starr stehen. Ich betrete diesen Ort nicht, ich kann ihn nicht betreten!
Es ist etwas verzerrtes, etwas völlig Falsches dort!

In der Mitte befindet sich ein großer, ebenfalls runder Brunnen. An einem sonnigen Nachmittag oder in lauen Sommernächten mochte es ein sehr schöner Ort sein, doch jetzt ist er zu einer Bühne für das nackte Grauen geworden. Überall, aber besonders um den Brunnen herum, liegen zuckende Körper. Es sind viele Vögel, aber auch Hunde, Katzen, einige Waschbären, etwas, das wohl einmal ein Fuchs gewesen war und noch einige Körper, die ich nicht mehr identifizieren kann. Und mitten unter all diesen gequälten Tieren befinden sich auch mindestens fünf Menschen. Kaum eines der Wesen ist noch als das zu erkennen, das es einmal war. Ihre Glieder sind verrenkt und schrecklich verzerrt. Ihre Augen, Münder, Mäuler und Schnäbel in stummer, grauenhafter Qual aufgerissen und sie alle leben noch und leiden schreckliche Qualen! In jedem der gemarterten Kreaturen sind mehrere fingerdicke, glänzend schwarze Tentakel verankert und führen zur Mitte des Platzes, zum Brunnen. Dort thront das wirkliche Grauen. Ein scheußliches, aufgeblasenes, schwarzes Ding, das beinnahe wie die obszöne Nachahmung einer riesenhaften Qualle aussieht und dessen gallertartiger Körper pulsiert. Jedes Mal wenn sich dieses schreckliche Ding ausdehnt schickt es eine Schmerzwelle durch die gefangen Körper, scheint sie regelrecht auszusaugen. Rund um dieses Wesen, oder was auch immer es auch ist, wabert dicker, schwarzer Nebel. Das alles fühlt sich schrecklich falsch und verzerrt an!

Ich taumle etwas zurück und stoße gegen Uriel. Dicht neben mir steht Shanael und starrt mit blassen Gesicht auf den Platz hinaus. Ich habe gar nicht bemerkt, wie die beiden Engel hinter mich getreten sind. Uriel schlingt seinen rechten Arm um mich, ich wende ihm kurz meinen Blick zu und sehe, dass er ebenso blass ist, wie Shanael.
“Uriel bitte,” meine Stimme klingt mir in den eignen Ohren schrill,” bitte, du bist doch der Todesengel. Bitte töte sie, ja. Erlöse sie, sie leiden so schrecklich.”
Erst jetzt bemerke ich, dass mir heiße Tränen über die Wangen laufen. Uriel nickt nur, zieht mich noch etwas enger an sich und hebt die linke Hand dem Platz entgegen. Sekunden später erschlafft ein gequälter Körper, nach dem anderen mit einem erleichtert klingendem Seufzer. Die Seelen und Geister der geschändeten Kreaturen entfliehen diesem Ort so schnell, so dass man sie kaum wahrnehmen kann. Das Ding in der Mitte des Brunnens beginnt zu schreien und zu kreischen, lauter und immer lauter.
Uriel, der mich immer noch umschlungen hält, wendet sich Shanael zu.
“Du kannst doch einen Feuersturm entfachen, der heißer ist als jedes Feuer dieser Welt, oder?” Die Frau nickt grimmig, ohne ihn anzusehen.
“Glaubst du, du kannst dieses Scheusal verbrennen.”
Uriels Stimme ist seltsam tonlos.
Nun sieht Shanael den Engel doch an und in ihren grünen Augen lodert ein heißes, wütendes Feuer.
“Worauf du Gift nehmen kannst, Uriel.” Ihre Stimme klingt tiefer, hallender und grimmig.
Sie wendet sich wieder dem Platz zu und hebt langsam beide Hände dem Ding in dessen Mitte entgegen. Mit einem gewaltigen Schrei lässt sie den Feuersturm los und die Flammen umhüllen das schwarze Scheusal, dessen Kreischen sich noch mehr steigert. Aber durch all den Lärm, dem Kreischen des Dinges auf dem Platz und dem tosenden Geräusch der Flammen, hallt wie eine Fanfare der wütende Schrei von Lucifers Engel.

Sie hört erst auf, nachdem alles auf dem Platz zu Asche verbrannt und die Steine, der Asphalt und der Brunnen regelrecht geschmolzen sind. Erleichtert spüre ich wie sich die seltsame Verzerrung auflöst und überrascht bemerke ich, wie mir meine Beine den Dienst versagen. Uriel fängt mich auf bevor ich zu Boden falle und hebt mich so leicht hoch, als wiege ich nicht mehr als eine Feder. Am Rande meines Blickfeldes wirbelt Schwärze heran und kurzzeitig verschwimmt mir die Sicht.
Oh nein, ich würde doch jetzt nicht etwa ohnmächtig werden? Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen und wollte jetzt ganz gewiss nicht damit anfangen!
Einen Augenblick später habe ich mich wieder gefangen und protestiere leise dagegen, dass mich der Engel bis zur nächsten Bank trägt. Natürlich hört er nicht auf mich und setzt mich dort angekommen sanft ab. Dann lässt er sich schwer, rechts neben mir, auf die Bank sinken. Shanael setzt sich an meiner anderen Seite nieder. Ich bemerke, das ihre Hände zittern. Ob aus Wut, Anstrengung oder Entsetzen kann ich nicht feststellen. Überhaupt kann ich im Moment keinerlei Emotionen wahrnehmen und bin auf dieser Ebene regelrecht blind. Ich besinne mich kurz und stelle erleichtert fest, dass ich nur rein instinktiv alle meine geistigen Barrieren fest verschlossen habe. Vorsichtig löse ich einen Teil davon auf und bemerke, das Shanael ganze Arbeit geleistet hat. Nicht ein Hauch dessen, was dort auf dem Platz gewütet hat, ist zurückgeblieben. Eine Zeitlang sitzen wir drei schweigend auf der Bank, dann sieht die Frau mich und Uriel lange an.
“Ich habe viele Schrecken der Hölle gesehen,” ihre Stimme klingt brüchig,” aber nichts, wirklich nichts davon war so grauenhaft wie das, was ich dort eben auf dem Platz gesehen habe.” Sie erhebt sich etwas steif. “Ich muss noch eine Seele holen und ich sollte es tun, bevor ich zu müde dazu bin.” Sie zögert kurz. “Glaubt ihr, wir könnten uns morgen Nacht noch einmal treffen?”
Ich nicke. “Ja ich denke, das ist keine schlechte Idee. Uriel?”
Ich werfe dem Engel einen Blick zu und zu meinem Erstaunen nicht er nur stumm. Ich sehe wieder Shanael an.
“Kennst du den alten Friedhof von Bonn?” Sie nickt. “Dann treffen wir uns morgen Nacht dort.”
Sie stimmt leise zu. Ihre Stimme klingt immer noch seltsam und ich sehe sie lange an.
Tief in ihren Augen lodert immer noch ein wenig des Feuers, das sie entfacht hat und ich verstehe.
“Bis morgen.” Shanael nickt kurz, dann geht sie den Schritt zwischen Hier und Dort und ist verschwunden.

“Es tut mir leid,” meint der Engel an meiner Seite plötzlich sehr leise,” als ich heute am Spätnachmittag hier war, da war dieser Ort nur um einiges dunkler, als er sein sollte. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum das so war. Deshalb wollte ich dir auch diesen Ort zeigen.”
Ich versuche Blickkontakt zu dem Mann herzustellen, aber er wendet mir seine Augen nicht zu.
“Uriel, das verstehe ich immer noch nicht so ganz. Was hätte ich anderes wahrnehmen können, als du?”
Jetzt endlich sieht mich der Engel an.
“Weil du mehr siehst als jedes andere übernatürliche Wesen. Du siehst und nimmst mehr wahr als jeder Engel oder Dämon oder Geist.”
Das ist mir neu! Meine Verblüffung muss sich ziemlich deutlich auf meinem Gesicht abzeichnen, denn plötzlich fängt Uriel an zu lachen. Ich runzle empört die Stirn, was ihn nur umso mehr lachen lässt. Schließlich beruhigt er sich, steht langsam auf und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Froh sehe ich, dass sein vertrautes, sanftes Lächeln den Weg zurück auf seine Lippen gefunden hat.
“Glaub mir Hoffnung, wenn Michael herausfindet, dass ich dir das gesagt habe, dann wird er mir jede Feder einzeln ausreißen.”
Das Bild, das sich auf diese Bemerkung hin in meinen Gedanken formt bringt mich kurz zum kichern. Seite an Seite mit dem Todesengel verlasse ich New York und frage mich dabei, wann ich wohl das letzte mal so schrecklich müde war.
 
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Kommentare  

Huhu Jochen,
nun bin ich schon ganz gespannt auf deine weiteren Kommentare, ich seh ja, dass du jeden Teil kommentiert hast und lass es mir nicht nehmen auf jeden Komment zu antworten;)
Es freut mich, dass dir auch der erste Teil gefällt und ja, sie versteht sich gut mit Uriel...


Tis-Anariel (19.04.2010)

Nun hat dein Menschgeisterwesen Luzifers Schwester kennen gelernt und mir scheint so als würde sie sich auch nicht schlecht mit Uriel dem Todesengel verstehen. Ein gefährliches Schattenwesen konnte vernichtet werden, aber die Gefahr ist damit wohl noch lange nicht gebannt. Werde darum gleich das nächste Kapitel lesen.

Jochen (17.04.2010)

Ich kenne sie ja soweit schon, deine fantastische Geschichte, aber ich lese sie immer wieder unglaublich gerne (nur fehlt mir leider seit einigen Moanten oftmals die Zeit dazu, bin nämlich Mama geworden :-)).
Mensch, du hast so großes Talent - veröffentliche dieses Buch doch mal, oder schicke es zu einem Verlag!!!!!! Ich bin mir gaaanz sicher, dass dies ein Bestseller werden könnte!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

LG und bis bald
Lilly


Lilly (09.04.2010)

Huhu Jingizu,

na das freut mich ja,dass ich dich wirklich überraschen konnte.

Liebe grüße an dich


Tis-Anariel (05.04.2010)

Engel, Dämonen, die Jahrtausendwende und eine Hoffnung mittendrin - du hast Recht behalten und hast mich wieder überrascht mit diesem Kapitel.

Jingizu (05.04.2010)

Und schon habe ich die beiden Stellen gefunden, an dennen ich die Verwandschaft klarstellen kann.....freu...

Tis-Anariel (04.04.2010)

Huhu Doska,

schön, dass es dir auch weiter zu gefallen scheint..
Zwei Misßverständnisse hab ich zu klären.

ERstens braucht Hoffnung keine Engel um von Ort zu Ort zu kommen, steht da recht schön:"...können mit nur einem Gedanken den Ort wechseln, wenn sie das möchten.
Auch ich kann mich auf diese ganz besondere Weise fortbewegen und gelange so von Ort zu Ort. Ich weiß nicht ob ich diesen Schritt zwischen Hier und Dort so mache,..."

Und Shanael ist nicht seine Freundin, aber das müsste sich im nächsten Teil klären.
Ich sollte vielleicht auch schon in dem die Verhältnisse klarstellen?

Danke dir für deinen Blickwinkel...das kann man wirklich mißverstehen.

Liebe Grüße


Tis-Anariel (04.04.2010)

Aha, jetzt erfährt der Leser, dass das Lichtwesen mit Namen Hoffnung mehr Dinge sehen kann als jeder Engel. Es kann wohl auch sein Zuhause verlassen und mit Unterstützung eines Engels von Ort zu Ort reisen. Es hat nun Lucifers Freundin kennen gelernt. Deine fantastische Welt ist wirklich sehr interessant und darum werde ich bestimmt weiterlesen.

doska (04.04.2010)

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