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Der arme Wurm

Schauriges · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
Ich war gerade beim Entsteinen der Früchte für einen saftigen Zwetschgenkuchen. Die Zwetschgen waren prall, dunkelblau glänzend mit leichtem rötlichen Schimmer auf der Seite, mit der die Frucht am Baum im Schatten gehangen hatte, und einem samtig graublauem Belag auf der glatten Haut. Routiniert stach ich mit einem Messer hinein, durchtrennte das Fruchtfleisch und entfernte den Stein darin. Ihr Saft rann an meinen Fingern entlang und gelegentlich leckte ich ihn genüsslich von meiner Hand.

Ohne Willen, ich schwöre, ganz aus Versehen, verletzte ich dabei einen Wurm, der sich in einer der Zwetschgen häuslich niedergelassen und den ich nicht rechtzeitig entdeckt hatte, und schnitt ihn fast entzwei.

Oh Gott! Ich hatte den Wurm verletzt! Ich sah, er krümmte sich in Schmerzen. Hätte ich feinere Ohren gehabt, hätte ich sein Wehgeschrei hören können. Ich sah, dass er blutete. Weißes Blut trat aus seiner Wunde. Ich war nicht achtsam genug gewesen. Warum nur war ich nicht achtsam genug gewesen? Ich hatte das kleine Loch in der Zwetschge nicht wahrgenommen. Erste Hilfe zu leisten, war mir nicht möglich. Meine Finger waren zu klobig. Fahrig suchte ich nach einer Pinzette, um ihn nach Möglichkeit zu verbinden, suchte im Nähkasten meiner Frau nach einem geeigneten Leinenbändchen, wählte aber dann doch die Notrufnummer, denn ich sah ein, dass ich hier nicht helfen könne. Mit Sirenengeheul kam der Krankenwagen und man legte den armen Wurm auf eine Trage. Doch der Notarzt sagte, für Würmer in Zwetschgen sei er nicht zuständig. Ich solle den Tierarzt anrufen oder den Zoo. Also klappte ich die halb durchgeschnittene Zwetschge mit dem Wurm darin wieder zu, packte sie in einen Plastikbeutel und brachte sie mit meinem Auto in aberwitzigem Tempo in den Zoo. Dort klingelte ich den Direktor aus dem Mittagsschlaf und erklärte ihm den Notfall. Ich übergab ihm das arme Würmchen und er versprach zu helfen. Halb wahnsinnig vor Sorge lief ich die Gänge auf und ab, ohne die Tiere in den Käfigen auch nur eines Blickes zu würdigen, fragte die Zoowärter, wie es dem Wurm gehe, was ich tun könne, ob er sterben müsse, doch man konnte mich beruhigen. Sie hatten ihm eine Extraportion Zwetschgensaft mit einem Schmerzmittel darin und einem winzigen Tropfen Antibiotikum verabreicht und nun hatte er gute Chancen, die Attacke zu überleben. Erleichtert, ja geradezu zärtlich nahm ich das Würmchen in der Zwetschge wieder entgegen. Ich würde also nicht zum Mörder werden. Ich konnte aufatmen. In mir begann die Sonne wieder zu leuchten.

Zuhause erinnerte ich mich an ein altes Aquarium, das holte ich aus dem Keller, stattete es mit grünen Blättern aus, sorgte dafür, dass es immer die nötige Feuchte erhielt und machte es dem Würmchen so angenehm wie möglich. Es war mir eine wirkliche Freude zu sehen, wie der Wurm gesundete und groß und fett wurde. Ich war dem Schicksal ja soo dankbar.

Doch allmählich wurde der Bursche nicht nur groß und fett, sondern auch anspruchsvoll. Er wünschte sich in der Sonne zu liegen, und zwar in einem extra für ihn angefertigten pinkfarbenen Liegestuhl. Dann verlangte er eine Sonnenbrille und eine Krawatte, aber bitte vom Feinsten! Und Sonnenschutzcreme mit dem höchsten Lichtschutzfaktor. Und einen MP3-Player mit extra für ihn aufgenommenen Vogelkonzerten. Schließlich sei er ein Wurm mit Bildung und ich stünde in seiner Schuld, erklärte er. Ich hätte ihn ja fast umgebracht. Seine Ansprüche seien also sein gutes Recht, Schmerzensgeld sozusagen. Auch verlangte er eine richtige, saftige Zwetschgentorte, in der er mit einer schönen, fetten Würmin einen Hausstand gründen und seine künftigen Kinder großziehen könne. Aber angegoren müsse sie sein. Denn dann schmecke die Torte am besten, alkoholisch nämlich. Zwetschgenwasser sozusagen.

Mit der Zeit wurden mir seine Ansprüche wirklich zu hoch. Ich fand, er wurde unverschämt. Da nahm ich ihn aus dem Aquarium, packte ihn mit ein paar Blättern in ein großes Schraubglas, ging damit hinaus ins Grüne und setzte ihn unter einen wilden Zwetschgenbaum. Dort kann er es sich jetzt gut gehen lassen, Vogelkonzerte hören so viel er will und eine Familie gründen – sofern nicht eine Amsel kommt und ihn als Frühstück für ihre Jungen aufpickt. Aber daran dachte ich erst später.
 
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Kommentare  

Sehr schön geschrieben und sogar ein wenig böse. ;0)
Selbst Würmer können sich als unverschämt zeigen. Und auch ein wenig überkanditelt. Welcher normale Wurm würde sich die Laute der eigenen Fressfeinde anhören wollen?

Hat Spaß gemacht, es zu lesen.

Liebe Grüße DublinerTinte


Pia Dublin (18.02.2012)

Nun man muss ja auch an die armen Amseln denken, schließlich hat dasarme Vogerl sicher auch Hunger und so eiin fetter Leckerbissen macht sicher lange satt.
Sehr schön geschrieben und richtig was zum grinsen.
Gerald hat Recht, es hat was satirisches und das gibt dieser kleinen Geschichte den richtigen Pepp.


Tis-Anariel (17.02.2012)

Herzlos, richtig herzlos, warum hast du nicht an die Amsel gedacht? Nein, nein, wird dir ja verziehen, ansonsten hast du ja gut für den Wurm gesorgt.
Hat irgendwie etwas satirisches deine Story. Soll heißen, herrlich wie du die Leute auf die Schippe nimmst, die sich manchmal "verafft" um ihre Tiere "kümmern". Nette kleine Schmunzelstory. Toller Schreibstil.


Gerald W. (17.02.2012)

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