47


9 Seiten

Die letzten Tage meines ehrlosen Lebens

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten · Experimentelles
Dies ist meine Geschichte und am Ende der Geschichte werde ich sterben. Es ist zwar kein Happy End, aber ich bin ja auch nicht Indiana Jones oder James Bond. Ich bin kein Held, aber zumindest bin ich es wert, dass jemand eine Geschichte über mich und mein Ende schreibt.

Und wirklich, es muss ein spektakuläres Bild gewesen sein, das in den Zeitungen kursiert ist. Die Leiche, all das Blut, das Hakenkreuz... ich wäre sicherlich begeistert gewesen, das Dumme ist nur, dass man als Toter die Dinge immer etwas objektiver sieht. Aber es muss spektakulär gewesen sein, sonst hätte man wohl nie eine Geschichte darüber geschrieben.

Alles begann in dem kleinem Wohnzimmer in dem kleinen Haus in dem kleinen Dörfchen in dem ich wohnte. Ich saß gerade auf der Couch und schnitt für ein Gewinnspiel eines Lebensmittelherstellers Wörter aus einer Zeitung aus. Das Ziel des Gewinnspieles war der, dass der, der am häufigsten den Namen der Firma aus einer Zeitung ausschnitt und einschickte, zehntausend Euro gewann. Das war eine Menge Geld und ich konnte es dringend brauchen. Meine Freundin war im achten Monat schwanger und, gewollt oder nicht, das Kind würde zu Welt kommen, würde Essen brauchen, Kleider und Schuhe. Ich hätte mir zwar einen Jungen gewünscht, aber wenn es als Mädchen herauskommen würde, würden wir es auch nicht hergeben. Meine Freundin ist zwar leicht zu beeinflussen, aber diesen Gefallen würde sie mir nicht tun. Und somit versuchte ich den Namen so oft wie möglich in der Zeitung zu finden, aufzukleben um darauf zu warten, dass der grinsende Pressesprecher des Lebensmittelherstellers mich besuchen würde und mir einen Koffer gefüllt mit Fünf-Euro-Scheinen überreichte. Blitzschnell, wie es versprochen wurde.

Und während ich in Vorfreude auf meinen Gewinn schwelgte, schrie jemand unter meinen Fenster: „Hey Judenarsch, komm runter, wir verkloppen dich!“ Es war Sebastian Czernovatsch, der Sohn des Fleischhauers und Gründer der „Freien Burschen“, eine rechtsradikale Bewegung, deren Ziel es war, das Dorf von nichtgermanischem Abschaum zu säubern, indem sie schrieen, Bier tranken und Hausecken anpissten. Ich konnte leider nicht beitreten, denn obwohl mein Nachname viel deutscher klang als „Czernovatsch“, stellte mir meine semitische Abstammung ein Bein.
„Was is´ jetzt Judenarsch, bist feige, hä? Trauste dich nich zu kämpfe?“
Er war so besessen von seiner Gedankenwelt, dass er sich sogar einen deutschen Akzent angelernt hatte, um deutscher zu klingen. Ich fand es eher lächerlich. Vor allem wenn er versuchte seinen Namen deutsch auszusprechen.

Doch die Worte klangen in meinem Kopf weiter. Ich betrachtete die Papierschnipsel, die Wörter die ich aus der Zeitung ausgeschnitten hatte, und gepaart mit Sebastians Worten ergaben sie eine saudämliche Idee. Ich fand es lustig zu diesem Zeitpunkt und machte mich sofort ans Werk, meine Idee zu realisieren, aber jetzt, da ich tot bin, find ich es nur noch dämlich. Tja, das ist wohl der Nachteil am Totsein, diese Objektivität. Aber was soll´s?
Eine halbe Stunde brauchte ich, dann war der Brief fertig, dessen Worte aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben bestand. Der Brief enthielt die Worte:
„Liebe Burschen, ich bin Sebastian Czernovatsch, homosexueller, schwarzer Jude aus Polen und würde gerne eurem Klub beitreten. PS.: Vielleicht können wir´s ja des nachts mal richtig knallen lassen!“
Wie gesagt, damals fand ich es lustig. Ich kopierte diesen Brief sieben mal, adressierte sie an alle Mitglieder der „Freien Burschen“ inklusive Sebastian und steckte sie gemeinsam mit den dreihundertsiebenundzwanzig ausgeschnittenen Namen des Lebensmittelherstellers in das Postkästchen.

Am Abend kam meine Freundin vom Arbeiten nach Hause. Sie begrüßte mich mit einem freundlichen: „Hast du schon endlich die Treppe zum Keller repariert?“ Als Antwort öffnete ich die Bierflasche deutlich lauter als sonst. Das waren die einzigen Worte, die wir an diesem Abend wechselten. Waren schon neun Worte und ein Bierdeckelknaller mehr als sonst. Sie ging duschen und legte sich schlafen. Das war´s.
Ich war nie ein gewalttätiger Mensch, ehrlich, aber ich hatte von meinen Eltern eine gewisse Grundhaltung mitbekommen und die sagte, dass eine Frau einem Mann etwas zu essen kochen musste. Und so wurde es diesen Abend etwas lauter... ach was heißt lauter, genau so scheißlaut wie sonst auch! Wir schrieen uns an, ich ohrfeigte sie, sie trat mir in die Eier, drohte mir mit dem Messer und dann gingen wir schlafen. Es hätte natürlich andere Lösungen gegeben, aber wenn man tot ist, weiß man immer alles besser.

Der nächste Tag, der Tag an dem ich sterben würde, war genauso beschissen wie jeder andere Tag auch. Ich wachte auf, meine Freundin war weg. Ich suchte eine halbe Stunde lang das gesamte Haus nach ihr ab, aber sie war nicht zu finden. Natürlich nicht, sie musste auch vor halb zwölf in die Arbeit gehen, aber als Arbeitsloser fällt einem das nicht immer gleich ein.

Ich überlegte mir, die Kellertreppe zu reparieren, dachte aber, es hätte keinen Sinn, für heute waren Gäste eingeladen und vor Gästen würden wir nicht streiten. Das war das einzige, worüber wir uns einig waren.
Vor allem benutze nur ich den Keller. Er war nämlich meine Bastelstube. Das war das einzige, das mich wieder aufbaute, wenn ich ganz unten war, das Basteln. Da war ich mit Haut und Haaren dabei. Das ging oft stundenlang, je nachdem, wie aufgeregt ich war, und danach kam ich als ruhiger, gelassener Mensch zurück.
Und so beschloss ich die Kellertreppe nicht zu reparieren, ging ins Bad und kiffte. Es ist nicht schön so etwas zu tun, im Nachhinein meine ich. Es ist sittenlos, niemand darf es wissen und es macht dumm. So wie Wichsen, nur sauberer.
In den darauf folgenden Stunden tat ich beides, danach machte ich mir eine Eierspeise und legte mich vor den Fernseher.

Es lief gerade Biene Maya, als ich Sebastians süße Stimme erklingen hörte: „Wenn ich dich treffe, Judenarsch, dann bring ich dich um. Wenn du außer Haus gehst, dann bring ich dich um und wenn du...“, anscheinend war ihm nichts mehr eingefallen, ich hörte einige Stimmen flüstern und nach den guten Ratschlägen seiner Freunde schrie er weiter: „...und wenn ich dich treffe, dann bring ich dich um! Hey...?!“
Ich musste lachen. Früher einmal hatte ich mich über den „Judenarsch“ geärgert, zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr. Außerdem demonstrierte Sebastian den Intellekt dieser Bande. Dann musste ich an den Brief denken, der wahrscheinlich heute Abend ankommen würde und ich musste noch lauter lachen. Wahrscheinlich haben sie das Lachen gehört. Sie sangen noch irgendetwas und gingen dann davon.

Meine Freundin kam an diesem Tag früher nach Hause, so gegen halb sieben. Sie musste das Essen vorbereiten. Ich half ihr Zwiebel schneiden. Ich entschuldigte mich für das gestrige Verhalten, sie sich auch und dann schwiegen wir wieder.
Um acht kamen unsere Gäste. Pünktlich, unsympathischer geht es gar nicht mehr. Der Mann, ein Arbeitskollege meiner Freundin, lässt sich leicht beschreiben: groß, lächelnd, eher schmalzig. Einer von jener Sorte, die gerne einen Familienabend verbringt und „Scrabble“ spielt. Der Charakter seiner Freundin lässt sich schwer beschreiben, denn anscheinend hatte sie keinen. Dafür gewisse körperliche Vorteile, die mir sofort auf- und gefielen. Sehr sympathisch. Wie aßen und tranken und danach spielten wir „Scrabble“.

Irgendwann während des Spielens verschwand die Freundin des Arbeitskollegen meiner Frau ins Bad und kam nicht wieder. Aber niemandem ging sie wirklich ab. Wir spielten zu dritt weiter. Ich verlor ein Spiel nach dem anderen und schließlich wurde es mir zu langweilig. Ich entschuldigte mich und ging schlafen.
Doch auf dem Weg zum Bett stieg mir ein Geruch in die Nase. Es roch nach Gras. Ich konnte es nicht glauben, aber aus dem Badezimmer roch es nach Gras. Ich öffnete die Tür und ich sah die Freundin des Kollegen meiner Frau in der Badewanne liegen und mein Gras kiffen. Anscheinend hatte ich es nicht weggeräumt und diese Schlampe genoss es in vollen Zügen.

Zuerst wollte ich mich aufregen, doch irgendwas geschah. Ich setzte mich zu ihr auf den Rand der Badewanne und wir kifften gemeinsam. Sie erzählte mir, wie wenig sie ihren siebenklugen Freund leiden konnte und ich sagte ihr, wie wenig ich ihn leiden konnte. Jetzt, da ich tot bin, kann ich es nicht mehr ganz nachvollziehen, was dann geschah. Ich bin treu, ehrlich, doch wahrscheinlich ging das Gras gepaart mit dem Minirock mit mir durch. Sie machte Dinge mit mir, die meine Frau nie mit mir machte.
Als es vorbei war, brach sie in Tränen aus und schrie mich hysterisch an, ich dürfte es niemandem erzählen, sie liebte ihren Freund doch so, er war immer gut zu ihr und sie wollte ihn heiraten. Ich versprach, es nicht zu sagen.

Und das brauchte ich auch nicht. Sobald sie im Wohnzimmer war, brach sie zusammen, schrie, ich hätte sie vergewaltigt, und begann zu weinen. Meine Frau regte sich furchtbar auf, war in Rage, der Arbeitskollege schrie, er wolle mich umbringen. Meine Frau sagte, sie helfe ihm. Ihr Plan war, dass sie zu ihm nach Hause fahren, die beiden Frauen sollten zu Hause bleiben und der Arbeitskollege fuhr alleine wieder her, erschoss mich, verwüstete die Wohnung sodass es wie Raub aussah und fuhr dann wieder zu den Frauen zurück, die das Alibi sein sollten.

All das hörte ich aber nicht mehr, ich war im Keller und wollte zu basteln beginnen. Ich hätte mich wohl krumm und dämlich gelacht, hätte ich das gehört. Hätte ich allerdings gewusst, dass ich ein paar Stunden später tot auf dem Boden liegen würde, hätte ich nicht gelacht. Aber ich habe sowieso nicht gelacht, ich war ja bereits im Keller verschwunden, um zu basteln.
Ich bereitete alles vor, was ich zum Basteln benötigte: Eine Schere, ein paar Blätter Papier und Verbandszeug, mehr nicht. Es war ein Scheißtag gewesen und ich musste basteln. Es war komisch, obwohl ich gekifft und gevögelt hatte, hatte ich ganz schlechte Stimmung. Depressiv, möchte ich jetzt meinen. Und darum begann ich sofort zu basteln.
Ich nahm die Schere, bildete mit der linken Hand eine Faust und führte die Klinge den Unterarm entlang. Ich begann sofort zu bluten. Das tat gut. Ich weiß nicht genau, warum ich das immer tat, ich war weder masochistisch veranlagt, noch sonst etwas perverses, aber der Schmerz einer guten Bastelstunde versetzte mich dermaßen in einen Rauschzustand, dass ich alles andere vergaß. Das Blut tropfte langsam auf das Blatt Papier. „Rot auf Weiß, das lieb´ ich heiß“, ging es mir durch den Kopf.

Normalerweise reichte ein Schnitt, doch an jenem Abend ging es mir wirklich beschissen. Ich glaube nun, dass mir das Kiffen und das Fremdgehen nicht gut getan hatten. Ich war noch nie fremdgegangen und ich hatte immer gedacht ich sei treu. Ich wusste immer, dass ich ein Arschloch war, zu meiner Freundin und zu meiner restlichen Umwelt, aber dass das soweit ging, dass ich fremdgehen würde, das hätte ich nie gedacht. Und in diesem Augenblick tat ich etwas, was ich schon lange nicht mehr getan habe: ich weinte.

Am anderem Ende der Stadt erreichte das Auto des Arbeitskollegen meiner Freundin das Haus des Arbeitskollegen meiner Freundin. Wild entschlossen, mich umzubringen, stürmten sie ins Haus, rissen das Gewehr aus dem Kasten und angesichts des Gewehrs legten sie das Gewehr in den Kasten zurück.
Etwas zu denken ist etwas anderes als etwas zu tun, das kann ich jetzt gut nachvollziehen. Sie setzten sich ins Wohnzimmer und redeten die ganze Nacht. Sie sprachen darüber, wie es meiner Freundin mit mir ging, sie erzählte ihnen von meinen Gewaltausbrüchen trotz ihrer Schwangerschaft. Man besprach, wie glücklich man war, wie traurig man war und wie unheimlich unheimlich das Leben sein konnte. Wie sich Menschen ändern und jene, denen man vertraute, plötzlich Sachen machen, die man ihnen nie zugetraut hätte. Wie schlecht die Menschen waren und wie froh man sein konnte, wenn man gute und ehrliche Freunde hatte. So verbrachten sie die ganze Nacht, gingen erst früh morgens schlafen und sie hätten mindestens bis zwölf Uhr mittags ihren seligen Schlaf geschlafen, hätte sie nicht das Telefon geweckt und ein Polizist am anderen Ende der Leitung erzählt, dass ich tot wäre.

Ungefähr zu jenem Zeitpunkt, zu dem sie beschlossen hatten, mich doch nicht umzubringen, schnitt ich mir das zweite mal, und diesmal noch tiefer, in den Unterarm. Das Verbandszeug, mit dem ich mir immer die Hände verbunden hatte, hatte ich weit weg in die andere Ecke des Kellers geschleudert. Diesmal wollte ich mich nicht verbinden, ich wollte nur basteln.
Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich merkte damals zum ersten mal wirklich, wie schlecht ich war, wie böse und ungerecht. Wie konnte ich nur zum Teufel meine Freundin schlagen? Meine hochschwangere Freundin? Sie sei doch auch arm und die Attacken auf mich seien völlig gerechtfertigt.

Tief schnitt ich mich nun in den rechten Arm. Blut strömte überall hin, der Tisch war voll Blut, es tropfte zu Boden, mein Gesicht war voll Blut... Es war überall. In den vielen anderen Malen, als ich gebastelt hatte, war es ein verdammter Schnitt gewesen, zwei Tropfen Blut und ich hatte mir den Arm verbunden. Nun wurde mir bereits schwindelig.

Und ich musste an meine Freundin denken. An sie, für die ich noch nie in meinem Leben etwas getan hatte. An sie, die des nachts weinend liegt, wegen mir. Wegen MIR!!!
Und zum zweiten Mal an diesen Abend drehte sich der Wind in meinem Kopf und mir wurde bewusst, dass ich leben musste. Ich musste leben, um mich mit ihr zu versöhnen, um ihr ein gutes Leben zu bieten, um unser Kind aufzuziehen. Dazu war ich da, das war der Sinn meines Lebens. Mir war so verdammt schwindelig.
Ich hatte sogar vergessen, wo ich das Verbandszeug hingeschmissen habe. Verdammte Scheiße, dachte ich mir. Ich hätte fast wieder zu weinen begonnen, doch ich musste mich zusammenreißen, wenn ich leben wollte. Plötzlich hatte ich soviel Gutes vor. Ich wollte meine Eltern anrufen und mich mit ihnen versöhnen, mich bei meinen alten Freunden melden, mir einen Job suchen, ein Haus bauen, einen Baum pflanzen... Ich begann zu kotzen.

Ich stand auf, auf der Suche nach dem Verbandszeug, doch ich rutschte auf dem Blut aus. Ich schlug mir den Kopf an und blieb liegen. Jetzt ist es aus, dachte ich mir, legte den Kopf auf die Seite und wollte gerade sterben, als ich das Verbandszeug unter dem Tisch liegen sah.

Genau zu diesem Zeitpunkt wurde im Erdgeschoss des Hauses ein Fenster eingeschlagen und vier Burschen sprangen herein. Drei waren mit Baseballschlägern bewaffnet, einer mit einer Hakenkreuz Fahne. Sebastian Czernovatsch hatte nur vier der spottenden „Freien Burschen“ überreden können, dem Juden, also mir, den Garaus zu machen. Und diese waren nun in meinem Haus, verständigten sich stumm durch Zeichen und pirschten durch meine Zimmer. Sie waren wirklich entschlossen, mir eine ordentliche Abreibung zu verpassen. Sebastian hatte durch meinen Brief einen starken Fall in der strikten Hierarchie der Gruppe erfahren und das konnte er sich nicht bieten lassen. Es müsse ein Toter her, hatte er Stunden zuvor den anderen Burschen berichtet. Auch wenn er nicht hundertprozentig sicher war, dass ich der Verfasser des Briefes war, es müsse eben ein Toter her und so war er in meinem Haus.

Als sie alles abgesucht hatten, kamen sie schließlich zu dem Schluss, dass der Lichtstreifen unter der Kellertüre bedeuten könnte, dass sich eventuell jemand im Keller aufhielt. Sie versammelten sich davor, Sebastian konnte es kaum erwarten, mich zu töten. Der Judenarsch hatte ihn tatsächlich verarscht, gehörig auch noch dazu. Ich werde seine Eingeweide essen und in seinem Blut baden, dachte er sich bevor er die Tür öffnete. Dann trat er die Tür ein.

„Verdammte Scheiße, was ist denn hier los?!“, schrie er als er mich sah. Ich hatte es gerade geschafft, mir den Arm zu verbinden, es aber nicht bewerkstelligt, aus meinem eigenen Blut zu kriechen. Ich sah ihn an und er sah mich an. Entsetzen sprach aus seinem Gesicht. Er war regelrecht blass vor Schock.
„Töte den Juden!“, schrei einer hinter ihm, aber Sebastian starrte mich noch immer an, mich, der in seinem eigenen Blut badet, das Gesicht rotverschmiert und lächelte.

„Töte den Juden!“, krächzte ich zu ihm hinauf. Meine Stimme war zwar schwach und heißer aber sie hatte den richtigen Ton. Ich zwinkerte ihm zu. Sebastian ließ seine Hakenkreuzfahne fallen, schrie den Burschen etwas zu und flüchtete. Dann waren sie weg. Die Hakenkreuzfahne purzelte die Kellertreppen hinab und blieb unten liegen. Ich legte mich zurück und lachte. Ich war noch nie im meinem Leben so glücklich gewesen.

Ich lag ungefähr eine halbe Stunde in meinem eigenem Blut und war glücklich. Ich hatte alles Gute vor mir. So viele Pläne, so viel Gutes zu tun. Ich versuchte aufzukommen, fiel wieder hin, weil mir so schwindelig war, aber ich probierte es noch einmal und diesmal gelang es. Ich rappelte mich auf und versuchte auf dem Weg zur Stiege nicht mehr auszurutschen. Die Schweinerei würde ich morgen wegmachen, jetzt müsste ich auf mich schauen.

Ich kam zum Fuß der Treppe. Sie war so verdammt hoch. Mein Vater hatte das Haus anno 1967 bauen lassen, hatte ursprünglich einen zweistöckigen Keller geplant, dann war ihm das Geld ausgegangen und er hatte nur einen Stock daraus gemacht, der dafür eine riesige Treppe besaß. Ich kickte die Hakenkreuzfahne weg und bestieg die erste Stufe. Es ging recht gut, ich hatte nur noch 54 vor mir. Doch auch die zweite klappte gut, die dritte, die vierte. Es ging alles so perfekt – die fünfte – alles war so großartig – die sechste – ich liebe meine Freundin – die siebte. Ich überlegte mir im Kopf was ich alles machen würde, wenn ich oben wäre. Ich würde zu meiner Freundin gehen und sie küssen, sagen, wie sehr ich sie liebte. Ich würde arbeiten gehen, damit sie zu Hause bleiben konnte, um sich zu schonen. Wir würden unser Kind erziehen, heiraten und noch mehr Kinder bekommen. Ich muss leben. LEBEN. Ich werde nie sterben, ich werde ewig...
Ein Knarren unterbrach meinen Gedankengang, als ich bei der 55 Treppe angelangt war. Danach fiel ich etwa sieben Meter in die Tiefe und brach mir das Genick. Jetzt, da ich tot bin, kann ich leicht sagen, ich hätte sie doch reparieren sollen.

Diesmal lag ich etwa fünf Stunden unter der Treppe, tot. Um neun Uhr klingelte es an der Tür. Es war der Pressesprecher des Lebensmittelherstellers und er hatte einen Koffer gefüllt mit Fünf-Euro-Scheinen dabei. Dieser Koffer gehörte mir. Er läutete sechs, sieben Mal, dann sah er das zerbrochene Fenster, verständigte die Polizei und die fand mich dann unter der Treppe liegend. Meine Freundin sah nichts von dem Geld, aber man versicherte ihr, ich hätte ein Lächeln auf meinem toten Gesicht gehabt.

Sie hat noch ein Interview für die Zeitung gegeben, für jene, die das spektakuläre Bild von dem Blut, dem Hakenkreuz und dem Lächeln auf meinem Gesicht gemacht hat. Ich hätte das Bild gerne als Lebender gesehen, ohne Objektivität, aber man kann nicht immer alles haben.
Genauso wie man nicht immer eine tolle Geschichte haben kann, mit Happy End und Helden und Schlussfeuerwerk. Ich bin kein Held, aber dafür bin ich es wert, dass jemand eine Geschichte über mich schreibt
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Klassischer Fall von: na prima, dumm gelaufen.

Die Aussage: tot sieht man die Dinge objektiver, hat mich schwer beeindruckt und sehr nachdenklich gestimmt. Ich war zumindest für kurze Zeit toleranter gestimmt.

Wahrlich eine 5 points-story!


Angela (10.09.2002)

Was gefällt mir an dieser Geschichte so gut ?
Ich kann es nicht in Worte fassen, ich weiß es nicht. Die Geschichte ist einfach gut.
5 Punkte von mir.


Maxson (24.08.2002)

Danke dir! Zählt auch zu meinen Lieblingsgeschichten. Ich finde sie hat etwas besonderes!

Liebe Grüße aus Wien, Peter Hrubi


Peter Hrubi (22.08.2002)

Gefällt mir sehr gut. Genau die richtige Mischung aus krankem Humor, nüchternen Stil und abgedrehten Ideen, die ich mag. 5 Pointz!

Maestro (15.08.2002)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Tasso Tassini und der Überfall auf die Knüttelstätter Zentralbank  
Anything Goes  
Mustax  
Erschöpfte Hoffnung  
Der Gefangene  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De