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11 Seiten

Mustax

Romane/Serien · Fantastisches
John McSender nahm den letzten Zug von seiner Marlboro und warf den Filter in den Schnee. Sein Hals fühlte sich rau und trocken an. Er würde etwas trinken, hätte er nicht so ein Gefühl, als würde es gleich beginnen.
Da zerschnitt ein Licht die Dunkelheit vor ihm, ein Auto, das um die Ecke bog, erleuchtete die dunklen Ziegelsteine der Mauer. Es blieb stehen. Er atmete tief ein.
„Wo ist St.Donovan bitte?“, fragte ein finsteres Gesicht, das aus dem Fenster des BMWs ragte.
John atmete aus. Gleich würde es los gehen.
„Drüben links, bei Moldorf rechts auf die A42“, antwortete er.
Das Gesicht im Auto sah ihn an. Es schien durch ihn durch zu sehen, seine Seele zu erforschen um zu sehen, ob sie ihm gewachsen war.
„Sie Sind Mr.Center?“, fragte das Gesicht und stieg aus dem Wagen. Zu dem Gesicht gehörte ein schwarzer, knöchellanger Mantel und schwarze Lederschuhe, die das Gesicht noch bedrohlicher wirken ließen.
John nickte. Er versuchte erst gar nicht, fragen zu stellen, es hätte keinen Wert. Es würde das Gesicht bleiben. Zumindest solange, bis er Handschellen um die bisher unsichtbaren Handgelenke legen konnte.
Das Gesicht ging zum Kofferraum des BMWs, öffnete ihn und holte einen schwarzen Lederkoffer heraus.
„Ist es das, was sie wollen?“, fragte das Gesicht.
John nickte wieder. In dem Koffer, so hoffte er, befand sich die Ware. Der lange Arm des Teufels. Mustax.
Er wollte gerade den Koffer öffnen, als ihn das Gesicht an den Handgelenken packte.
„Nicht so schnell, mein junger Freund“, flüsterte das Gesicht.
John hörte, wie die Türen des Wagens geöffnet wurden. Drei Gestalten stiegen aus, alle drei glichen dem Gesicht. Die Mäntel, die Schuhe, der Gesichtsausdruck. Nur waren sie mit Eisenstangen bewaffnet.
Er sah die Gestalten an. Nun ging es wirklich los, dachte er.
Und es ging los. Der erste Schlag traf seine Rippen. Er fiel zu Boden und blieb liegen. Nun war es besser, liegen zu bleiben.
Ein Schuss fiel und die Gestalt, die ihn geschlagen hatte, ließ die Eisenstange fallen, die in den knöchelhohen Schnee fiel und versank. Die Gestalten zogen ihre Waffen, Maschinenpistolen wie sie die Mafia für gewöhnlich hatte, und fingen an zu schießen, schossen auf einen unsichtbaren Gegner, der kurz zuvor einen ihrer Freunde erschossen hatte.
Das Gesicht warf sich auf ihn und presste ihn zu Boden.
„Gut gemacht, du Bullenarschloch!“ hauchte ihm das Gesicht entgegen. Sie mögen wie zwei Liebende ausgesehen haben, die sich während eines Kugelhagels im Schnee beiwohnten. „Gut gemacht, du Wichser“
„Fick dich!“, sagte John. Das Gesicht grinste ihm entgegen.
„Ich werde heute sterben, dank dir, doch eines gebe ich dir mit. Das ist mein Fluch“
John glaubte nicht an Flüche, Hellseherei oder sonstiges, aber er glaubte an den Stich, den er im rechten Oberarm verspürte. Er war ein harter Mann, von der härtesten Einheit, die das Land gegen Drogendelikte einsetzte, doch in diesen Moment dürfte er wohl leicht den Mundwinkel verzogen haben.
„Das gefällt dir wohl nicht. Das freut mich. Noch etwas wird dir nicht gefallen, ich komm nicht mit dir ins Gefängnis. Adieu, mein Freund“, das Gesicht küsste ihn auf den Mund. Nun mussten sie wirklich wie Liebende gewirkt haben.
Das Gesicht stand auf und zog etwas aus dem Mantel heraus. Für die Scharfschütze möge es wie eine Waffe ausgesehen haben, John aber sah, dass es ein Regenschirm war. Doch er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, ein Schleier tauchte vor seinen Augen auf und tanzte wie verrückt gewordene Nebelschwaden. Der Knall der Schüsse hatte einen surrealen Nachklang.
Das Gesichte lachte ein triumphierendes Lachen, lachte und lachte, lachte sogar noch weiter, als die Scharfschützen es trafen. Es schien, als hätte das Gesicht gewonnen.
Und das fühlte auch John. Er hörte die Schüsse und das Lachen, die Geräusche vermischten sich und es erinnerte ihn an Unterwasseraufnahmen einer Walkolonie, die er einmal im Fernsehen gehört hatte. Sehen konnte er nicht mehr.
Was hatte ihm das Gesicht gespritzt, fragte er sich und gab sich sogleich selbst die Antwort. Mustax. Dann hörte er ein entsetzliches Summen...

Henri Maier erwachte. Er lag in einem Liegestuhl, neben ihm stand ein Glas Bananenmilch, die Tageszeitung war auf seinem Bauch ausgebreitet. Er blickte verwirrt durch die Gegend. Seitdem diese Tagträume angefangen hatten, wusste er in den ersten Minuten nach dem Aufwachen nicht so genau, wo er war. Oder wer er war. Aber das legte sich schon wieder, momentan wollte er einfach nur etwas zu trinken, aber das Glas mit Bananenmilch war leer.
Henri setzte sich auf und blickte sich um. Er war zu Hause in seinem Garten. Er sah vor sich das Swimming-pool, links davon die selbstbebaute Fichtenreihe und den Rasen. Er war zweifellos zu Hause, aber was in letzter Zeit mit ihm geschah, ließ ihn manchmal das anzweifeln, was er für gewöhnlich geglaubt hatte.
Streßsyndrom53 hatte sein Psychiater diese Krankheit bezeichnet. Durch Stress hervorgerufene Tagträume, um es einfacher zu sagen. Er war Buchhalter einer großen Firma in der Stadt. Da ist es klar, dass es zu Stress kommen kann. Vor allem jetzt, in Zeiten des Wirtschaftsabbaus. Es muss immer alles schneller und schneller gehen, ohne Rücksicht auf menschliche Empfindungen zu nehmen. Das war schlimm, aber andererseits konnte Henri seinen Chef und dessen Chef (und dessen und dessen und dessen) gut verstehen. Es hängt viel von einer Firma ab, da kann sich keiner leisten, dass der Buchhalter plötzlich die Renovierungsausgaben von Aufwand an Erträge bucht.
"Papa, Papa!", entriss Henri eine Stimme aus seinen Gedanken. Es war sein Sohn Nicolas, der mit einem Stoß Spielkarten gelaufen kam. Henri versuchte sich schlafend zu stellen. Vielleicht konnte er ja einem weiteren Mau-Mau-Spiel entgehen. "Papa! Papa!", rief Nicolas nun, "Papapapapapa!"
Es war der natürliche Instinkt jeden Mannes zu wissen, wann er aufzugeben hatte und nun war es für Henri so weit. Er ergab sich einem Erguss aus gefinkelten Mau-Mau-Gefechten.
Mit Nicolas konnte sich Henri immer am besten beruhigen, das wusste er genau. Ob er mit seinem Sohn Karten spielte oder ihm etwas vor las, er entspannte sich dabei. Er liebte seinen Sohn wie verrückt. Manchmal schien es Henri sogar, als seien sie ein und dieselbe Person.
Am Abend kam seine Frau Sonja von der Arbeit nach Hause. Sie briet Seebarsch zum Abendessen, danach sahen sie sich den Samstag-Nacht-Film an und dann gingen sie zu Bett. Wer sagte, Henri Maiers Familienleben war bloß harmonisch, hätte auch sagen können, im Paradies konnte man einigermaßen gut leben.
Doch etwas fehlte. Trotz all dem Eheglück, dem Kind und dem wunderbaren Haus, fehlte ihm etwas. Irgendetwas. Etwas, das ihn in dieser Samstag Nacht nicht schlafen ließ.
Dann hörte er etwas, ein Geräusch, das zuerst ein Flüstern war, sich dann wie eine Welle erhob und auf ihn hereinbrach. Es war eine Art Summen, ein Summen wie von Milliarden von Bienen die plötzlich vor hatten, in seinem Schädel zu nisten. Es war unerträglich. Er verlor das Bewusstsein.

John McSender erwachte auf der Krankenstation des Polizeidezernats. Ein nüchtern weißes Bett unter ihm, eine nüchtern weiße Decke auf ihm. Er starrte nüchtern weiße Wände an. Er war verwirrt. In den ersten Minuten nach dem Aufwachen ist es oft so, dass man nicht weiß, wo man ist. Aber es geschieht selten, dass man nicht weiß, wer man ist. John passierte es zum zweiten mal.
Er stand auf. Zuerst dachte er, ihm würde schwindelig werden oder sonst etwas, aber dem war nicht so. Er war fit, stark wie sonst auch. Er suchte die Toilette und als er sie fand, verbrachte er einige Zeit dort, seine Blase zu entleeren.
Was war das letzte an das er sich erinnern konnte? Seebarsch? Er hatte entsetzlichen Durst.
"John, setzt dich! Du bist noch nicht ganz fit", rief eine besorgte Stimme hinter ihm. Es war Frank Greesye, Chef des Drogendezernats und guter Freund von John, "Ich kann es mir nicht leisten, meinen besten Mann zu verlieren. Herzliche Gratulation zu deinem Wahnsinns-Erfolg. Da winkt eine Mords-Beförderung!"
Jetzt wusste er wieder, an was er sich erinnerte. Er wollte ihn verhaften, Mark Dunnalem - das Gesicht - doch er wurde von den Scharfschützen erschossen.
"Ihr habt ihn erschossen, nicht ich", sagte John bedrückt.
"Doch ohne dich hätten wir das nie geschafft.", beruhigte ihn Frank, "Zwei Wochen hast du dich als Under-Cover Agent eingeschleust. Ins Netz der Drogenmafia. Und schließlich hast du ihn besiegt. Großartig!"
"Ich habe Durst", sagte John unbeeindruckt.
"Das werden wir gleich haben", sagte Frank und rief der Schwester zu, sie möge etwas zu trinken bringen.
Doch er durfte nichts trinken. Nach diesem schweren Schlag (Mustax, dachte John, oh mein Gott, es ist Mustax!) musste sich sein Magen entspannen, oder so etwas in der Art. Er verstand das Fachchinesisch der hübschen Krankenschwester nicht.
"Dafür haben Sie wunderschöne Augen, Ma´am!", sagte er.
"Carol", stellte sie sich vor.
Dafür durfte er auf die Feier gehen, die seinetwegen abgehalten wurde.
Im Gemeinschaftsraum des Drogendezernats hing ein Transparent mit der Aufschrift: "Wir danken John für ein Drogenfreies Hoover". Viele alte Bekannte feierten bereits zu seinen Ehren. Sie feierten, weil er etwas getan hatte. Er war stolz auf seine Arbeit.
"Komm doch, John, wie gehts alter Kumpel?", es war Ralph. John hatte Ralph erst zwei Mal in seinem Leben gesehen. Alter Kumpel? dachte er, Erfolg macht Freunde, was?
"Wie geht’s deiner Frau...", löcherte Ralph weiter.
"Carol. Carol geht es gut, danke", log er. Er war nicht verheiratet, aber das würde Ralph nicht wissen.
"Ach ja, Carol! Die hübsche Carol", schwärmte Ralph, "Richte ihr bitte schöne Grüße aus!"
"Werd ich machen", er sah Ralph erst zum dritten Mal in seinem Leben, aber er konnte den schleimigen Tupetträger nicht leiden. "Kannst du mir bitte etwas zu trinken bringen!" Der Durst brachte ihn beinahe um.
"Klar doch, Kumpel!", flötete Ralph, schnipste mit den Fingern, machte eine Pirouette und verschwand. Nein, er konnte den Typen wirklich nicht leiden.
Nach einiger Zeit kam er mit einem Glas Bowle zurück. "Lass es dir schmecken, Kumpel!"
John nickte und führte das Glas zu den Lippen, doch er setzte es schnell wieder ab. Etwas war draußen und es kam herein. Etwas, was sich anhörte, wie ein Schwarm giftiger Killerbienen. Sie kamen um ihn zu holen.
Das Summen wurde lauter und lauter. Niemand schien es zu hören, nur er. Er sah Ralphs Gesicht, sah, wie er versuchte, ein möglichst besorgtes Gesicht zu machen. Er sagte etwas, doch John konnte es nicht mehr hören. Er verlor das Bewusstsein.

"Was meinst du?", fragte Sonja Maier ihren Mann verschlafen.
"Was du sagst, Ralph...", wiederholte Henri mit müder Stimme. Er erwachte wie in seinem Garten am Tag zuvor: Obwohl sein Körper bereits hier war, war sein Geist im nirgendwo.
"Nichts, tut mir leid, Sonja. Hab bloß geträumt", sagte er und legte sich auf den Rücken, die Augen weit aufgerissen. Es gab nur einen Unterschied zum Tag davor, er konnte sich sehr gut an das erinnern, was er in seinen Träumen gesehen und gespürt hatte.
"Ich geh mir ein Glas Wasser holen", sagte er zu der Frau, die neben ihm im Bett lag und verließ das Zimmer. Er wusste, dass es seine Frau war, die Frau die er geheiratet hatte, aber er konnte sie nicht mehr so nennen.
Aber du weißt das doch, oder? fragte er sich selbst. Klar wusste er das, er wusste auch, dass er ein Kind und einen stressigen Job hatte.
Und vor fünf Minuten hatte er gewusst, dass er im Drogendezernat arbeitete, auf der Krankenstation lag und John McSender hieß.
Verwirrt ging er in die Küche seines Hauses. Ich bin Henri Maier, sagte er immer wieder vor sich her. Henri Maier, Henri Maier... Immer und immer wieder. Doch die Stimme die tief in ihm lebte lachte nur. Er musste seinen Psychiater anrufen.
Obwohl es mitten in der Nacht war, hatte sein Psychiater Zeit für ihn. Klar doch, schließlich war es ein Notfall und ein Psychiater durfte seinen Patienten nicht im Stich lassen. Vor allem, wenn der Patient ein guter Freund des Chefpsychologen des örtlichen Krankenhauses war.
Sogar das weiß ich, sagte Henri der Stimme, die sogar noch lachte, als er den alten BMW vor dem Haus des Psychiaters abstellte. Er war sich nun schon ziemlich sicher, was real und was Traum ist. Ich weiß alles über mein Leben, wann ich geboren wurde, wer meine Eltern sind, wer der Chef meines beschissenen Psychiaters ist. So was weiß man in Träumen einfach nicht.
Doch die Stimme lachte weiter.
Er ging den Treppenaufgang hinauf und kam auf die Terasse des Hauses des Psychiaters. Max Weilinger, stand auf der Glocke. Er wollte nicht läuten, er wollte nicht das ganze Haus aufwecken. Es war zwar ein Notfall, aber das musste nicht jeder wissen.
Er brauchte auch nicht zu läuten, die Tür stand bereits offen.
Henri erstarrte. Konnte es denn so etwas geben? War es denn möglich, dass er derart verrückt war?
"Guten Morgen, Henri! Kommen sie doch herein", grinste ihm Ralph entgegen.
"Ralph?!", brachte Henri über seine trockenen Lippen. Dann kam das Summen.

Als John McSender wieder zu Bewusstsein kam, standen jede Menge Leute um ihn herum. Da war Frank Greesey, dessen besorgte Mine sich nun aufhellte; Carol, die gerade an den Geräten der Krankenstation wichtige Dinge ablas (Wow, das nenne ich Hintern!); und natürlich Ralph, dessen Mine erst richtig besorgt wurde, als er merkte, dass John wach geworden war und ihn nun ansah. Alle waren gekommen, haben die Party verlassen, um ihn zu sehen.
"Herr Gott, John! Geht’s dir gut?", fragte Frank, ließ eine unzählbare Anzahl von Stirnfalten entstehen und beugte sich zu ihm herab, "Wir haben uns alle große Sorgen gemacht."
Aber er sagte nichts, er starrte nur Ralph an. Ralph, der nimmersatte Schleimer, der durch seine Schleimspur die Karriereleiter hoch rutschte. Ralph, der ohne seinen Onkel noch immer auf Streife gehen würde. Ralph, sein Psychiater.
John sah ihn durchdringend an. War da etwas ins einem Blick. Etwas Wissendes? Wusste er etwa von seinen Träumen? Oder ist er Teil eines Traumes? Ralph war wahrscheinlich unschuldig, obwohl er in seinen Augen ein gewisses Funkeln hatte.
"Können wir etwas für dich tun, John?"
"Sag mir, wer Henri Maier ist!", sagte er zu Frank ohne seinen Blick von Ralph zu wenden. Frank und alle anderen sahen verwirrt aus. Dann glättete sich dieses Verwirrtsein und John konnte etwas in ihren Augen lesen, dass er noch mehr hasste, als Drogen: Mitleid.
"Klingt Deutsch", sagte Frank mit gespieltem Interesse, "Ich kann ja Jane fragen, ob sie in der Kartei nachsehen kann" Frank sah ihm in die Augen.
John erwiderte seinen Blick lange. Er mochte Frank, mochte ihn wie einen Vater. Doch konnte man jemanden mögen, der vielleicht gar nicht existierte? Konnte man jemanden vertrauen, den es nicht gibt?
Frank musste seine Gedanken gelesen haben. Er nickte ihm zu und sagte: "Es gibt da etwas, das wir dir erzählen sollten..."
Nun folgte eine Zusammenfassung der Ereignisse, die John bereits kannte (Mann, er hatte sie sogar durchlebt!). Die Zusammenfassung endete mit der Einlieferung in die Krankenstation des Drogendezernats, nachdem er die Mustax-Spritze bekommen hatte.
"Wir dachten, dass es nicht so schlimm sein würde. Zumindest hofften wir es", erzählte Frank und irgendwie hatte seine Stimme Ähnlichkeit mit der eines Priesters auf einer Beerdigung, "Aber es ist schlimm, John. Es ist sogar verdammt schlimm." Er deutete den anderen Besuchern die Krankenstation zu verlassen und sie befolgten den Befehl ihres Bosses. Dann setzte er sich neben John und sprach wieder so, wie er bisher immer mit ihm gesprochen hatte: "Die Ärztin nennt es Realitätsverfremdung. Du bekommst Anfälle, während denen du in einen komaartigen Schlaf fällst. Was du da träumst, mag ja sehr real sein, aber...", Franks Redefluss stockte und er sah John tief in die Augen. "Es ist so wahr wie die Gäste der Talkshows, die man am Nachmittag zu sehen bekommt."
John lächelte. Er wusste, wie sehr Frank diese Talkshows hasste. Er hatte schon so lange mit ihm zusammen gearbeitet, er kannte ihn besser als ein Hund seinen Fressnapf.
"Ich habe Durst", sagte John und zeigte seine vertrocknete Zunge. Sie war wirklich schon geschwollen und irgendwie fühlte sie sich taub an.
Frank nahm seinen Blick von John. "Du darfst aber nichts trinken. Die Droge..."
"Mustax!", unterbrach ihn John.
"...muss raus aus deinem Körper. Du musst sie ausdörren, verstehst du?"
John nickte, auch wenn er das Wort "dörren" noch nie in seinem Leben gehört hatte.
Schließlich ließ ihn Frank alleine mit seinem Durst und John starrte wieder auf die weiße Decke. Vielleicht wird ja alles wieder gut, dachte er, vielleicht merke ich, dass diese Anfälle nicht real sind, vielleicht kann ich sie austricksen. Es liegt alles nur in meinem Unterbewusstsein, ich muss es schaffen!
Dann kam das Summen.

Er erwachte auf der Couch des Psychiaters. Er hatte die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, um die Worte auf seinem Namensschild lesen zu können. "Max Weilinger" stand auf dem Schild, doch "Ralph, Kollege im Drogendezernat" las er in seinem Gesicht.
"Henri, Sie sind wach!" Die Mine des Psychiaters erhellte sich und formte ein hässliches Grinsen. "Wir haben uns schon Sorgen gemacht."
"Ich bin nicht Henri. Mein Name ist John, John McSender!"
"Agent eurer Majestät, was?", grinste der Psychiater zu Sonja, Henris Frau. Sie war nicht Johns Frau, sie war die Frau von Henri, jenes Typen, der gar nicht existierte, der nur in seiner Fantasie lebte, der gefangen war in einer Welt, die nicht wirklich war.
Henri gab es nicht, es gab nur noch John. Er wollte nie wieder lügen.
John sah Sonja an und versuchte in ihren Augen zu lesen. Sie machte sich wirklich Sorgen, dachte er. Es waren ehrliche Augen und ehrliche Sorgen sah er darin. Aber waren sie wirklich? Vielleicht gab es in seiner Welt, in der Welt von John McSender eine Frau, die ebenfalls Mustax genommen hatte und nun ebenfalls hier gefangen war. Vielleicht träumten sie gemeinsam, er sei Henri und sie sei Sonja. Vielleicht gab es jemanden in der Welt von John McSender, der...
"Ich liebe dich, Henri", flüsterte Sonja und Tränen rannen ihren Wangen herab.
John sah sie an, während er sich aufsetzte.
"Ich will ehrlich sein", sagte John und erzählte seine Geschichte, auch wenn die geschwollene, nach Wasser dürstende Zunge etwas schmerzte. Er musste es erzählen. Seinen Lebenslauf, von der Geburt, über seine Eltern, seinen Einstieg bei der Polizei und dann die Mustax-Spritze. Er erzählte von Frank und dem Summen. Und er erzählte von der Idee, dass Sonja auch nur jemand sei, der zufällig auf Drogen war.
Er wusste nicht genau, was er sich davon versprochen hatte. Vielleicht so etwas wie einen Aha-Effekt, alle glauben ihm und versuchen wieder in die Realität zu kommen. In Johns Realität.
Doch all das geschah nicht. Sonja versuchte nun so stark ihre Tränen zurückzuhalten, dass ihr Gesicht rot anlief und Max "Ralph" Weilinger hatte sich auf seinen Lederstuhl gesetzt und sah ihn an, als hätte er etwas anderes gehofft, aber genau das erwartet. Er erhob seinen Blick von seinem Notizblock und sagte mit ruhiger routinierter Stimme: "Und all das glauben Sie? Sie glauben allen ernstes, Sie seien ein Polizist des Drogendezernat namens John McSender? Sie glauben, Sie hätten den obersten Drogenmafieboss erledigt, hätten viele Auszeichnungen bekommen und seien jetzt etwas krank und träumen all das nur? Und Sie glauben, dass ich einer ihrer Kollegen sei, was mich zwar ehrt, was aber nicht hier her passt. Außerdem glauben Sie an eine andere Welt, in der es jemanden gibt, der so ist, wie ihre Frau und den gleichen Traum träumt? Das alles glauben Sie?"
Aus dem Mund des Psychiaters hörte es sich etwas seltsam an, aber er glaubte es. Er nickte.
Der Psychiater setze fort: "Sie glauben all das eher, als ein Buchhalter zu sein, der an Stress leidet, der eine wunderschöne Frau, Kind und ein nettes Haus besitzt, das zwar zu 90 Prozent der Bank gehört, aber trotzdem ihr Eigentum ist. Henri, besinnen Sie sich!"
John dachte nach. Es klang so unglaubwürdig, wenn es dieser Irre sagte, dass er zu zweifeln begann. Er ging im Zimmer auf und ab, hin und her, sah zu Sonja, sah zu dem Psychiater und sah in den Spiegel.
Dann verlangte er etwas zu trinken. Ralph brachte ihm ein Glas Wasser und er trank. Er trank das ganze Glas leer und wartete kurz. Er hatte Recht gehabt. Es war nur ein Traum und zwar einer, aus dem er nicht fliehen konnte. Es gab nur eine Möglichkeit.
John zerschlug das Glas auf dem Boden, hob eine Scherbe auf und zerschnitt sich die Pulsadern. Sonja und der Psychiater, der wie Ralph aussah verschwanden sofort. Ein Summen erschallte.

John McSender sprang auf und lief aus der Krankenstation in Franks Büro.
"Ich habe es getan, ich habe ihn umgebracht!", schrie er, doch es hörte sich nicht so an. Seine Zunge war geschwollen, seine Stimmbänder trocken. Er konnte nicht richtig sprechen, aber er hatte es verständlich gesagt. Frank musste es gehört haben, er musste einfach. Trotzdem sah er nicht so aus, als wäre er erfreut darüber.
"Setz dich!", sagte Frank ernst. Erst jetzt bemerkte John, dass noch eine zweite Person im Raum saß. Es war eine Frau, doch es war nicht Carol die Krankenschwester. Es war Sonja.
"Oh, Nicolas, was hast du getan?", fragte sie und weinte.

Plötzlich ertönte eine Sirene. Es war Alarmstufe Rot auf dem Drogendezernat. Ein Vibrieren stieg vom Boden auf und ließ das ganze Gebäude erbeben. Wände stürzten ein. Ein Bagger kam durch die Wand gefahren. Ein Mann saß in der Fahrerkabine, es war das Gesicht!
"John McSender, ich werde mich rächen! Es ist Herbst in der Gesellschaft", schrie er. Sein Körper war noch immer durchbohrt und immer noch strömte Blut aus den Einschusslöchern. "Die Rache des Toten!" Das Gesicht schoss auf John und traf ihn. Er spürte, wie die Kugeln seinen Körper durchbohrten, doch er fühlte keinen Schmerz. Einzig sein Hals schmerzte. Seine Zunge war geschwollen, so dass er nicht mehr atmen konnte. Er bekam keine Luft mehr.

"Und diesem hast du mehr geglaubt, als dem anderen Traum", sagte die Erscheinung, die sich früher Sonja genannt hatte. Dann ertönte ein Summen, sein Summen. Er hörte noch einen Seufzer hunderter Seelen und dann hörte er nichts mehr.



"Name?"
"Nicolas Maier"
"Geburtstag?"
"23.6.1981"
"Todesursache?"
"Verdurstet"
Michael Draster drehte sich um und sah seinen Kollegen ungläubig an. "Verdurstet?"
"Ja. Verdurstet!", bestätigte dieser, "Er ist mindestens sechs Tage in einer Art Traumkoma gewesen, bevor er gestorben ist. In sechs Tagen verdursten man schon mal."
Michael Draster nickte und drehte sich wieder um. Er konnte Tote nicht leiden. Er war zwar schon Jahre lang beim Drogendezernat, hatte schon viele Drogentote gesehen, aber es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich nicht so schnell. Oder nie.
"Art der Droge?"
"Stärkstes Halluzinogen, das momentan auf dem Markt ist"
"Mustax?"
"Ja"
"Datum der Einnahme?"
"Wahrscheinlich 4.3.2005"
"Vor zwei Wochen?", Inspektor Draster konnte es kaum glauben. Der Junge war etwa sechs Tage lang im Koma gewesen, hatte nur geträumt, tagelang und war schließlich verdurstet. Er musste so von seiner Scheinrealität gefangen gewesen sein, dass er schlißlich vielleicht gar nicht bemerkt hatte, dass er verdurstet war. Oder er konnte sich nicht schnell genug von seiner Welt befreien. Und dann hatte er noch gut eine Woche Zeit gehabt, genüsslich zu verwesen.
Michael drehte sich noch einmal um, um den Toten zu betrachten. Er konnte es zwar nicht leiden, aber es war nun mal sein verfluchter Job!
Er ging auf den Toten zu. Nicolas Maier hatte sich in seiner Wohnung Mustax gespritzt, sich auf einen Sessel gesetzt und war dann dort ausgetrocknet wie ein Blatt, dass im Herbst herab fällt. Er war ein Blatt und es war Herbst in der Gesellschaft.
Dann geschah etwas schreckliches, das ihn nachher noch in seinen Träumen verfolgen würde. Etwas, das er mitnehmen würde, wie ein trockenes Geheimnis. Niemand hätte ihm je geglaubt.
In dieser Nacht konnte er nicht einschlafen und er konnte es auch die restliche Woche über nur schwer. Er besuchte den Dezernats-Psychologen und allmählich wurde es besser. Doch noch Jahre später hörte er es manchmal, ganz leise und dezent, aber es war da. Es hatte sogar so viel Einfluss auf ihn, dass er Jahrzehnte später der Schwester des Bullheimer Krankenhauses sagte, er wolle keine Besucher in der darauf folgenden Woche empfangen. Er wusste, er würde bald sterben, doch niemand sollte das sehen, was er damals gesehen hatte.
Der tote Nicolas Maier hatte die halb verwesten Lider gehoben, ihn angesehen und ihm einen tiefen Schrecken in die Glieder geseufzt.
 
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Herrlich verwirrend

Andre (11.12.2002)

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