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5 Seiten

Weihnacht im November

Trauriges · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Mutti, kaufst du mir Schokoprinten mit Mandelsplittern?“
Die fünfjährige Marlies zupfte ihre Mutter am Mantel und setzte ihren unwiderstehlichsten Augenaufschlag auf, ohne jedoch die begehrten Köstlichkeiten aus den Augen zu lassen, die auf einem speziellen Ständer mitten im Gang des Supermarktes aufgeschichtet lagen, zwischen dem Katzenfutterregal links und der abgepackten Wurst rechts. Die Mutter wusste sehr wohl, dass ihre Tochter für Schokoprinten mit Mandeln fast alles andere stehen lassen würde, dennoch schüttelte sie den Kopf.

„Warum nicht?“ maulte Marlies enttäuscht.

„Weil noch nicht Weihnachten ist, darum nicht.“, antwortete die Mutter freundlich, aber bestimmt. „Wenn du jetzt schon anfängst, Printen, Spekulatius und Dominosteine zu essen, dann hast du im Advent schon gar keinen Appetit mehr darauf.“

Das sah Marlies ein. Einige Sekunden kam kein weiterer Kommentar, denn sie wusste nur sehr gut, dass ‚nein‘ bei ihrer Mutter auch ‚nein‘ hieß und dass weiteres Nachbohren nur dazu geführt hätte, dass Mutti die Geduld verlor. Doch nach einiger Zeit wollte sie dennoch wissen, wie lange es denn noch bis Weihnachten sei?

„Uh – mal sehen, wir haben jetzt die letzte Oktoberwoche. Dann kommt der ganze November, und dann ist der erste Advent. Gut acht bis neuen Wochen noch, würde ich sagen.“, antwortete Mutti.

„Was – noch soooooo lang?“ Marlies riss die Augen auf. Das war ja noch eine glatte Ewigkeit! Sie grübelte noch ein Weilchen weiter. „Das finde ich aber gemein! Ganz fies finde ich das, echt!“, platzte sie endlich heraus.

„WAS ist fies und gemein?“ Die Mutter, die gerade die Preise von Eduscho Gala mit denen von Jacobs Krönung verglich und mit ihren Gedanken ganz woanders war, schaute irritiert auf ihre Tochter herunter; den Disput um die Printen hatte sie bereits wieder vergessen.

„Na, das man schon so lange vor Weihnachten Schokoprinten und Lametta und Silberkugeln in die Läden stellt, die man dann doch nicht kaufen darf. Das ist gemein!“, beschwerte sich Marlies eifrig. „Da kommt einem die blöde Warterei ja noch einmal so lang vor. Frau Berkel, unsere Lehrerin, sagt auch, das ist alles nur Kom... Kunzumzwang!“ Ganz stolz war sie, dass sie das schwierige Wort behalten hatte und jetzt anbringen konnte.

Die Mutter nickte nachdenklich.
„Ganz Unrecht hast du sicher nicht“, gab sie endlich zu. „Es steckt allerdings noch mehr dahinter, als die meisten Menschen wissen. Aber wenn du mir versprichst mir zu helfen, dass wir die Einkauferei hier jetzt ganz schnell hinter uns kriegen und nicht mehr so viel fragst, dann verspreche ich dir, dass wir nachher in Cafè Bernhard gehen. Ich werde einen Kaffee trinken – mir tun sowieso die Füße weh – und du kriegst einen Kakao. Und dann werde ich dir erzählen, wie es kam, dass es in den Geschäften jetzt schon im Herbst weihnachtet. Das ist nämlich eine lange Geschichte.“

Sofort war Marlies mit ihrem Schicksal versöhnt. Kakao mochte sie nämlich fast noch lieber als Schokoprinten, und Geschichten liebte sie sogar über alles.



„Also, Mutti – du hast mir was versprochen“, erinnerte Marlies ihre Mutter, als sie endlich über ihren dampfenden Tassen saßen und die Mutter auch schon viel entspannter und weniger nervös ausschaute.

„Ja, richtig!“ Die Mutter nahm noch einen Schluck Kaffee, lehnte sich zurück und begann:

„Du musst wissen, dass früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, keinerlei Weihnachtsvorbereitungen vor dem Totensonntag gestattet waren. Der November gehörte den Toten, da wurde gebetet und getrauert, und sich auf Weihnachten zu freuen war nicht angebracht, ehe der Totensonntag nicht vorüber war und der Monat seinem Ende zuging.

Damals lebte in einem Dorf mit Namen Waldkotten ein kleines Mädchen, das hieß Anja. Anja war sehr, sehr krank. Ihre Eltern hatten sie gerade erst aus einer Kinderkrebsklinik geholt....“
„Mutti, das lügst du!“ wurde die Mutter von Marlies‘ empörter Stimme unterbrochen. „Das habe ich im Discovery-Channel gesehen, dass die Kinder von den Krebsen im Meer wohnen. Die kommen in keine Klinik nich‘!“

Jetzt musste die Mutter doch lachen. Und erklärte Marlies, dass diese Klinik nichts mit kleinen Krebsen zu tun hatte, sondern dass die Kinder, die in dieser Klinik liegen mussten, eine ganz schlimme Krankheit hatten, für die es auch heute oft keine Heilung gab, worauf Marlies‘ Lachen ganz schnell verrutschte. Mucksmäuschenstill hörte sie weiter zu.

„Anjas Eltern waren nicht gerade superreich, aber es ging ihnen auch nicht gerade schlecht“, fuhr die Mutter weiter fort. „Sie wären gerne bereit gewesen, Anja alles zu kaufen, was sie hätte haben wollen, denn der Doktor hatte ihnen gesagt, dass sie ihr Kind nach Hause holen sollten – im Krankenhaus konnte man ihr nicht mehr helfen, und es stand fest, dass sie nicht mehr gesund werden würde. Selbst nach Amerika, nach Disneyland wollten sie mit Anja fahren. Das Problem war nur: Anja wollte weder Geschenke, noch Reisen. Das einzige, was sie wollte, war etwas, was ihre Eltern ihr nicht kaufen konnten: Sie wollte Weihnachten feiern. ‚Das schönste, herrlichste, tollste Weihnachtsfest der ganzen Welt‘, so sagte sie immer und immer wieder.

Der Sommer ging vorbei, der September war vorbei, es wurde Oktober. Und langsam wurde allen klar, dass es Anja schlechter und immer schlechter ging. Zuerst wurde sie nur sehr schnell müde, dann verbrachte sie mehr und mehr Zeit im Bett und stand nur stundenweise auf – und jetzt war es schon so weit, dass sie ihr Bett gar nicht mehr verlassen konnte. Und langsam wurden sich die Eltern bewusst, dass Anja auf gar keinen Fall mehr bis Weihnachten durchhalten würde. Dennoch sprach sie auch jetzt noch von ihrem ‚tollen Weihnachtsfest‘ und sprach im Fieber von Engeln und Wichteln.

Anja hatte noch eine Schwester, die schon etwas älter und verständiger war, und als sie sah, wie sehr sich Anja nach Weihnachten sehnte und wie traurig die Eltern waren, dass sie den Wunsch der Kleinen nicht erfüllen konnten, hatte sie eines Tages eine Idee. Sie ging zum Bürgermeister und erzählte ihm ihre Sorgen. Waldkotten war, musst du wissen, ein ganz, ganz kleines Dorf, in dem nur sechshundert Leute lebten, die einander alle kannten. Der Bürgermeister dachte einen, zwei Tage nach, und dann, am 31. Oktober berief er eine Bürgerversammlung im alten Rathaus ein. Und er bat alle Bewohner des Dorfes, auch sicher zu kommen, es sei sehr dringend.

In dieser Nacht, der Nacht vor dem ersten November, kam in ganz Waldkotten niemand zum Schlafen, mit Ausnahme von Anja und ihrer Familie. Die ganze Nacht durch wurde gekarrt, geschleppt, gesägt und gehämmert.

Am nächsten Morgen traute Anjas Schwester ihren Augen nicht! Denn in den Schaufenstern des Bäcker- und des Metzgerladens, des kleinen Supermarktes und überall sonst waren die Auslagen weihnachtlich geschmückt. Die beweglichen Märchenbilder, die jedes Jahr zur Adventszeit die Kinder von Waldkotten entzückten, waren vor dem Rathaus aufgebaut, und über der Hauptstraße spannten sich glitzernde Lichterketten. Selbst der große Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz war geschmückt und funkelte im Licht von tausend Kerzen.

Ja, was soll ich Dir weiter erzählen. Man berichtete Anja, dass es jetzt Weihnachten sei. Schwierig war das nicht, denn Anja litt oft unter Fieber und wusste hinterher nie so genau, ob jetzt Stunden, Tage oder Wochen vergangen waren. Selbst der örtliche Elektriker beteiligte sich an der Verschwörung, denn er legte eine direkte Leitung zum Radio von Anjas Eltern und spielte vom Nebenhaus Weihnachtsplatten ab, so dass auch Weihnachtsmusik aus dem Radio erscholl. Und natürlich glaubte Anja alles.

Damals wie heute kamen aber auch andere Leute nach Waldkotten. Lastwagen, die Obst, Gemüse und Fleisch in die Geschäfte brachten, Leute, die mit ihren Wagen einfach durch Waldkotten durch mussten oder auch Besucher. Sie sahen, dass hier schon im Oktober weihnachtlich geschmückt war und sagten zu sich: ‚Die Leute in Waldkotten, die sind schon clever. Klar, wenn sie Weihnachtssachen schon im Oktober anbieten, haben sie viel mehr Zeit, diese Sachen auch zu verkaufen. Dadurch verdienen sie natürlich auch viel mehr als sonst in den drei Wochen zwischen Totensonntag und Heiligabend möglich ist. Was die Waldkottener können, das kann ich auch. Nächstes Jahr mache ich es ebenso‘. Und einer schaute vom anderen ab und dachte sich: ‚Oh, toll. Nächstes Jahr mache ich’s genauso‘.

Siehst du, so kam es, dass in diesem Jahr in Waldkotten schon im November Weihnachten gefeiert wurde. Und so ist es auch gekommen, dass – von Waldkotten aus und dann immer weiter und weiter – die Geschäftsleute anfingen, ihre Geschäfte oft schon im Oktober auf Weihnachten vorzubereiten.“, schloss die Mutter.

Nachdenklich trank Marlies ihren Kakao.

„Du – was ist denn eigentlich aus der Anja geworden? Wurde die am Ende wieder gesund?“, wollte sie von der Mutter wissen.

Die schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Anja starb zwei Tage nach diesem vorgezogenen Weihnachtsfest – genau am 03. November 1959. In diesem Jahr wurde am 24. Dezember in Waldkotten kein Weihnachtsfest mehr gefeiert.“

„Normalerweise erzählst du aber nicht so traurige Märchen“, beschwerte Marlies sich und verzog ihr kleines Gesicht.

Liebevoll strich die Mutter ihr über die Haare. „Wäre es ein Märchen gewesen, dann wäre gewiss die gute Fee erschienen und im letzen Augenblick wäre alles wieder gut geworden“, sagte sie traurig. „Aber leider ist diese Geschichte wahr. Du erinnerst dich an Anjas große Schwester?“ Marlies nickte: „Klar!“

„Das war ich“, sagte die Mutter leise. Ihre Augen sagten Marlies, dass sie innen in sich drin, ganz weit weg war.

Marlies sagte jetzt gar nichts mehr.

„Komm, Marlies – es wird Zeit, dass wir nach Hause gehen“, meinte die Mutter endlich seufzend und erwachte aus ihren Erinnerungen. „Ich gehe nach vorn und zahle. Bist du so lieb, stellst derweil das Geschirr zusammen, packst unsere Sachen in meine Tasche und ziehst dir schon mal den Mantel an?“

Natürlich beeilte sich Marlies, Muttis Bitte nachzukommen. Die tuschelte vorne noch mit der Kassiererin und Marlies sah, dass ein Päckchen den Besitzer wechselte. Mit der Hand auf dem Rücken und geheimnisvollem Lächeln trat die Mutter endlich an den Tisch heran.

„Die Geschichte war ein bißchen bitter. Ich hätte sie dir vielleicht nicht erzählen sollen“, meinte sie. „Vielleicht ist das hier süßer“. In der Hand, die sie hinterm Rücken zum Vorschrein brachte, hielt sie ein Riesenpäckchen Schokoprinten mit Mandelsplittern, in glitzerndes Cellophan verpackt und einer großen, steifen Goldschleife umwunden.

„Danke, Mutti. Bist halt doch die Beste“, sagte Marlies und bemühte sich, froh auszusehen.

Aber eigentlich hatte sie gar keinen Hunger mehr.
 
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Kommentare  

Eine wirklich schöne Geschichte! Dieselbe Frage wie Marlies stelle ich mir nämlich auch alle Jahre wieder ("Das ist gemein!"), und die Geschichte versöhnt mich ein wenig mit dem "Kunzumzwang". :)
Besser als Stefan kann ich es auch nicht sagen: "nett und schön mit etwas Ernst und ohne kitschig zu sein".
Um auch ein wenig Kritik anzubringen: du hast mir gerade enormen Appetit auf Schokoprinten gemacht, und bei mir ist er (leider) nicht vergangen... Und die "‚nein&#8216" stören ein wenig; aber das ist ein altes Problem, da kann man drüber hinweglesen.
5 Punkte


FrozenYak (01.02.2003)

Ich habe mir mal vorgenommen, die Webstories-AutorInnen nicht ständig mit bekannten Schriftstellern zu vergleichen, aber es geht nicht anders:
Deine Geschichte erinnert mich an die Schreibe von Astrid Lindgren: genauso nett und schön mit etwas Ernst und das Ganze ohne kitschig zu sein.
Kann mich Wolzi nicht anschließen. Ich erkenne die Wärme in der Geschichte sehr gut. Ist wohl Ansichtssache...
Von mir jedenfalls 5 Punkte.
(es kommt noch eine Mail! bitte lesen!)


Stefan Steinmetz (25.11.2002)

EINFACHE GESCHICHTE IN DER REAL ERLEBTES MIT FANTASIE WECHSELT, DENKE ICH.
DIE SACHE MIT DEM DORF KANN ICH MIR VORSTELLEN, DAS DIE ANDEREN GESCHÄFTE DIE IDEE ÜBERNOMMEN HABEN, IST NATÜRLICH REINE FANTASIE.
SOLLTE DIE GANZE GESCHICHTE EIN PRODUKT DEINER FANTASIE SEIN, DANN HAST DU GUT FANTASIERT.
ALLERDINGS WIRKT DIE STORIE KALT UND EMOTIONSLOS, DA FEHLT IRGENDWO DIE MUTTER BZW. DIE SCHWESTERWÄRME.
TOCHTER UND SCHWESTER WERDEN ZU SEHR ALS SACHE VOM LESER WARGENOMMEN.
(MEINE MEINUNG) 3 PUNKTE VON MIR.


Wolzenburg (01.11.2002)

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