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12 Seiten

Chironian Story 004: Das Equilibrium

Romane/Serien · Fantastisches
In der Natur des Universums liegt es, gegensätzliche Kräfte auszugleichen. Diese Kräfte streben an, einen Einklang, ein Gleichgewicht, das Equilibrium herzustellen.

Wie ein Gleichgewichtskünstler, ein Equilibrist versucht auch jedes Wesen sowohl den Geist als auch die Seele im Einklang zu bringen. Diesen Zustand, das Equilibrium versucht jeder Chironian unbewusst oder bewusst zu erreichen. Dabei muss er zwischen unterschiedlichen oder sich widersprechenden Einflüssen, Gedanken, Wünschen, Hoffnungen, Handlungen, Kräften entscheiden. Lehnt man sich dagegen auf, kostet das Kraft und Energie. Das Equilibrium ist also viel mehr eine innere Kraft, die nach Ausgleich, Balance und Ausgewogenheit sucht, und steckt in uns allen. Ob sie uns nun bewusst wird oder nicht, oder in Form von Religion oder Mythen zu Tage tritt, ist es diese Kraft, die uns nach diesem Zustand des Equilibriums suchen lässt. Liebende Menschen, die einem Halt geben, Vertrauen oder Geborgenheit schenken, die Familie, Eltern, Kinder und Freunde machen diese tägliche Suche leichter...

Das Equilibrium

Da war er wieder, dieser Schalk in seinen tiefblauen Augen, das unverkennbare Funkeln, doch wieder etwas zu tun, was niemand in der Kolonie sich wohl trauen würde. Es war schon sehr mutig und draufgängerisch, so ganz alleine auf den Hügel oberhalb der Kolonie zu klettern, außerhalb der schützenden Glaskuppeln, abseits des Perimeter-Schutzschildes, mit nichts anderem als einer ihm sauerstoffspendenden Gesichtsmaske, einer Sauerstoffflasche und einer Kiste. Zorkon hatte vielleicht kein Gefühl für die Gefahr und das Risiko, das er einging. Es war ihm auch mit Sicherheit nicht bewusst, dass wenn er etwa stürzt, er wohl kaum Hilfe bekommen würde und in der fast sauerstofffreien Atmosphäre Thulenias wohl kaum überleben könnte.

Schon beim Bau der Glaskuppeln waren zwei Chironians umgekommen. Und so wagten nur noch die mutigsten Männer die Kolonie zu verlassen, um das wichtigste an Reparaturen an den Kuppeln oder den Gebäuden sowie dem Glashaus vorzunehmen. Niemand würde sich auch nur mehr als einige Meter von den Kuppeln entfernen. Und schon gar nicht auf die Hügeln am Rande des Talkessels klettern, in dem die Kolonie liegt.

Aber wer sollte Zorkon von seinem Vorhaben abhalten? Seine Mutter Natali war vor Wochen gestorben. Sein Vater Maldan schien auf das Verantwortungsbewusstsein seines Sohnes zu vertrauen. Er sagte auch immer wieder zu Zorkon "Mein Sohn, Du bist jetzt alt genug, um auf dich selbst zu achten." Dabei setzte er einen ernsten Blick auf, obwohl er eigentlich im Innersten zu wissen schien, dass Zorkon das nicht wirklich ernstnehmen würde. Maldan wusste von Zorkons Freiheitsdrang und Forschergeist. Trotz Natalis Tod hatte Maldan keine sehr väterliche Verbindung zu Zorkon aufbauen können. Zorkon hatte es versucht, doch sein Vater war einfach zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Die Enge der Koloniegebäude und die Monotonie, in der das Leben abzulaufen schien, brachten Zorkon fast zur Verzweiflung. Getrieben von einer inneren Rastlosigkeit lief Zorkon, wie ein Tier, das man in einen Käfig gesperrt hatte, durch die Räumlichkeiten der Koloniegebäude.

Zorkon war kein Fantast wie Isabel, die oft tagelang am Fenster saß und in das Blaue träumte. Zorkon konnte diesen Schwärmereien seiner Schwester nichts abgewinnen und er ließ sie das auch oft spüren. Seine Art und Weise ihr die Realität klar zu machen, war dabei teilweise sehr verletzend. Oft merkte er es auch gar nicht, wenn er sie all zu grob aus ihren Träumereien und Hoffnungen riss. Für ihn war die trostlose, düstere Realität einfach omnipräsent und er konnte einfach nicht still sitzen und, wie er es nannte, sich irgendwelchen Hirngespinnsten hingeben. Wie gerne wäre er aber der Gegenwart entflohen. Wie gerne hätte er sich selbst vor Augen geführt, wie die Landschaft dieses unwirtlichen Wüstenplanetens mit einer grünen Pflanzendecke aussehen möge, mit Flüssen, Seen, mit normalen Häusern und Chironians, die sich frei von jeder Kuppel und frei von Sauerstoffgeräten bewegen könnten. Isabel, dieses zarte Mädchen, diese hübsche junge Frau, seine Schwester konnte das. So zerbrechlich wie Isabel schien, so zerbrechlich waren auch ihre Wünsche und Hoffnungen. Zumindest dachte er das. Die Realität hingegen holte ihn, Zorkon immer wieder abrupt auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Unfähigkeit etwas aus eigener Hand zu ändern, ließ in ihm eine Rastlosigkeit aufkommen.

Am Liebsten hätte er wohl den Planeten verlassen und das Tal mit den säumenden Bergen. Berge, massive Felsen, die man ständig sehen konnte. Berge, die seine Sicht zum Horizont einengten. "Irgendwann werde ich auf einen dieser Berge klettern" hat sich Zorkon geschworen. Doch dieses Versprechen war neben der Krankheit seiner Mutter in den Hintergrund gedrängt worden. Er hatte für Natali da sein müssen und ihr das geben, was kein anderer bereit gewesen war: Gesellschaft und eine Stütze bei ihren Schmerzen. Er hatte die anderen verachtet, dass sie ihn so allein mit seiner Mutter ließen. Doch jetzt konnte er sie verstehen. Trotzdem war er nicht Isabel. Er konnte nach Natalis Tod sein Leben nicht einfach so hinnehmen. Er musste hier heraus. Einen ersten Schritt hatte er gerade getan. Jetzt stand er auf einem Hügel von knapp 100 Metern Höhenunterschied und blickte auf die von hier aus so kleinen Gebäude, die das Leben der Chironians ermöglichten.

Zorkon war schon ganz gespannt, wie seine Halbschwester Isabel reagiert, wenn er ihr von seinem Abenteuer erzählen würde. Er konnte sich ihr Entsetzen regelrecht bildlich vor Augen führen. Und noch viel größer würde ihr Entsetzen wohl sein, wenn sie erfahren würde, dass sich Zorkon schon vor Wochen aus Maldans Glashaus einen Setzling der Ebulastaude geholt hatte, um ihn in seinem Zimmer in einer Kiste heimlich großzuziehen. Nun war die Pflanze groß und stark genug, um sie außerhalb des Glashauses und der Kolonie anzupflanzen.

Vor einigen Wochen während der Reparatur eines Perimeter-Schild-Generators hatte Zorkon ein einschneidendes Erlebnis gehabt. Zusammen mit Sorton hatte er einen sehr schweren Emitter eingebaut und war dabei dermaßen ins Schwitzen gekommen, dass ihm eine Schweißperle über das Sichtglas der Gesichtsmaske rann. Sein Blick verfolgte die Spur des Tropfens bis dieser von der Maske auf den Boden tropfte. Als er den Tropfen auf dem Boden suchte, sah er dann nur mehr einen dunkelbraunen Punkt, der sich vom restlichen orange-roten Wüstenstaub abhob. Wie versteinert blieb sein Blick an dieser Stelle für einige Sekunden hängen. Da schoss ihm ein Gedanke in den Kopf. Wie wäre es, wenn Pflanzen außerhalb des Glashauses angepflanzt werden würden? Wasser gab es auf der Oberfläche Thulenias keines, obwohl es viele Spuren davon gab. Ehemalige Wasserläufe waren in der Umgebung der Kolonie zu erkennen. Sandflächen deuteten auf Erosion und Sedimentation hin, die durch Wasser passiert sein musste. Wasser war auch in der Kolonie einer der wichtigsten Schätze, sodass sich die Chironians auf Wassersuche begaben. Das schien anfangs auf Thulenia wenig von Erfolg gekrönt zu sein, doch mit Sondierungen und Tiefenbohrungen fand man dann in etlichen 100m Tiefe Wasser, das dort seit tausenden Jahren in Gesteinsschichten verborgen war.

Wasser war also nun zu mindest ausreichend da und so konnte Zorkon seinen Plan auch ohne Gewissensbisse in die Tat umsetzen. Sein Ebulasetzling sollte außerhalb der Kuppel und des Glashauses bestehen können. Tagelang hatte Zorkon über dem Hauptcomputer des Kolonisationsschiffes gehangen und Informationen und wissenschaftliche Berichte über Pflanzen studiert. Die Sensoren des Schiffes hatten auch die genaue Zusammensetzung der Atmosphäre gemessen. Ausreichend Kohlendioxid, viel Stickstoff, etliche Edelgase, ein wenig Wasserstoff, jedoch eigentlich kein Sauerstoff. Keiner der Wissenschaftler konnte sich dieses Phänomen erklären. Als hätte man Thulenia den lebenswichtigen Sauerstoff einfach entzogen, einfach weggesaugt. Unter den Chironians kamen deswegen schon die unterschiedlichsten Vermutungen auf. Dass der Planet verflucht sei und nicht für Leben bestimmt, war etwa oft von den Insassen der Kolonisationsschiffe zu hören. Die Jungen, die in der Kolonie auf die Welt kamen, konnten das nicht wirklich glauben. Auch Zorkon wollte das einfach nicht glauben. Auch wenn er den Grund nicht kannte, wollte er mit dem Ebulastrauch einen neuen Sauerstoffspender pflanzen und dafür würde er auch jeden Tag in diese unwirtliche Wüste hinausgehen und das Wasser dorthin schleppen.

Zorkon war also deswegen auf den Hügel geklettert und hatte auch schon einen guten Platz erspät. Eine sandige Fläche unweit eines ehemaligen Flusslaufes.

Er sah noch einmal auf das Tal hinunter. Er lächelte gedankenverloren, holte tief Luft und nahm schließlich seine Gesichtsmaske ab. Es fühlte sich gut an. Befreiend. Leicht. Schön. Langsam begannen Farben und Formen vor seinen Augen Gestalt anzunehmen. Bevor er sie jedoch scharf sehen konnte, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf – Was mache ich da? Werde ich jetzt schon ein Träumer wie Isabel? Ich muss hier weitermachen. Ich will meiner Schwester ihre Träume ermöglichen können, selbst wenn ich nicht daran glaube… Oh, Mutter, hilf mir!
Schnell setzte er die Maske wieder auf und ein leichtes Schwindelgefühl ergriff von ihm Besitz, dass er sich setzen musste. Schon schoss der Sauerstoff in seine Lungen zurück. Auch seine Gedanken waren bald wieder klar und die Realität holte ihn ein.

Nach ein paar Minuten ließ das Schwindelgefühl wieder nach und Zorkon stand auf. Er stieg gemächlich den Abhang des Hügels hinunter. Noch einmal schweiften seine Blicke über den Horizont. Ach was dieser Hügel doch für eine ausgezeichnet Aussicht zu bieten schien.

Die schmale Sichel Rhydorios war in südöstlicher Richtung aufgegangen. Er war der größte der Monde Thulenias. Die Chironians hatten in Rhydorio benannt, weil er wie ein großer "silberner Freund" oft die Nächte erhellte. Kaum ein Mond könnte wohl so groß sein wie er und dermassen stark leuchten. Lediglich die alten Chironians, die die Flucht und die Sklaverei auf Nyrvulia erlebt hatten, werden sich wohl über diesen nächtlichen Begleiter gefreut haben.

Einst auf Nyrvulia, dem Planeten des schwarzen Lichtes, der ewigen Nacht, wären die Chironians über jeden kleinen Lichtschein froh gewesen. Nicht einmal die Sonne Nyrvulias konnte auch nur annähernd so stark leuchten, wie das milde Licht Rhydorios.

Den auf Thulenia geborenen jungen Chironains war das nicht bewusst, Sie beschwerten sich nur immer darüber, dass man in einer Vollmondphase von Rhydorio und Aurcamio, dem zweiten Mond Thulenias kaum schlafen konnte, so hell war es.

Heute war es ein regelrechtes Schauspiel als Rhydorio hinter den hohen Bergen im Süden aufging. Seine silbern leuchtende Sichel zerschnitt regelrecht den durch die heiße Luft flimmernden Horizont. Schon tausende Male hatte Zorkon den Begleiter Thulenias aufgehen gesehen. Aber nie zuvor schien ihm das so beeindruckend wie an diesem späten Nachmittag ausserhalb der Koloniegebäude. "Komisch" dachte Zorkon. "Irgendwie wirkt heute Rhydorio heute so viel größer?"

Sein Erstaunen und die Unachtsamkeit ließ Zorkon straucheln. Einen größeren Stein am Fuße des Hügels hatte er übersehen, so sehr war sein Blick auf den Horizont und Rhydorio gebannt. Erst als die Steine in den weicheren Sand des Flussbettes übergingen, schien sich auch sein Blick wieder auf den Boden und den noch zu nehmenden Weg zu richten.

Wie mächtig musste wohl der Fluss gewesen sein, der hier durchlief.
Ein Gefühl des Unbehagen kam in ihm auf. Was konnte so etwas bewirken? Wo war das Wasser? Wieso war das hier so eine Wüste, wenn es doch mal viel Wasser gegeben haben muss? Das waren alles Fragen, die sich Zorkon und die Chironians in der Kolonie noch nicht erklären konnten.

Und diese Unklarheit trug auch nicht gerade dazu bei, dass sich die Chironians hier auf Thulenia sicher und heimisch fühlten.

Aber was war hier passiert? Die Chironians hatten ein Wort für eine solch große Katastrophe. Nysch, die große Katastrophe, die Auslöschung jeglichen Lebens, der Weltenuntergang,. Sie vermieden es tunlichst dieses Wort in den Mund zu nehmen, wenn sie über Thulenias Vergangenheit redeten. Zu sehr war doch die eigene Angst zu vernehmen, wenn sie an ihre ungewisse Zukunft hier auf Thulenia dachten.

Selbst der sonst so furchtlose und mutige Zorkon war hier am so weiten mächtigen Talboden dem Gefühl ausgesetzt, klein und hilflos zu sein. So befreiend es außerhalb der Koloniegebäude auch war, so furchteinflößend ungeschützt auf der anderen Seite ging er hier durch diese weiten Sandflächen.

Hätte Zorkon nicht sein Ziel vor Augen gehabt, wäre wohl auch sein Schritt unsicher geworden. Schritt für Schritt grub sich sein Schuh in den tiefen Sandboden. Das war als solches schon ein ungewohntes, unsicheres Gefühl.

Endlich kam er an seinem Ziel. Er kniete nieder und grub mit seinen Händen ein kleines Loch in den weichen Sand. Die Ebulastaude würde keine Probleme mit dem Boden haben. Es war ein hartnäckiger Strauch, der sich in trockenen Wüstengebieten angeblich genauso heimisch fühlte, wie in dem angenehmen Klima eines Gewächshauses. Nun, Zorkons Staude war für seine Größe ein beachtlicher Busch geworden und wenn eine Pflanze in diesem Gebiet überleben konnte, war das diese gesunde Staude. Ein Setzling von Maldans starkem Ebulastrauch. Es gab kein schöneres Geschenk an diese leblose Wüstenlandschaft von Thulenia.
Zorkon schüttete ein wenig mitgebrachtes Wasser in die Grube und setzte die Pflanze ein. "Ich wollte es schon immer tun, Mutter. Ich tue das für dich und für die Kolonie. Sie ist dein Vermächtnis. Hilf mir, dass diese Pflanze überlebt. Ich habe das nur für uns getan. Sie darf nicht sterben. Das würde sonst bedeuten, dass es hoffnungslos wäre, auf diesem Planeten auf Leben zu hoffen. Bitte wache über diese Pflanze."
Ein leichter Wind kam auf. Er wurde immer stärker. Zorkon, der schon oft ausserhalb der schützenden Kuppel arbeitet hatte, kannte noch keinen Wind. Schon gar nicht einen derart starken. Auch hatte noch nie jemand von einem Wind berichtet. Überrascht sah Zorkon auf den Sand, der sich wie eine Herrschar kleinster Tierchen auf einmal an ihm vorbei zu bewegen schien. Korn für Korn huschte über den Boden. Korn für Korn schien aufzuspringen und weiterzuspringen. Böhe um Böhe brachte neue Sandkörner, die auf den kleinen Strauch einprasselten. Bald bildeten sich kleine Falten im Sand und die Staude sah ein wenig störend und hilflos inmitten der roten Wüste aus. Doch als Zorkon noch einmal ein wenig Wasser auf den Strauch goss, schien ein leichter Schauer durch die zähen Äste zu laufen. Zorkon schüttelte energisch den Kopf. Er sollte langsam zurück. Nach hause. Aber war denn die Kolonie wirklich sein zuhause?

Ein leises, elektronisches Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Er schaute auf die Anzeige an seinem linken Handgelenk, die ihm Druck und Sauerstoffgehalt ablesen ließ. Der Sauerstoff wurde knapp. 3 1/2 Stunden hätten ihm die Sauerstoffflasche versorgen sollen. Doch allzu schnell schien er den Sauerstoff verbraucht zu haben. Fluchend stand Zorkon auf und folgte seinen Fußspuren zurück. Doch der Wind hatte die Eindrücke im Sand verwischt und überall lagen die rauen Sandfalten der Wüste. Plötzlich kam ihm dieser Anblick nicht mehr schön sondern beängstigend vor. Die Wüste war so bedrückend. So einsam. Und er stand hier allein und schutzlos. Er musste hier so schnell wie möglich weg. Der Sand knirschte unter seinen Schritten sonderbar und unheimlich. Er hatte das Gefühl, dass dieses Geräusch hier falsch war. Es gehörte nicht in die tiefe Stille, die er hier gebrochen hatte. Hatte er denn überhaupt das Recht, hierher Leben zu bringen? War dieser Ort nicht ein Teil stiller Schöpfung, die ewig unangetastet von Leben bleiben sollte? Jetzt war es zu spät. Er hatte den Frieden gebrochen. Und er hatte das Leben auch hier heraus gebracht. Hatte er hier das Gleichgewicht gestört? Doch wie sollte hier, wo es nichts gab, ein Gleichgewicht herrschen? Schon einmal hatte das Leben sich selbst vernichtet. Doch hier würde so etwas nicht geschehen. Es war gut, dass er die Staude hier gepflanzt hatte! Er forderte ein Recht an die Natur, dass ihm und den anderen Chironians zustand: ein Zuhause. Die Kolonie war ein Unterschlupf, doch ein wirkliches Zuhause konnte keiner darin finden. Zorkon hatte den ersten Schritt getan, den Chironians ein solches Zuhause zu schaffen…

Langsam wurde es dunkler. Zorkon schüttelte die Panik ab, die ihn zu übermannen drohte und lief jetzt deutlich schneller. Ein leises Piepen kündigte an, dass seine Sauerstoffreserven zur Neige gingen. Der rote Sand verblasste in der Dämmerung und machte den dunklen Grautönen Platz, die bedrohlich auf Zorkon einwirkten. Der Wind wurde stärker und hinderte Zorkon am Weiterkommen.

Doch hatte er schon den Rand des ausgetrockneten Flussbettes erreicht und konnte auf eine kleine Geländekante steigen, ab der es nicht mehr weit zur Kolonie war. Ein Schleier aus Sand wirbelte um ihn herum. Der Wind schien noch weiter zu zunehmen. Doch die Kolonie war nun nicht mehr so weit weg.

Für einen Moment hielt Zorkon inne. Einen Blick mußte er schon noch zurückwerfen. Sich zu mindest die Stelle einprägen. Er drehte sich um und versuchte in der Ferne den Strauch auszumachen. Doch viel war nicht mehr zu erkennen. Sein Blick schweifte wieder zurück aus dem Tal über die Berge. Doch da sah er Aurcamio, dicht hinter Rhydorio aufgehen. Konnte das sein? Beide Monde hatten doch so verschiedene Bahnen. Aurcamio war zwar nicht so groß wie Rhydorio, dennoch leuchtete er in einem wunderschönen Kaminrot, was ihm auch den Namen einbrachte. Auch die Umlaufzeit war um einiges kürzer als die Rhydorios. Das hatte Zorkon gelernt und so wusste er gleich, dass Aurcamio sich bald hinter Rhydorio schieben musste. Die Monde, die Gezeitenkräfte und wie diese sich auf den Planeten auswirkten, schossen Zorkon auf einmal wirr durch den Kopf. So vieles hatte er in Astrophysik gelernt und nun schien auch alles einen Sinn zu machen. Der Wind, die Monde, die Gezeitenkräfte, die die Winde verursachten.

"NEIN Zorkon! Nein... lauf weiter" sagte Zorkon zu sich selbst. Schon hatte er wieder mit Laufschritten einige Meter zurück zur Kolonie überwunden. Doch da auf einmal ein elektronischer Dauerton. Der Sauerstoff war zu Ende. Verzweifelt schleuderte er die Sauerstoffmaske von sich und kämpfte sich weiter. Er rang nach Atem in dieser sauerstofflosen Luft, nach Gasen, die eigentlich tödlich auf ihn wirken sollten. Tränen traten in Zorkons Augen. Sein Blick verschwamm. Da stolperte er und fiel zu Boden. Er würde es nicht zur Kolonie schaffen. Verzweifelt sah er auf den Himmel und rief nach Natali. Rhydorio und Aurcamio schienen in einem milden Licht auf ihn herab und spendeten ihm in der grauen Düsternis Licht. Sie schimmerten so hell und schön wie immer. Doch wo war der dritte Mond? Wo war Silvanio? Hatte seine Bahn ihn denn nun auch hinter Rhydorio geführt?

Zorkon lag am steinigen sandigen Boden. Mit einer Hand stützte er sich auf. Ein Gefühl von Leichtigkeit ergriff von ihm Besitz. Als ob er abheben würde und fliegen könnte. War das schon der Erstickungstod? Seine Gedanken waren noch klar. Er versuchte sich noch einmal aufzuraffen, doch hatte er sich wohl bei dem Sturz schwerer verletzt. Enttäuscht sackte er zusammen.

Die Felsen ringsum krachten auf einmal. Sie schienen zu seufzen. Als ob von ihrer eignen schweren Last erleichtert wären. Sandstürme tobten auf einmal und stoben Richtung Himmel. Höher und höher schraubten sich die Staubwolken Richtung Rhydorios und der anderen beiden Monde, die hinter ihm verschwunden waren.

Wie selten musste so etwas eintreten?

Zorkon drehte noch seinen Kopf Richtung Kolonie. Er konnte ihn schon gar nicht mehr halten. Wo war die Hilfe? Wer wusste überhaupt, dass er außerhalb der Kolonie war? Da schloss er die Augen, die Kraft reichte einfach nicht mehr.

Plötzlich fühlte er etwas. Er konnte sich das nicht erklären. Was war das? Er dachte er hätte Isabel gehört oder viel mehr gespürt oder gedacht, dass sie sich Sorgen um ihn macht. Zorkon konnte sich das nicht erklären. Nun vermochte er Maldan zu spüren. Der Besorgnis über die Naturereignisse zu fühlen schien. Wo ist Zorkon? konnte er wahrnehmen...

Auf einmal hörte er eine ihm bekannte Stimme. "Zorkon mein Sohn." Nein das konnte einfach nicht wahr sein. Er hörte tatsächlich Natalis Stimme. "Zorkon. Ich mache Dir das Equilibrium zum Geschenk. So wie die Monde ihre Kraft konzentrieren, so konzentriere Du auch Deine Suche nach dem Equilibrium. Suche nach dem Einklang zwischen Herz, Gedanken und Kraft. Lass Dir dabei auch helfen Zorkon, auch wenn Du das nicht willst. Ich kenne Dich, Deinen Sturkopf. Du lebst in Extremen. Versuche diese zu mildern und fokusiere Deine Kraft für all die Dinge, die Du erreichen willst. Glaube daran Zorkon... glaube daran..." Die Stimme in seinem Kopf entschwand. "Maa!... Maaaaa!" brüllte Zorkon mit letzter Kraft.

Es war ein unwirtlicher Abend in der Kolonie. Unwirtlich war vielleicht sogar der falsche Ausdruck hierfür. Kaum einer der Chironians wollte sich das Naturschauspiel ansehen. Fast ein jeder hatte sich in den Kellerbereich unterhalb des Hauptgebäudes verkrochen. Verkrochen vor Angst, Ungewissheit und einfach nur dem Bedürfnis folgend, doch etwas Sicherheit zu verspüren.

Als die Chironians auf Thulenia landeten, hatten sie nur das große Kolonisationsschiff. Das bot genügend Platz. Bald wurden dann weitere Gebäude wie etwa das große Gewächshaus gebaut. Auch wurde das Kolonisationsschiff immer mehr in den Gebäudeverband integriert, so dass bald nicht mehr viel von einem flugtauglichen Schiff zu sehen war.

An der Stelle, wo das Kolonisationsschiff aufsetzte, war der Untergrund massivstes Gestein. Um den Ausbau zu erleichtern, entschloss man sich schon zu Beginn die großen Landestützen einzufahren und das Kolonisationsschiff auf den Boden abzusenken und dort zu verankern. Maldans Bruder Sildor hatte dann vorgeschlagen unter dem Kolonisationsschiff Keller anzulegen. So wurde der Boden des Kolonisationsschiffs durchbrochen und weitere Räume in den Felsen geschrömt.

Hier saßen sie nun alle. Dicht an einander gekaut. Im spärlichen Licht der Lampen konnte man den rötlich-grauen Fels an den Wänden erkennen. Diese schienen zu erzittern, wenn erneut eine Gravitationswelle über den Planet zu laufen schien. In diesen Momenten fühlten sich einige der alten Chironians nach Nyrvulia zurück versetzt. Der Keller schien ihnen erneut die Lager, in denen sie hausen mussten, vor Augen zu führen. Maldan etwa saß in einer Ecke. Er schwieg. Schon seit dem Beginn des Naturereignisses hatte er kein Wort von sich gegeben. Ihn holte hier im Keller die Vergangenheit ein. Kalter Schweiß ran über seine Stirn. Panik war in seinen Augen zu lesen. Keiner der jungen Chironians konnte sich das erklären, wie ein so starker, selbstsicherer Mann wie Maldan auf einmal so gebrochen und ängstlich wirken konnte.

Isabel war nicht im Keller. Sie saß wie so oft am Fenster und beobachtete das Schauspiel. Den Kopf in ihren Händen, die Ellbogen auf den kleinen Sims zum Fenster aufgestützt, sah sie den Sand, den die Stürme brachten von den Gläsern des Gewächshauses abrinnen. In kleinen Lawinen rutschte der Sand über die riesigen Glasflächen, um am Fuße des Gewächshauses weiter denen Haufen aus Sand aufzuschütten. Schon war auch neuer Sand wieder auf die noch kurz freigewordene Glasfläche gefallen.

Es war weder Angst noch Sorge in ihren Augen zu sehen. So beeindruckt war sie von diesem Naturschauspiel. Bedrohung fühlte sie keine. Wie so oft war sie schon am späten Nachmittag an einem der Fenster in Richtung Osten gesessen und hatte den Aufgang der Monde beobachtet. Sie liebte den Abend, die Dämmerung und die wunderschönen Farben, die der Himmel annahm. Wenn dann noch die Monde aufgingen, konnte sie oft bis spät in die Nacht einfach nur vor sich hinstarren. Was in ihrem Kopf vorging, das wusste niemand.

Isabel hatte auch die Panik und die Angst kaum mitbekommen, als die Stürme aufkamen und die Felsen zu krachen begannen. Fasziniert sah sie beim Fenster raus. Plötzlich glaubte sie eine Stimme zu hören. Sie drehte sich erschrocken um. Da war aber niemand. "Hiiiilllfee". Erneut hörte sie die Stimme. Sie verstand nicht was vor sich ging, schien doch die Stimme unterschwellig und unterbewusst aus ihrem Kopf zu kommen. "Hilf mir Isabel!" wieder...? Isabel wusste nicht, was sie sich jetzt noch zu denken trauen sollte. War das ein Hilferuf? Die Stimme in ihrem Kopf schien ihr vertraut. Das musste Zorkon sein.

Da schoss es ihr durch den Kopf, dass sie Zorkon schon seit dem frühen Nachmittag nicht mehr gesehen hatte. Wo war er? Er hatte sich auch schon den ganzen Tag so komisch verhalten. Sie hatte auch das Gefühl, dass Zorkon außerhalb der Kolonie sein musste. Sie wusste nicht, woher sie das wusste, doch es war richtig.

Sie lief in den Keller... Sorton! Sorton! Wo ist Zorkon? Dieser sah sie verdutzt an. "Keine Ahnung?" "Er ist draußen! Zorkon ist draußen!" schrie Isabel.

Eine Sauerstoffausrüstung fehlte. Sorton riss eine an sich, fixierte die Maske sicher auf seinem Gesicht. Eine zweite Sauerstoffflasche klemmte er sich unter den Arm und lief zur Schleuse, die nach draußen führte. "Ah Licht! Ich brauche Licht." Die Aussenbeleuchtung wurde angedreht. Doch der Sandsturm war so dicht, dass schon nach wenigen Metern die Umgebung wieder in der Dunkelheit und Unklarheit versank. Sorton stürzte hinaus. Hinaus in das dunkle Grau in Grau. Irgendwie wusste er auf einmal, wo er hinlaufen musste. Es fühlte sich richtig an. Er lief... strauchelte... kämpfte gegen den erbarmungslosen Sturm an. Da auf einmal kaum mehr im Sand zu vernehmen, lag Zorkon vor ihm. "Zorkon!" brüllte Sorton. Doch die Maske und der Sturm ließen die Worte wie ein Flüstern verhallen. Sorton befreite Zorkon aus dem Sand und setzte die zweite Gesichtsmaske über dessen Gesicht. Sorton wusste nicht, ob Zorton noch lebte. Er wollte es auch gar nicht wissen. Zu sehr fürchtet er, dass sein bester Freund nicht mehr unter ihnen war. Sorton hob Zorkons leblosen Körper auf, legte ihn auf seine Schultern und lief so schnell er konnte, zurück in die Kolonie.

Als Sorton mit Zorkon durch die Schleuse in das Innere der Kolonie kam, waren alle aus dem Keller gekommen und die Bestützung war zu fühlen. Sorton legte Zorkon auf den Boden. Isabel weinte und rief verzweifelt "Neiiiiinnn!" Doch Sorton fühlte den Puls, der Atem kam zurück. Er lebte... "Er lebt!"...

Die Stürme tobten noch die ganze Nacht. Am nächsten Morgen schien alles vorbei zu sein. Leichte Böhen wirbelten noch ein wenig Sand auf, der die gesamte Kolonie zugedeckt hatte. Zorkon war immer noch bewusstlos. Er lebte, aber er schlief. Einen tiefen Schlaf... würde er wieder aus ihm erwachen?
 
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Kommentare  

Hallo Bernd... Also ich habe Ginevras neueste
Geschichte "Das Tor" gepostet und die wurde auch
schon sofort freigeschalten (Vielen Dank an das
Webstories Team!)... Wünsche Dir und Euch viel Spass
beim Lesen Bye Wawanee


Wawanee von Ginevra & Wawanee (15.01.2004)

Aha! Wann kommt denn nun eine neue Geschichte von Dir/Euch? Ich bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung. Tschö Bernd

Bernd (14.01.2004)

Hehe.. danke, dass du dich so für unsere stories begeisterst! wie du wahrscheinlich schon gemerkt hast, gehören unsere stories zusammen und wir haben uns noch viel mehr geschichten die dazugehören, ausgedacht. das equilibrium ist erst der anfang und es wird noch viel komplexer

Ginevra von Ginevra&Wawanee (25.12.2003)

Hallo! Deine Geschichten gefallen mir ausgesprochen gut. Gibt es denn schon neue Kapitel? Würde nämlich gerne wissen, ob das nun Einbildung von Zorkon war, dass er seine Mutter sprechen hört. Oder kann mir jemand das sonst aufklären. Tschö Bernd

Bernd (10.12.2003)

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