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31 Seiten

Atemlos

Spannendes · Experimentelles
Sturm


Bumm! - Bumm! Bumm!
Die Gewalt der Schüsse zuckte in Form dreier Lichtblitze durch seinen Kopf und ließ ihn von einem Moment zum anderen hochschrecken.
Mark war noch nicht wirklich wach und wusste für einige Sekunden nicht, ob er die Schüsse geträumt hatte oder ob sie wirklich waren. Er hatte geträumt von einer Waffe, kurz bevor diese losging. Und wer sollte hier schießen?
Dennoch war er davon wach geworden und spürte noch immer das Echo hinter seiner Stirn, das sich nicht so recht einordnen lassen wollte.
Plötzlich hörte Mark ein Gepolter von unten, wie Rollen, die über Holz fahren. Schubladen, die herausgezogen werden, und hin und wieder Getrampel.
Mark überfuhr ein kalter Schauer und seine Hand wanderte langsam und lautlos dorthin, wo das schnurlose Telefon stand. Er nahm es und wählte 110, doch das Telefon blieb stumm.
Verdammt, überkam es ihn und für einen Moment befürchtete er, die Tür würde aufgehen und sonst wer ins Zimmer stürmen. Mark wusste, dass das Telefon wegen ihm abgestellt worden war. Wegen den letzten beiden Telefonrechnungen, deren immense Summe er nahezu allein zu verantworten hatte, machte sein Vater schließlich seine Drohung wahr und stellte das Telefon in Marks Zimmer ab.
Der Kontakt nach außen war also nicht möglich – doch, sein Handy! Er sah es drüben auf dem Schreibtisch... ein dunkler kleiner Gegenstand, der sich anschickte, sein einziger Ausweg zu sein.
Er schlug langsam die Bettdecke beiseite und versuchte so wenig Geräusche wie möglich zu machen, als ihm in den Sinn kam, dass das Handy jeden Moment klingeln konnte. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, dass ihn einer seiner Freunde mitten in der Nacht – wie spät war es eigentlich? – anrief und vorschlug, noch einen trinken zu gehen.
Aber wer auch immer dort unten war, würde dadurch aufmerksam gemacht werden, dass noch jemand im Haus war. Er beeilte sich, das Gerät zu erreichen und stellte augenblicklich den Ton aus. Dann lauschte er in die nur durch eine entfernte Straßenlaterne durchbrochene Dunkelheit hinein.
Schon seit geraumer Zeit... waren es fünf Minuten? Oder zehn? Es drang kein Geräusch mehr zu ihm hinauf, doch mittlerweile war er sicher, sich nichts eingebildet zu haben. Was zur Hölle war da unten bloß los?
Hastig wählte er die Notrufnummer und wartete.
Es tutete einmal. Es tutete noch einmal.
Verdammt, sind die alle im Urlaub? Dann nahm jemand ab und eine gelangweilte Stimme begrüßte ihn träge.
»Jemand ist in unserem Haus« flüsterte Mark in den Hörer und bemühte sich deutlich zu flüstern.
»Wie bitte?« kam es zurück.
»Es ist jemand in unserem Haus« flüsterte Mark mit Nachdruck.
»Wer ist dort?« wollte der Beamte wissen.
»Mein Name ist Mark Filak. Hören Sie, ich bin mir sicher, dass jemand in unser Haus eingebrochen ist.«
»Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Sechzehn.«
»Aha. Und wie viele Personen sind in Ihrem Haus?«
»Wie viele Einbrecher? Keine Ahnung, ich wohne mit meinen Eltern hier.«
»Kennen Sie die Einbrecher?«
Mark wurde allmählich ungeduldig. Anscheinend glaubte sein Gegenüber, er erlaube sich hier einen Spaß.
»Es wurde geschossen im Haus« sagte er, diesmal etwas lauter.
In diesem Moment begann er, die Tragweite seiner Worte zu begreifen. Jemand hatte geschossen... auf seine Eltern! Ein leichtes Zittern machte sich bemerkbar.
»Haben Sie geschossen?«
»Was? Natürlich nicht! Wir haben keine Waffen im Haus. Schicken Sie bitte schnellstens eine Streife hierher, und einen Krankenwagen.«
»Also gut, junger Mann, wo wohnen Sie?«
Mark gab seine Adresse durch und beschrieb das Haus noch als das einzige mit einem sehr breiten, flachen Dach.
»In Ordnung, ich schicke gleich jemanden vorbei. Sollte das ein Scherzanruf sein, wird Sie außerdem eine hohe Strafe erwarten.«
Mark legte auf. Was für eine Frechheit!
Die Polizei, dein Freund und Helfer... allmählich riss ihm der Geduldsfaden, doch in der Ruhe, die auf das Gespräch folgte, fragte er sich, ob die Einbrecher nicht schon längst weg wären.
Auf Zehenspitzen schlich er zum halboffenem Fenster und sah durch den Spalt nach draußen. Die Laterne bildete nur einen schmalen Lichtkegel, ein Großteil der Landschaft und der wenigen Häuser der Umgebung lag in völliger Dunkelheit.
Im Haus gegenüber brannte ein einzelner Stern im obersten Stockwerk am Fenster, eingeklemmt zwischen Scheibe und Jalousie. Soweit er wusste war das das Kinderzimmer der Bretschneiders, die jedoch kinderlos waren.
Mit einemmal tauchten zwei Schatten unter ihm auf, sie kamen direkt aus der Haustür und rannten eilig über die Straße. Einer von ihnen warf rasch einen Blick über die Schulter hinauf zum obersten Stockwerk und Mark ließ sich förmlich auf den Boden fallen.
Als er wieder hochkam, bemerkte er in einer dunklen Nische zwischen dem Haus der Bretschneiders und dem leer stehenden Haus daneben ein weißes Licht, das sich langsam zu bewegen begannen.
Der Wagen, dunkel wie seine Umgebung, fuhr rückwärts aus der Nische heraus und geriet somit teilweise in den Lichtkegel der Laterne.
Mark erkannte einen Kleinwagen, schwarz oder dunkelblau, mit einer Person auf dem Fahrersitz und mindestens einer anderen auf dem Rücksitz. Als sie noch einmal am Haus vorbeifuhren, duckte sich Mark wieder weg, um wenige Sekunden später zur Tür zu hechten und sie vorsichtig zu öffnen.
Im Haus war es still, nirgendwo brannte Licht... aber Moment! Es war doch nicht völlig still. Da war ein Geräusch, das sich von unten her kommend durch die Dunkelheit pflanzte. Eine Art Wimmern, gepaart mit stoßweisem Atmen.
Langsam schritt er die Treppe hinunter, überging die eine knarrende Stufe und wartete am Treppenabsatz. Das Geräusch war jetzt deutlich zu hören, es war seine Mutter, die da wimmerte. Offensichtlich kam das Geräusch aus dem Schlafzimmer.
Schon auf dem Weg die Treppe herunter waren Mark die entsetzlichsten Bilder durch den Kopf gegangen, doch nun, da er sich Schritt für Schritt vortastend zur Quelle des Wimmerns bewegte, kroch eine lähmende Gewissheit seinen Rücken hinauf zum Genick und von dort in sämtliche Glieder.
Mit jedem Schritt wurde Mark langsamer, bis er schließlich kurz der geöffneten Schlafzimmertür stehen blieb. Er wartete dort, hörte zu wie seine Mutter wimmerte und konnte sich erst Minuten später dazu durchringen, nach dem Lichtschalter zu tasten.
Kalter Schweiß hatte sich mit Tränen vermischt und ließ sein Gesicht kalt und blass wirken. Da war er, der Lichtschalter. Wie in Trance schloss er die Augen und drückte.
In dem Moment, als das Licht ansprang, kam ein schrillender Ton von der Tür und lies ihn herumfahren. Die Klingel!
Doch es war bereits zu spät, das Bild des reglosen Körpers seines Vaters, niedergestreckt durch zwei Schüsse, war in Marks Gehirn eingebrannt. Ein unbezähmbarer Schwall Tränen begann zu fließen und in Panik rannte er zur Haustür, öffnete sie und stieß hart mit einem Polizisten zusammen, dessen Hand im ersten Augenblick mechanisch zum Halfter glitt.
»Sie sind tot« stammelte Mark. »Sie sind tot.«
Der Polizist schob Mark sanft beiseite in die Arme seiner Kollegin und betrat mit seiner Waffe in der Hand das Haus.
»Beruhige dich« versuchte ihn die Polizistin zu trösten und sah ihrem Partner nach. »Sind die Täter noch im Haus?«
Mark schüttelte den Kopf, unfähig irgendeinen Laut herauszubringen. Sein Hals schien innerlich angeschwollen zu sein, gefüllt mit Tränen und Entsetzen.
Ein paar Minuten später, als der Polizist das Haus wieder verließ, traf der Krankenwagen ein, den die Polizistin per Funk gerufen hatte.
»Zwei Opfer« stellte er nüchtern fest, doch man spürte, dass er sich zwang, die Fassung zu bewahren. »Die Mutter ist schwer verletzt. Ein Bauchschuss.«
Bauchschuss, ging es Mark durch den Kopf. Auf seine Eltern war geschossen worden und nun steckte ein Geschoss tief in den Eingeweiden seiner Mutter. Was soll das alles?!
Erneut brach er zusammen nahm nur noch Fetzen der Gespräche von Polizisten und Sanitätern wahr.

Der nächste Tag begann weitaus besser, als er noch am Abend zuvor befürchtet hatte. Er erwachte in einer durchaus angenehmen Umgebung.
Die Wände des Raumes waren in einem warmen Beigeton gestrichen, ein Fernseher stand in einer Ecke auf einem Gestell und auf dem Tisch in der Mitte standen frische bunte Blumen.
Neben seinem Bett stand ein Beistelltisch mit einer Flasche Wasser und etwas Obst.
Bevor er sich bewusst werden konnte, was am Abend zuvor geschehen war, öffnete sich leise die Tür und ein Krankenpfleger betrat zunächst schleichend, dann, als er Mark wach im Bett sitzend sah, freundlich grüßend den Raum.
»Guten Morgen.«
»Morgen« erwiderte Mark. In seinem Kopf schien sich eine milchige Wolke auszubreiten, die sich über seine Gefühle legte und jegliche Regung in ihm unterdrückte.
»Wie geht's dir?« wollte der Pfleger wissen.
»Ich weiß nicht. Ich...« Sein Vater war erschossen worden! Er war tot. Er lebte nicht mehr.
Mark spürte wie das glühende Band dieser Gewissheit sein Innerstes zerschnitt und das Blut in seinen Kopf schoss. Sein Vater würde nie mehr am Frühstückstisch sitzen, er würde nie wieder mit Mark Fußball spielen, nie wieder vor einem die Augen verdrehenden Sohn seine Mutter küssen.
Seine Mutter. Er hatte nur noch ein Wimmern von ihr gehört. Ein Bauchschuss hatte sie niedergestreckt. Ob sie tot war?
Mark schwieg und schaute mit glasigem Blick ins Leere, versuchte, nicht daran zu denken, was passiert war, doch die Bilder und Gedanken kamen von allein. Wurden von der Leere, die er zu schaffen versuchte, angezogen wie von einem Magneten.
»Soll ich die Schwester holen?« fragte der Pfleger vorsichtig?
Mark antwortete nicht. Er wollte nicht hier sein, alleingelassen. Seine Gedanken sprangen unbestimmt von seiner Mutter zu seinem Vater über Jessica hin zu seinem ungeborenen Brüderchen oder Schwesterchen.
Er wollte all das wieder haben. Nicht in Gedanken, sondern in der Wirklichkeit!
Mit den Absätzen klappernd kam eine Frau ins Zimmer gelaufen. Sie war Mitte zwanzig, etwas mollig und hieß Ute, was Mark nur mäßig interessierte.
Sie kam an seine Seite und drückte ihn sanft auf's Kissen zurück. Dann nahm sie sein Armgelenk in ihre Hand, überprüfte den Puls und sagte irgendetwas, woraufhin der Pfleger wieder den Raum verließ.
Mark sah seine Eltern, er sah Jessica und er spielte mit seinem kleinen Geschwisterchen, als plötzlich ein mächtiger, dunkler Sturm aufzog und über ihm hereinbrach. Er wirbelte alles durcheinander, riss Fetzen von Erinnerungen aus seinen Gedanken, blies alles fort von ihm, bis sein Körper schließlich aufgab.

»Es geht ihr gut, glauben Sie mir« beharrte Dr. Kenora, verriet jedoch, dass er keinen Zweifel daran lassen würde, Mark notfalls unter Androhung von Gewalt aus der Intensivstation schaffen lassen würde.
Das war einfach nicht gerecht! Mark schwankte zwischen der Sorge um seine Mutter und der Wut über Kenora, der ihn nicht zu ihr lassen wollte. Hatte er nicht schon genug gelitten? Mussten Sie ihn jetzt auch noch von seiner Mutter fernhalten? Er wollte sie doch nur sehen!
»Kommen Sie bitte mit in mein Büro« bat der Doktor und Mark folgte ihm durch mehrere Gänge in einen klimatisierten Raum mit weinroten Wänden und weißen Vorhängen.
Mehrere medizinische Fachzeitschriften lagen verstreut auf einem Beistelltisch, der Schreibtisch jedoch war sauber und aufgeräumt.
Als sich Kenora setzte, klingelte das Telefon, doch er bemühte sich, den Anrufer schnell abzuwimmeln und das Gespräch mit Mark zu beginnen.
»Also junger Mann« begann er mit sanfter aber kraftvoller Stimme, »Ihrer Mutter geht es soweit gut. Aber seien Sie versichert, dass es pures Glück-« er stockte kurz und verbesserte sich dann, »dass es ein tragischer Umstand war, der Sie vor dem Tot rettete.«
Der Arzt schien unmerklich seine Gestalt zu straffen.
»Wussten Sie, dass Ihre Mutter ein Kind erwartete?«
Mark nickte tonlos. »Ja, sie war im vierten Monat.«
Dr. Kenora atmete laut aus und fuhr fort.
»Das Kind – Ihre Schwester, Mark – hat Ihrer Mutter das Leben gerettet.«
Mark begriff nur langsam, doch je mehr er sich der Tragweite dieser Worte bewusst wurde, desto enger zog sich das erstickende Band um ihn und trieb Tränen in seine Augen.
»Das Kind hat die für Ihre Mutter bestimmte Kugel abgefangen. Es- Sie hatte keine Schmerzen, soviel kann ich Ihnen sagen.«
Unauffällig schob Kenora eine Packung Taschentücher in seine Richtung. Mark griff danach ohne dem Doktor weiter in die Augen zu sehen.
»Nachdem wir einen Kaiserschnitt vorgenommen hatten und die Blutungen innerhalb der Gebärmutter gestillt hatten, stabilisierte sich der Zustand Ihrer Mutter.«
Als er fortfuhr, lag etwas mehr Enthusiasmus in seiner Stimme.
»Wir wissen nicht genau, wie lange es dauern wird, aber wir werden sie morgen auf die Genesungsstation verlegen und spätestens in zwei Wochen wird sie wieder nach Hause gehen können.«
Mark blickte ihm in die Augen, doch er konnte den Anflug der Erleichterung, den er in seinen Augen sah, nicht teilen.
»Haben Sie jemanden, der sich so lange um Sie kümmern kann?«
Mark nickte erneut. »Meine Großeltern wohnen nur ein paar Häuserblocks entfernt.«
»Gut. Sie werden sehen, etwas Nähe zu bekannten Gesichtern und eine Schulter zum Anlehnen wird alles erträglicher machen.«
Kenora beugte sich leicht nach vorn. »Was Sie jetzt auf keinen Fall machen dürfen, ist sich gehen zu lassen. Denken Sie an Ihre Mutter und daran, was Sie tun können, um ihr zu helfen, damit sie wieder auf die Beine kommt.«
Mark nickte.

Die Beamtin, die sich ihm am vergangenen Abend angenommen hatte, brachte ihn gegen Nachmittag zu seinem Haus, das still und unscheinbar dastand, als sei überhaupt nichts geschehen.
Ein leichtes Fieber packte ihn und der Wunsch, das Haus zu betreten und seine Mutter und seinen Vater vorzufinden, wie sie besorgt zur Tür stürmten, ihn ausfragten, wo er gewesen sei und was er gemacht habe. Den Gedanken, dass niemand kommen würde, um ihn zu empfangen, verdrängte er mit allen Mitteln.
»Kommst du klar?« fragte die Polizistin nachdem sie den Wagen zum Stehen gebracht hatte.
»Ja, ich denke schon.«
»Falls du Hilfe brauchst, melde dich bei uns.«
»Ok.«
Mark öffnete die Tür und schloss sie auf, ohne die Beamtin noch einmal anzusehen. Einen Moment später fuhr der Wagen wieder an und entfernte sich.
Zwei Häuser vom Haus gegenüber entfernt wohnte Jessica. Sein Blick glitt über das Haus mit dem winzigen Vorgarten, in dem der Gartenzwerg mit dem großen Auge stand. Mark konnte das erste Mal in seinem Leben nicht lachen, als er daran dachte. Stattdessen hatte er fast zwei Stunden in der Polizeistation gesessen und zum Teil äußerst private Fragen beantworten müssen.
Während er noch vor der Haustür stand und die Umgebung auf sich wirken lies, öffnete sich die Haustür der Heidrichs einen Spalt breit.
In der Tür tauchte eine junge Frau auf, mit schulterlangem dunkelblonden Haar und einem dunkelblauen Schlabbershirt über der Haushose – Jessica.
Sie stand halb in der Tür und sah zu Mark herüber, der schließlich langsam den Kopf schüttelte. Jessica zögerte noch einen Moment und schloss die Tür wieder. Es war unwahrscheinlich, dass sie nicht informiert war, doch im Augenblick wollte er niemanden sehen außer seinen Eltern.
Wer hätte das gedacht, überlegte er, während er den Hausschlüssel aus seiner Jeans nestelte, dass er sich einmal so seine Eltern herbeiwünschen würde, mit denen er bis vor wenigen Monaten fast täglich Probleme gehabt hatte. Keine großen, nur die üblichen Probleme eben. Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was seiner Familie nun bevorstand.
Auf dem Weg in sein Zimmer im ersten Stock musste Mark an der Küche vorbei.
Er hatte sie gar nicht gehört, doch im Vorübergehen bemerkte er seine Großmutter, die mit einem Taschentuch am Küchentisch saß und still vor sich hinweinte.
»Dein Großvater ist im Krankenhaus« sagte sie nur und Mark verstand ihren stummen Willen, allein gelassen zu werden. Ihm ging es genauso.
Er ging hinauf in sein Zimmer, verschloss die Tür von innen und schaltete die Anlage ein. Irgendeine CD begann mit dem unablässigen Spielen verschiedener Rocksongs, von denen Mark alle kannte und doch keinen mitbekam.

Mark schlief ohne zu wissen wie lange. Die CD war nach einer guten Stunde verstummt und er hatte kein Verlangen gespürt, aufzustehen und die Musik wieder anzuschalten. Die Tränen auf dem Kissen, das er umklammerte, war inzwischen getrocknet, seine Augen rot und geschwollen.
Noch während er traumlos träumte, brach ein Donnerwetter über ihn herein. Ein pfeifendes Dröhnen schien den Platz sämtlichen Sauerstoffs einzunehmen undihn zu verdrängen.
Das Geräusch war zunächst so laut, dass er zusammenzuckte und Hilfe suchend in die äußerste Ecke seines Bettes flüchtete, wo sein Herzschlag das neue unbekannte Geräusch übertönte.
Er hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte und er befürchtete, dass jeden Moment eine massive Maschine die Tür durchbrechen und sich über ihn hinwegwälzen würde. Doch als er daran dachte, fiel sein Blick auf einen kleinen weißen Zettel, der unter der Tür durchgeschoben worden war. Er war zerknüllt, da die feine Ritze eigentlich nicht genug Platz für ein gefaltetes Blatt Papier bot.
Das Geräusch – es klang wie ein großer dumpfer Staubsauger – war leiser geworden und er empfand es mittlerweile als erträglich. Sicherlich war es nur der Schock des Unbekannten, das ihn zweimal in so kurzer Zeit heimsuchte.
Auf dem Zettel war mit Buchstaben, denen die meisten Rundungen fehlten, geschrieben: Eine Reinigungsmannschaft wird später vorbeikommen. Sie sagten, es könnte laut werden. Erschrick nicht.
Seine Großmutter hatte diesen Zettel geschrieben, gar keine Frage. Sicher hatte sie geklopft und leise gerufen, war jedoch nicht gegen seine Flucht in eine andere Welt angekommen.
Er versuchte nicht daran zu denken, was da gerade gesäubert wurde, ging zum Fenster und öffnete es. Die ersten Schneeflocken des Novembers hatten zu fallen begonnen und Mark sog mit ein paar tiefen Zügen die kalte Luft in seine Lungen. Draußen dämmerte es noch, obwohl man die Sonne schon seit geraumer Zeit nicht mehr untergehen sah.
Drüben bei den Heidrichs brannte bereits Licht und im oberen Stockwerk huschte immer wieder ein Schatten hinter dem Fenster hin und her: Jessica.
Mark beobachtete das Schattenspiel ein Zeit lang. Er war mit Jessica durch eine Art Seelenband verknüpft, verwoben. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er sie das erste Mal gesehen hatte, doch viel mehr als zwei Jahre nach seiner Geburt konnten es nicht sein.
Ihre Mütter – Nicole und Annabelle – hatten sich in den Achtzigern beim Studium kennen gelernt und waren sehr schnell beste Freundinnen geworden. Als Marks Mutter Nicole schließlich ihren späteren Mann Bernd getroffen und sich in ihn verliebt hatte, zogen die beiden gemeinsam von Berlin nach Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz. Für ihn brach Nicole Filak sogar ihr Studium ab, das sie, wenn überhaupt, nur mit Mühe und Not überstanden hätte.
Ein Jahr später kam Anabelle, Jessicas Mutter, nach intensivem Kontakt mit ihrer Freundin ebenfalls nach Karl-Marx-Stadt und wurde von dieser mit Joachim verkuppelt, mit dem sie 1989, nur 2 Monate nach Marks Geburt, eine Tochter bekamen.
Die beiden Kinder wuchsen auf wie Geschwister, sie weinten und lachten zusammen und schmiedeten Pläne gegen die Großen. Sofort nach der Wende sicherten sich beide Familien auf Anraten ihrer Männer Grundstücke im an die Stadt grenzenden Ebersdorf und errichteten zwei hübsche Häuser in unmittelbarer Nähe zueinander, was mit erheblichen finanziellen Einbussen einherging.
Außer der Freundschaft, die beide Familien ohnehin schon teilten, musste nun auch noch ein Auto, Heiz-Kohle und das Spielzeug der Kinder geteilt werden. Es gab des öfteren Streit zwischen den Kindern, doch zumeist stritten sie nur um des Streits willen und weil Kinder nun mal so sind. Insgesamt betrachtet bildeten Mark und Jessica schon seit jeher eine Einheit und diese Einheit hatte sich selbst über Pubertät hinaus erhalten.
Während er an vergangene Zeiten dachte, blieb Jessica im entfernten Zimmer stehen und sah hinüber zu Mark, der aus dem geöffneten Fenster zu ihr herüber sah. Sie öffnete ihres ebenfalls und stützte sich auf den Ellenbogen aufs Fensterbrett.
Sie tat als würde sie nach unten sehen, um ihn nicht zu bedrängen, behielt ihn jedoch stets in den Augenwinkeln.
Mark spürte ihre Blicke und das Verlangen, mit ihr zu sprechen, in ihrer Nähe zu sein. Stattdessen erhob er sich, schloss das Fenster und machte das Licht aus. Er griff die Schachtel Zigaretten, die er gestern angefangen hatte und in der nur noch drei Stück lagen. Normalerweise rauchte er nicht viel, aber was war schon normal seit gestern Nacht?
Auf den Stufen der vordere Haustür kauerte er sich auf den kalten Beton und suchte in den Taschen seiner Winterjacke nach einem Feuerzeug. Der erste Zug tat gut. Er war tief und vernebelte seinen Geist für einige Momente. Jessica war nicht mehr am Fenster zu sehen, auch das Licht in ihrem Zimmer war erloschen.
Sie hatte seinen Wink verstanden.
»Hi du« sagte sie beim Näherkommen und ihr Blick fragte, ob es ihm recht war, wenn sich neben ihn setzte.
»Hi Jess.« Erlaubnis erteilt.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und bliesen abwechselnd Rauchwölkchen in die kalte Nachmittagsluft.
Mark wollte Jessica alles erzählen. Was passiert war, wie er sich fühlte, was er brauchte und ohne zu zögern würde sie ihm helfen, doch er tat es nicht. Stattdessen schwieg er weiter, beobachtete sie ab und zu, wenn sie nicht hinsah, und trat eine Zigarette nach der anderen auf den niedrigeren Stufen aus – etwas, das sein Vater sofort geahndet hätte – und schob sie aus Gewohnheit mit dem Fuß beiseite in die kleine Vertiefung neben der Treppe.
»Weißt du« begann sie schließlich, »ich bin stolz auf dich.«
Mark erhob seinen Kopf, sah sie aber nicht an. Er wusste, dass sie es ernst meinte, aber im Augenblick konnte er ihr einfach nicht in die Augen sehen.
»Ich kenne niemanden, der-« fuhr sie fort, wurde aber jäh unterbrochen.
»Ich weiß, Jess. Danke dafür.« Mark mochte den Klang ihrer Stimme und er wusste wie schwer es war, in diesem Moment die richtigen Worte zu finden. Er wollte ihr damit nicht zur Last fallen, aber er wusste ihre Geste zu schätzen.
»Du wirst jemanden zum Reden brauchen« begann sie nach einer weiteren Pause.
»Wenn ich mit jemandem reden will, dann mit dir« gab Mark in einem Ton zurück, der keine anderen Alternativen gelten ließ. »Aber jetzt noch nicht.«
Jessica nickte.
»Mandy hat mit Alex Schluss gemacht.«
Marks Mundwinkel hoben sich ein winziges Stück. Endlich!
Zwar kannte er Alex nicht, aber er hatte von ihm gehört, kurz nachdem sich Mandy in ihn verliebt - oder was auch immer - hatte. Sie wollte nicht wahrhaben, dass Alexander seine letzten beiden Freundinnen geschlagen hatte, einer davon hatte er sogar das Nasenbein gebrochen. Mandy jedoch interessierte das nicht, auch von den anderen Schauermärchen wollte sie nichts wissen.
Nach und nach kamen aber immer mehr Details ans Tageslicht und mit der Zeit begann sich Mandy unwohl zu fühlen, bis Alex schließlich in einen Autounfall verwickelt wurde. Er selbst kam schwer verletzt in ein Krankenhaus; der Fahrer – sie waren beide alkoholisiert – hatte etwas mehr Glück gehabt.
Wie auch immer, von einem Tag auf den anderen schien Mandy eine Art Samariterinnen-Effekt befallen zu haben, denn sie besuchte ihn jeden Tag im Krankenhaus und pflegte ihn auch bei sich daheim. Dass er selten etwas zurückgab, schien sie wenig zu kümmern. Vielleicht genoss sie auch die Zeit mit ihm, in der er sie nicht schlagen konnte.
Doch dann, eines Tages, als Mandy mit ihrer Mutter einkaufen war, lief ihnen Alexander über den Weg. Er sah furchtbar aus und fragte Mandy nach Geld. Als ihre Mutter sich zwischen die beiden stellte und verlangte, dass Alex sich von ihrer Tochter fernhalten solle, beschimpfte er sie auf Übelste.
Ab diesem Zeitpunkt wachte auch Mandy auf, doch Alexander rief immer wieder bei ihr an, schüchterte sie manchmal sogar ein. Das Letzte, was Mark gehört hatte, war, dass Mandy Schluss machen wollte, aber furchtbare Angst hatte, es ihm zu sagen.
»Nick und Claude war mit Mandy bei ihm. Sie haben ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass die Sache mit Mandy vorbei ist und er sich nicht wieder in ihrer Nähe blicken lassen soll. Er war ganz schön kleinlaut danach.«
Jessica lachte leise, was Mark ebenfalls ein Lächeln ins Gesicht lockte.
»Willst du mit zu mir?« fragte sie plötzlich. »Ich hab'... aufgeräumt.«
»Jess, du räumst nie auf« entgegnete Mark.
»Doch tue ich!« sagte sie betont eingeschnappt und streckte ihre Nase gekränkt gen Himmel. »Aber nur, wenn ich Männerbesuch bekomme« fügte sie zwinkernd hinzu.
»Nagut« seufzte Mark gespielt, »wer kann dir schon widerstehen.«
»Elender Lügner« lachte sie, nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm hinüber zum Haus ihrer Eltern.

Eigenartig, wie man einen Menschen wahrnimmt, wenn man ihn schon sein ganzes Leben lang kennt. Bereits im Flur nahm Mark die drei Gerüche wahr, zwei weniger anziehende und der von Jessica. Es war fast, als würde man nach Hause kommen, wo man von Geräuschen, Gerüchen und der Atmosphäre des Geborgenen eingelullt wurde.
Obwohl er sich bestens auskannte im Haus der Heidrichs, ließ er Jessica den Vortritt und folgte ihr hinauf in ihr Zimmer.
Sie hatte nicht zuviel versprochen. Tatsächlich wirkte ihr Zimmer, als wäre es gerade neu eingerichtet worden, obwohl Jessica eher zu den nur mäßig ordentlichen Menschen zählte, im Gegensatz zu Mark, der gern den Überblick behielt.
»Du hast dir ja richtig Mühe gegeben« stellte Mark fest.
»Ja, bei euch Männern muss man allerhand anstellen, damit ihr zufrieden seid« gab sie zurück und grinste ihn verschmitz an.
Mark hängte seine Winterjacke über ihren Stuhl, während ihre zwischen Bett und Wand landete, und brachte nicht mehr als ein Lächeln zustande. Irgendwann, wusste er, würde Jess ihn aus diesem Loch herausholen können und er war froh jemanden bei sich zu wissen, der, egal was auch kam, nicht aufgeben würde.
»Nagut« seufzte sie betont und begann, ihren Pullover nach oben zu ziehen, »vielleicht bringt dich etwas Sex auf andere Gedanken.«
Was?! Mark erstarrte. Von einem Moment zum anderen fand er in die Wirklichkeit zurück, waren alle Gedanken auf diesen einen Moment und Punkt fixiert. Er nahm das Mädchen in seiner Nähe war, ihr Zimmer, das er nur selten so aufgeräumt gesehen hatte, und bekam derartige große Augen, dass Jessica denken mochte, sie fielen ihm jeden Augenblick heraus.
Dann brach ein schallendes Gelächter aus ihr hervor. Sie zog ihren Pulli wieder herunter und sprang mit einem Satz auf Mark, wobei sie ihn mit sich auf das Bett riss.
Mark war noch immer wie vor den Kopf gestoßen. Er wusste, dass sie die Menschen oft schockierte, einfach, um deren Anblick und ihre Reaktion zu genießen. Mark hatte das selbst unzählige Male am eigenen Leib erfahren müssen. Aber noch nie hatte sie ihn damit aufgezogen.
Natürlich wusste Mark, dass das kein Angebot war, aber er war erstaunt wie kalt sie ihn immer wieder erwischen konnte.
Bowling For Soup begannen leise aus der Anlange zu rocken, Marks derzeitigen Lieblingssong – Girl all the bad guys want –, und während Mark die Augen schloss und die bekannte, aber andere Umgebung auf sich wirken ließ, sang Jessica kaum hörbar flüsternd den Text neben ihm liegend mit.
Die Lieder wechselten mit der Zeit. Jessica und Mark lagen nebeneinander und schwiegen, zumindest er schwieg, doch sie schien ihm lediglich eine Atmosphäre zu kreieren, in der er zwar nicht allein war, sich aber ganz seinen Gedanken hingeben konnte.
Jessica war für Mark die Schwester, die er zum Leben brauchte, ein Mittelpunkt in seinem Leben, den ihm noch keine Freundin hatte geben können. Ein Mittelpunkt, der nie verloren gehen durfte!
Für einen Moment verstummte sie, als Mark ihre Hand umfasste, fuhr jedoch gleich darauf mit ihrem stillen Gesang fort.
»Ich versteh nur nicht, warum sie es getan haben« sagte er ein paar Momente später.
Jessica verstummte, hörte nur noch zu und war ihm die Gesprächspartnerin, die er im Moment brauchte.
»Sie haben nichts mitgenommen außer ein paar Papieren, etwas Schmuck und dem Portemonnaie meines Vaters.«
Marks Augen wurden zum zigsten Mal an diesem Tag feucht, gleichwohl brachte er es diesmal fertig, seine Gefühle im Zaum zu halten. Mit Objektivität, hoffte er, würde er schneller darüber hinwegkommen als wenn er sich seinen Gefühlen und Ängsten auseinandersetzte.
»Diese elenden Bastarde haben eine ganze Familie zerstört.« Mark schluckte. »Sie haben meinen Vater getötet. Meine Schwester. Fast meine Mutter.«
So sehr er sich auch bemühte, die Tränen kamen wieder und der imaginäre Damm, den er errichtet hatte, wurde unter ihnen weggespült wie feuchter Lehm.
Mark wusste nicht, wie er weitermachen sollte. Mit dem Leben. Mit der Sprechen. Alles was er erzählte, war bereits geschehen und würde nicht besser werden durch seine Erzählungen. Er schaute zu Jessica und bemerkte, dass sie ebenfalls ihren Kopf gedreht hatte, ihn ebenfalls anschaute, wer weiß wie lange schon.
»Ich bin froh, dass du noch lebst« sagte sie, »und deiner Mutter helfen kannst, über die ganze Sache hinwegzukommen.«
Mark dachte lange über ihre Worte nach. Wie konnte er seiner Mutter helfen, über etwas hinwegzukommen, mit dem noch nicht einmal er fertig wurde?
»Und ich werd' dir helfen« fügte sie schließlich hinzu.

Am nächsten Tag gingen mehr als zehn Kurznachrichten auf Marks Handy ein, alle von Schulfreunden, die ihm ihr Beileid mitteilten und fragten, wann er wiederkäme.
Schon am Morgen hatte er ein Telefongespräch mit der Direktorin führen und ihr erklären müssen, warum er auch noch die restlichen Tage dieser Woche fehlen würde und durfte sich nach seiner Rückkehr gleich auf zwei nachzuholende Klassenarbeiten freuen.
Aber das Lernen für diese Fächer, Geografie und Geschichte, würde ihn sicherlich vom Nachdenken abhalten. Am Nachmittag hatten sich außerdem zwei Freunde angemeldet, Nick und Isabelle, die einzigen, die er trotz seiner Lage nicht abwimmeln wollte.
Seinen Großeltern ging er tagsüber aus dem Weg, die sich daran nicht zu stören schienen, sondern eher mit sich selbst beschäftig waren. Später am Nachmittag wollten sie zum Krankenhaus fahren und seine Mutter besuchen. Außerdem wollten sie alles Nötige für die Beerdigung in die Wege leiten.
Er mied seine Großeltern väterlicherseits nicht wirklich, und falls doch, nur unbewusst. Es war nur einmal so, dass er seine anderen Großeltern mehr gemocht hatte. Sie hatten mehr Zeit mit ihm verbracht, sein Leibgericht besser gekocht und lustigere Geschichten erzählt. Mittlerweile lebten sie seit fast zwölf Jahren in den alten Bundesländern bei seiner Großtante.
Normalerweise kam er ziemlich gut mit den Eltern seines Vaters zurecht, doch heute wurde ihm bewusst, dass sie nicht seinen Vater betrauerten, sondern ihren eigenen Sohn – zwei grundverschiedene Menschen. Und aus welchem Grund auch immer, er wollte das nicht. Sie sollten ihn als seinen Vater sehen, der seinem Kind alles gab, was es wollte und ihn hart aber gerecht den Weg ins Leben wies. Er kannte den Sohn nicht und der Sohn konnte nicht halb so gut sein wie der Vater. Er war kein Sohn, er war ein Vater!
Mark schluckte schwer.
Ob sie auch so über ihn dachten? Ob sie seine Trauer gar nicht zur Kenntnis nahmen und die Verbundenheit ihres Enkels mit ihrem Vater nicht sahen, genauso wenig wie er ihre Beziehung sah und kannte?
Die Uhr im Wohnzimmer schlug ein Uhr Mittags und ihr Klang hallte leise durchs Haus.
Der Tag hatte für Mark begonnen wie der Tag nach seinem ersten großen Besäufnis. Er fühlte sich müde, ausgelaugt und konnte doch keine Ruhe finden. Ständig musste er wieder aufstehen, etwas tun, nur um sich Augenblicke später klar zu werden, dass er keinen Gefallen daran fand und nichts von alledem bedeutend genug war, um fortgesetzt zu werden.
Und so lebte er in den Tag hinein, ließ Besteck und Geschirr liegen, wo es lag und kümmerte sich weder um Hygiene noch um seine Aufgaben. So, dachte er, fühlt es sich also an, wenn man am Ende ist. Wenn niemand da ist, der einem die Zeit erträglich macht...
Als hätte er ein geheimes Stichwort gegeben, klingelte es und Mark ging zum Fenster, um hinunter zu sehen. Auf dem Boden hatte sich eine dünne Schicht Schnee angesammelt und fußförmige Aushöhlungen säumten die Gehwege, da es inzwischen wieder aufgehört hatte zu schneien. Stattdessen hatte sich leichter Nebel über die landschaft gelegt. Nebel, der auch seine Gedanken wie ein Tuch umschlungen hielt und alles ein bisschen abstrakter scheinen ließ.
»Hast du Zeit?« rief ihm Jessica freudestrahlend von unten entgegen.
»Klar, komm rauf.«

»Na, Jess, was gibt's Neues?« wollte Mark wissen, der sich nicht daran gestört hatte, dass sie sich bis auf ihre Unterwäsche ausgezogen, und ihre nassen Sachen auf die Heizung gelegt hatte. Jetzt steckte sie unter seiner Bettdecke und hatte es sich in der Ecke bequem gemacht, in der er vorletzte Nacht Schutz vor den unbekannten Geräuschen gesucht hatte.
»Hab' nen Schneeball ins Gesicht bekommen. Genau hierhin.« Sie deutete auf das Ende ihrer Augenbraue und ihre dunkelblauen Augen strahlten dabei, als hätte sie eine Trophäe gewonnen.
Mark konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern und setzte sich verkehrt herum auf den Drehstuhl, auf dessen Lehne er sich stützte.
»Das war Richie« sagte sie. »Glückstreffer. Hab ihn als Strafe in den Schnee gedrückt.«
»Du legst dich also immer noch mit Kleinkindern an« witzelte Mark.
»Ich hab halt einen tollen Mark... sorry, Freund zum Üben« konterte Jess und Mark schüttelte nur den Kopf, um nicht zu zeigen, wie gut Jessica ihm tat.
»Du wirst wohl nie erwachsen werden« sinnierte er spielerisch. »Also ich hoffe, der Mann, den du mal abbekommst, betreibt 'nen Spielzeugladen.«
»Nein« gab sie zurück und streckte ihm die Zunge heraus, »er schreibt Witzbücher. Gibst du mir mal eben den Kuli?«
Mark reichte ihr den Fineliner, der auf dem Schreibtisch lag. Sie nahm ihn, steckte ihn unter die Bettdecke und fummelte dort irgendwie herum.
»Willst du mir'n Autogramm geben auf meine Bettdecke?«
»Nö, ich markierte nur die Stellen, die nach besonders ekligen Sachen riechen.«
»Jess-« seufzte er resignierend.
»Schon gut, ist doch nur Spaß. Aber wehe, du guckst. Gibt es 'was Neues von deiner Mom?«
»Meine Großeltern haben vorhin angerufen. Sie bleiben bis-« er schaute auf die kleine Digitaluhr neben den halb aufgegessenen Mikrowellenspaghetti, »noch etwa eine Stunde im Krankenhaus. Morgen wird sie entlassen.«
»Und wie geht es ihr« fragte Jessica und blickte kurz auf.
»Besser. Die Ärzte sagen, es wird eine Narbe zurückbleiben, aber sie soll wieder völlig gesund werden. Mehr weiß ich bisher nicht.«
»Wenigstens halbwegs gute Nachrichten« sagte Jessica traurig und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
»Samstag ist die Beerdigung.« stellte er leise fest.
»Ich werd' da sein.«
»Danke.«
»Sag, kann man Fineliner eigentlich wieder auswaschen« fragte sie plötzlich.
»Sicherlich nicht so gut wie die Flecken, die du überall vermutest« konterte er, was Jess laut auflachen ließ.
»Ich glaube, du bist der schlechte Einfluss, den mir alle unterstellen« erwiderte sie grinsend. »Roll' mal 'n Stück ran.«
Mark tat, wie ihm geheißen und als er mit seinem Stuhl dicht vor dem Bett zu Stehen gekommen war, streckte Jessica plötzlich ihre Füße unter der Decke hervor.
»Hallo« brummte sie mit tiefer Stimme und Mark fiel fast vom Stuhl vor Lachen, als er die beiden aufgemalten Gesichter auf ihren kleinen Fußsohlen sah.
»Ich bin Hoppel. Und ich bin Moppel« sagte sie mit einer anderen, quietschenderen Stimme.
»Jess, du bist ein Prachtstück« rief Mark, während er versuchte, sich wieder zu beruhigen.
Hoppel und Moppel, diese beiden Gestalten hatte sie ihm mit zehn Jahren das erste Mal vorgesetzt und er brach beinahe jedes Mal in Gelächter aus. Kein anderer würde verstehen, was daran so derart lustig sein konnte, doch das unsichtbare Band zwischen Mark und ihr brauchte weder Rationalität noch Erklärungen um sie aneinander zu fesseln. Das, was einmal eine innige Kinderfreundschaft war, hatte sich weiterentwickelt, war stärker geworden und ließ Außenstehende sie ganz eindeutig für Geschwister halten.
»Na ihr beiden« sagte er schließlich. »Ist ziemlich kalt draußen. Euch läuft ja schon die Nase. Kommt, ich putz euch die Nasen.« Er holte mit jeder Hand imaginäre Taschentücher hervor und bevor Jessica reagieren konnte, waren seine Finger schon bei ihren Füßen und kitzelten ihre Sohlen.
»Ah. Nein, nein, nein, nein, neiiiiiin!!« schrie sie laut lachend und mit den Füßen strampelnd. »Geh weg, geh weg, geh weg!«
»Aber Gesundheit geht vor« beharrte er, während sie ihre Füße unter die Decke zog, gefolgt von Marks kitzelnden Fingern.
»Das ist unfair« brachte sie unter Gelächter hervor. »Hör auf.«
»Falls ich mal Arzt werden sollte, muss ich aber üben.«
»Nein, nein, nein. Das wirst du nie« lachte sie mit inzwischen hochrotem Kopf und versuchte, sich wild strampelnd zu wehren. »Du wirst höchstens eingesperrt wegen gemeiner Kitzelei.«
»Soweit soll's natürlich nicht kommen« sagte Mark schließlich und stellte seine Kitzelattacken freiwillig ein.
Völlig außer Puste schob Jessica die Decke nach unten. Ihr Kopf hob sich farblich ziemlich vom Rest ihres Oberkörpers ab und ihr Atem ging schnell und stoßweise.
»Das bekommst du eins zu eins zurück, das weiß du hoffentlich« keuchte sie schließlich.
»Ein Angeklagter ist so lange unschuldig-« wollte er einwerfen.
»-bis er selbst ausgekrabbelt wurde. Genau.« Wieder strahlte sie ihn an und Mark musste sich zwingen, nicht auf ihren weißen Spitzen-BH zu schauen.
Natürlich hatte er sie schon oft so gesehen – sogar heimlich bewundert – doch ihre Anziehungskraft auf ihn durfte nie so stark werden wie an manchen Tagen, wo er sich nichts sehnlicher wünschte, als sie überall zu berühren. Das Siegel zwischen ihnen durfte nie gebrochen werden.
»Nick und Isa kommen nachher vorbei« sagte er wie beiläufig.
»Hab' schon gehört« gab sie zurück und zog die Decke wieder hinauf bis zu den Schultern und fragte im Spaß: »Darf ich trotzdem bleiben?«
Mark blickte sie an, als hätte sie plötzlich die Existenz der Sonne angezweifelt. »Natürlich! Und hör' bitte auf, mich deswegen aufzuziehen.«
»Ich hab gar nichts gesagt« gab sie unschuldig zurück und zwinkerte ihm neckisch zu.

Eine anderthalbe Stunde später trafen Nick und Isabelle ein. Marks Großeltern waren kurz vorher eingetroffen, hatten sich aber nicht bei ihm und Jessica gemeldet, was ihm ganz recht war. Im Moment wollte er nichts mehr von den tragischen Ereignissen wissen. Später am Abend würde seine Oma zu ihm kommen und ihm, wie gestern, erzählen, was es Neues gab.
Jessica, die sich inzwischen wieder angezogen hatte, fand es auf Marks Bett jedoch gemütlicher, als aufzustehen. Auch daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert.
Sein bester Freund Nick, den er seit der 5. Klasse kannte, war jemand, den man fälschlicherweise als einen Bodybuilder bezeichnen konnte. Tatsächlich hatte er nie ein Fitnesscenter von innen gesehen. Er war einsfünfundsiebzig groß, ein halbes Jahr jünger als Mark, und hatte dichtes schwarzes Haar. Seine dunklen Augen und das kantige Gesicht ließen ihn für Fremde wie einen Schlägertypen aussehen. Nick scheute sich nicht, diesen Eindruck zu seinen Gunsten einzusetzen, um etwas zu erreichen oder durchzusetzen, doch wer ihn kannte, mochte ihn und wusste, dass er keine Angst haben musste.
Isabelle hingegen war ein wunderschönes Mädchen, im selben Alter wie Mark und Jessica, und galt als Schulschönheit in der Berufsschule. Egal zu welcher Jahreszeit, sie liebte es, sich in die engsten und kürzesten Klamotten zu quetschen, ihren – zugegeben außerordentlich wohlgeformten – Körper zu präsentieren und die Blicke aller Anwesenden auf sich zu ziehen. Und obwohl sie jedem gerne rzählte, dass sie nicht gern im Mittelpunkt stand, gefiel es ihr, wenn sie das Gesprächsthema war.
Schon bei der Begrüßung fiel Jessica auf, dass Isabelle Mark neben der obligatorischen Umarmung einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte. Normalerweise tat sie das nur bei ihren Freundinnen, doch Jessica störte sich nicht daran.
Im Laufe des Gesprächs, zu dessen Beginn Mark noch einmal eher unwillig das, was geschehen war, in kurze Worte fasste, kam das Thema auf Mandy und ihren missratenen Exfreund Alexander.
Nick erzählte, wie er, Mandy und Claude zu Alex gegangen waren und Nick seine Muskeln hatte spielen lassen.
»Ich brauchte überhaupt nichts zu machen« erklärte Nick belustigt. »Der Kunde hat sich schon weggeduckt, wenn ich mich nur bewegt habe. Ein ganz schöner Schisser für seine Größe.«
»Ja, und dann wollte er die Polizei holen. Aber das, wonach es in der Wohnung roch, hätte ihm wahrscheinlich mehr Ärger eingebracht als uns.« Isabelle lachte hell.
Isabelle war kein Mensch, der seine Gefühle versteckte. Wann immer sie sich wohl oder schlecht fühlte, wusste man sofort Bescheid, und sie konnte sich daraufhin ständig der Anteilnahme anderer sicher sein.
»Hauptsache, sie ist diesen Vollidioten los« sagte Jessica und erntete weitere zustimmende Kommentare. »Das nächste Mal ist sie hoffentlich clever genug, Junkies von Gentlemen zu unterscheiden.«
»Wäre ich auch gern« sagte Isabelle plötzlich und erwartungsvolles Schweigen auf sich. Besonders Jessica wirkte für einen Moment geschockt.
»Benji hat mit mir Schluss gemacht.«
Ein kollektives Raunen der Zuhörer ging durch die Reihen, bevor sie fortfuhr.
»Dieser Mistkerl hat doch tatsächlich mit mir Schluss gemacht.«
Jessica beobachte Marks Reaktion genau und spürte sofort seine Erleichterung. Schon seit er Isabelle das erste Mal eher zufällig über den Weg gelaufen war, hatte er sich in sie verschossen.
Es blieb abzuwarten, ob es echte Liebe oder nur Liebäugelei war, aber wenn es nach Jessica ging, musste es gar nicht so weit kommen.
»Und wieso?« wollte Nick wissen.
»Er hat seit über 'nem Monat eine Beziehung mit einer Zicke aus dem vorigen Jahrgang. Das müsst ihr euch mal vorstellen, er hat neben mir noch eine andere! Morgen werden sich alle Leute das Maul darüber zerreißen.«
»Ach Quatsch« machte Mark. »Solange ich dich kenne, hat noch nie jemand was Schlechtes über dich gesagt.«
Isabelle lächelte ihn dankbar an, lies jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ihm nicht glaubte.
»Nein ehrlich. Du solltest das nicht überbewerten. Benji ist doch ein Idiot, wenn er dich verarscht und es wird nicht lange dauern, bis es der aus der anderen genauso geht.«
»Jetzt darfst du aber auf keinen Fall gleich was mit dem Nächsten anfangen. Sonst sieht es so aus, als wäre er nur das Trostpflaster« warf Jessica ein.
Isabelle lachte. »Jess, es ist wirklich nicht so, dass die Kerle bei mir Schlange stehen. Zumindest nicht die wirklich Guten. Fürs Erste bin ich mit Männern durch.«
Nick und Mark grinsten sich breit an, während Isabelle und Jessica resigniert die Augen verdrehten. Männer!
»Ihr seid Schweine« stellte Isabelle fest.
Gelächter.

Es war kaum siebzehn Uhr, doch draußen beleuchteten nur die wenigen Laternen und der Schnee die Umgebung. Dunkle Wolken ließen nur wenige helle Stellen des Himmels durchscheinen.
Die vier hatten viel geredet und Mark hatte die Neuigkeiten aufgesogen, wie ein trockener Schwamm. Irgendwie fühlte es sich richtig an, dass das Leben weiterfloss und irgendwann würde er von seinem Eiland aus Trauer und Verlust wieder in die Fluten springen.
»Wir machen gleich los« sagte Nick schließlich nach einem Blick auf die Uhr. »Die Zeit reicht gerade noch für 'ne kleine Runde im Schnee. Es sei denn, Jess hat sich noch nicht von heute Nachmittag erholt« fügte er grinsend hinzu.
»Eigentlich wollte ich mir meine Rache ja für Klein-Richie aufheben, aber wenn du unbedingt zu Boden geballert werden willst, gerne« konterte sie.

Nachdem sich Mark und Jessica von den beiden anderen verabschiedet hatten, lud Mark sie noch auf einen Tee nach oben ein. In der Küche lief er seinen Großeltern über den Weg, die begannen, das Abendbrot zuzubereiten.
»Sollen wir etwas für dich mit machen?« wollte sein Großvater wissen, dessen grauer Vollbart beim Sprechen auf- und abwippte.
»Nein, nein« entgegnete Mark. »Ich mach' mir später was.«
Er ging zum Schrank und holte zwei Tassen hervor, füllte Wasser in den Wasserkocher und setzte sich zu seiner Großmutter gegenüber an den Tisch.
Ihr Gesicht schien um etliche Jahre gealtert und wirkte außerordentlich blass. Selbst ihre Stimme schien rauer zu sein.
»Ich bin stolz auf dich« sagte sie plötzlich. »Dein Großvater und ich wissen, wie du dich fühlst. Wenn du jemanden zum Reden brauchst-«
»Kein Problem« gab Mark zurück. »Wir schaffen das schon.«
Er wusste nicht, ob seine Großeltern ihm glaubten, aber seine Großmutter blickte ihn gutmütig an. »Wenigstens ist dir nichts passiert.«
Mark nickte stumm, stand auf und goss das kochende Wasser über die Teebeutel. Den Zucker klemmte er sich zwischen die unbenutzten Finger der einen Hand.
»Ist Jessica noch da?« fragte sein Großvater, als er mit den beiden Tassen die Küche verließ.
»Ja« antwortete Mark und schloss mit dem Fuß die Küchentür hinter sich.

»Pfefferminztee nach altem Geheimrezept.«
Mark stellte die Tassen auf dem Schreibtisch ab. Jessica saß wieder unter seine Bettdecke gekuschelt und blätterte in einer Jugendzeitschrift. Den durchnässten Kleider über der Heizung nach zu urteilen, hatte sie wieder nicht viel an. Er selbst hatte sich eine alte Jeans und einen Pulli mit Schlabberärmeln aus dem Schrank geholt.
»Hätte nie gedacht, dass Benji mit Isabelle Schluss macht« sagte Mark während er es sich im Schneidersitz neben dem Bett bequem machte.
»Mhm« machte Jessica nur.
»Kennst du die aus dem vorigen Jahrgang?«
»Keine Ahnung, wer das sein soll« erwiderte Jessica ohne aufzusehen.
»Vielleicht ist es Marie.« Mark konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.
Marie Luánc war Jessicas Cousine und ging ebenfalls auf ihre Berufsschule. Allerdings hielt sich der Kontakt mit der „kleinen Cousine“ in beiderseitigem Einverständnis in Grenzen. Sie grüßten einander, wenn sie sich trafen, aber mehr hatten sie nicht miteinander zu tun. Es war keine böse Absicht, nur war es einfach ejder der beiden recht, wenn die andere sich nicht allzu viel in ihr Leben einmischte.
»Nein, ich glaube nicht. Er hat noch zu viel Grips.«
Mark lachte und nahm einen Schluck Tee.
Jessicas holte sich ebenfalls ihren Tee von Schreibtisch, wobei sie sich allerdings auf die Knie bemühen musste und mit ausgestrecktem Körper danach langen musste. Für Mark bot sich ein lohnenswerter Anblick, Jessica halbnackt auf seinem Bett zu sehen.
Sie hatte einen schönen Körper und im Augenblick zeichnete sich ihr knackiger Po unter einem weißen Slip ab. Doch schnell trieben seine Gedanken hinüber zu Isabelle und für einen Moment stellte er sich vor, wie sie sich hier auf seinem Bett räkelte.
»Pass auf, bald verlang' ich Geld dafür« sagte Jess, als sie bemerkte, wie er sie anstarrte.
»Viel Geld wirst du dafür aber nicht verlangen können« log er und erhielt als Strafe einen vernichtenden Blick zurück. Es war einfach, Jessica zu enttarnen. Ein Blick auf ihre Augenwinkel verriet immer, ob sie einen Scherz machte oder es ernst meinte.
»Nicht kleckern« meinte er schließlich.
»Jedenfalls nicht mehr als du« sagte sie zwinkernd.
»Pfft!«
Einen Moment herrschte Schweigen und Mark überlegte, wie er den nächsten Satz beginnen sollte.
»Ich will an Isabelle ran« sagte er plötzlich und Jessica hielt erschrocken ihre heiße Tasse Tee etwas zu lange an ihre Zunge.
»Au! Verdammt!« fluchte sie und stellte die Tasse direkt neben die von Mark auf dem Boden.
»Zunge noch dran?«
»Iss glaube son.« Ihre Augen tränten teils vom Schmerz und – was Mark nicht wissen konnte – wegen dem, was er eben gesagt hatte.
»Ich werd' versuchen, in nächster Zeit mehr für sie da zu sein. Sie kann jetzt sicher jemanden zum Reden brauchen.«
Du ebenfalls. »Und wenn sie merkt, dass es nicht aufrichtig ist?«
Mark schaute sie erstaunt an. »Wieso sollte es nicht aufrichtig sein?«
»Keine Ahnung. Aber bist du momentan in der Lage, anderen zu helfen? Ich meine...« Jessica stockte. Sie konnte nicht weiterreden, ohne ihn noch mehr zu verletzen. Sie wollte es ja nicht. Sie konnte nur einfach nicht glauben, dass Mark sich an Isabelle ranschmeißen wollte. Natürlich konnte sie es nachvollziehen - in irgendeiner völlig verdrehten Weise jedenfalls -, aber warum ausgerechnet jetzt?!
»Jess, du weißt, dass ich sie liebe-«
»Das ist doch keine Liebe. Das ist was völlig anderes.«
»Aber ich muss es doch wenigstens versuchen. Wer weiß, wann – und ob – sich so eine Chance noch mal bietet. Sie war über 2 Jahre mit Benji zusammen. Ich will nicht den Fehler machen und noch mal so lange warten.«
Jessica sagte nichts mehr. Sie wusste, wie wichtig ihm das war. Und trotzdem sträubte sich etwas in ihr, dem einfach so tatenlos zuzusehen.
»Das wird nicht so einfach funktionieren« entgegnete Jessica.
Mark schwieg.
»Ich werd' dir helfen müssen« fügte sie hinzu.
Ja, sie würde ihm helfen, aber das Spiel würde nach ihren Regeln ablaufen.

Tags darauf fuhr Mark mit seinen Großeltern ins Krankenhaus zu seiner Mutter. Auch seine Tante Belinda, ihr Mann Henri und seine Großeltern waren anwesen, als er in das Zimmer trat.
Der Raum war nur geringfügig anders eingerichtet als der, in dem er vor zwei Tagen aufgewacht war. Im zweiten Bett lag eine alte Frau, deren Bein eingegipst war und die einsam und ohne Besuch in ihrem Bett lag und herübersah zum Besuch von Marks Mutter.
Als Mark sie erblickte, war er wie vor den Kopf gestoßen. Beinahe hätte er seine eigene Mutter nicht mehr erkannt. Sie wirkte völlig ausgezehrt und kraftlos, ihre Augen hatten ihren ursprünglichen lebendigen Glanz verloren. Sie schien nur noch ein Schatten ihrer selbst.
»Hallo Mark« sagte sie mit schwacher, leiser Stimme.
»Mom« stammelte Mark, »wie... wie geht es dir?«
»Gut, mein Junge. Das wird schon wieder. Und du? Was ist mit dir?«
»Alles bestens« gab Mark zurück und setzte sich auf den angebotenen Stuhl, den Henri eben geräumt hatte.

Auf der Heimfahrt vom Krankenhaus, saß Mark neben seiner Mutter auf der Rückbank. Seitdem sie eingestiegen waren, hatte er nicht mehr gewagt, sie anzusehen. Es tat weh, sie so zu sehen. Noch nie zuvor hatte sie solch einen Anblick geboten wie jetzt und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie alles wieder so werden sollte wie früher.
Natürlich würde nichts so sein wie vor einigen Tagen, aber der Alltag, den sich Mark mit seiner Mutter vorgestellt hatte, war wie fortgeblasen – eine Illusion hervorgegangen aus falschen Annahmen.
Niemand im Wagen sprach etwas. Einzig der Schnee, der wieder zu fallen begonnen hatte, und das Radio boten eine Abwechslung zur erdrückenden Stille.
Die Fahrt dauerte etwa fünfzehn Minuten und auf dem Weg von der Garage ins Wohnzimmer trennten sich seine Großeltern von ihnen. »Wir machen euch einen Tee. Wollt ihr etwas dazu essen?« fragte seine Großmutter.
»Für mich nicht« entgegnete Mark.
»Einen Joghurt vielleicht« sagte seine Mutter müde. »Wenn so etwas da ist.«
»Natürlich, Schatz. Bekommst du.«
Schatz, dachte Mark. Wollte seine Großmutter seine Mutter jetzt als ihre Tochter betrachten? Als Ersatz für ihren verlorenen Sohn?
Gemeinsam gingen Mark und seine Mom weiter ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch setzte und die Decke über ihre Beine legte.
»Ganz schön kalt hier.«
»Sorry. Sie wollten nicht unnötig heizen, haben sie gesagt. Zu teuer oder so.« Mark grinste und ohne es zu erwarten erwiderte seine Mutter es.
»Ist Jess da?«
»Nein« gab Mark zurück. »Sie kommt später mal nach dir sehen, wenn es ok ist.«
»Natürlich« gab sie sanft zurück.
Für einige Zeit herrschte Schweigen. Mark schaltete den Fernseher an und zappte zu irgendeiner Dokumentation über Ägypten.
Schließlich begann seine Mutter erneut zu erzählen.
»Wer tut nur so etwas? Für ein paar Euro zwei Menschenleben auslöschen?«
Mark sah sie nicht an, doch am Klang ihrer Stimme hörte er sie weinen.
»Angelique.«
Jetzt sah Mark doch auf, sah in ihre feuchten Augen, von denen sich schmale schwarze Linien hinabzogen. Angelique. Das war ihr Name. Wäre ihr Name gewesen, fügt er in Gedanken hinzu.
»So sollte sie heißen. Deine Schwester.«
Bis jetzt hatten sich seine Eltern gegenüber Mark über den Namen des ungeborenen Mädchens ausgeschwiegen. Möglicherweise war er noch nicht der endgültige. Alle weitern Alternativen hatten sich nun jedoch erübrigt.
»Wird 'ne ganze Weile dauernd, bis wir drüber weg sind« meinte Mark.
»Ja. Manche schaffen es nie.«
»Die wissen einfach nicht zu schätzen, was ihnen geblieben ist.« Das dachte er wirklich und er war erstaunt, wie wahr seine Worte waren. Ein Teil seines Lebens wurde ihm weggerissen, doch im Nachhinein überwog das, was ihm geblieben war den Verlust. Das, wohin er sich flüchten konnte, war heil geblieben. Und letztendlich war er dankbar dafür.
Seine Mutter sah ihn an, als habe er soeben die weisesten Wort in seinem Leben gesprochen und nickte ihm schweigend zu, als seine Großeltern mit einem Tablett Tassen ins Zimmer kamen.
»Hier, das wird euch gut tun« sagte seine Großmutter. »Soll ich die Heizung aufdrehen?«
Mark und seine Mutter grinsten sich wieder an. »Ja, bitte.«

»Jess, willst du rüberkommen?« fragte Mark am Telefon. Sein Großvater hatte die Leitung freigegeben ohne zu fragen, wieso sie abgestellt war.
»Bin sofort bei dir« kam die prompte Antwort und wenige Minuten später stand sie schon in der Tür von Marks Zimmer.
Zunächst in seinem Blick suchend, war sie sichtlich erleichtert, dass nicht noch irgendetwas vorgefallen war.
»Ich muss mal mit dir reden« erklärte Mark. »Es geht um Isabelle.«
Jessica seufzte wie zum Spaß, doch diesmal kam es aus tiefstem Herzen.
»Schieß los.«
»Ich will sie für morgen hierher einladen. Du musst mir helfen... naja, sie einzuladen.«
»Da hat's aber jemanden ganz schön erwischt, was?« fragte sie zwinkernd und setzte sich neben ihn im Schneidersitz auf das Bett.
»Es ist nicht so wie sonst« erzählte er. »Ich kenne sie nun schon über vier Jahre. Mit meinen früheren Freundinnen... das war nichts ernstes. Das war nur Ausprobieren.«
Jessica war erstaunt – und gekränkt zugleich. Sie beide hatten in ihrer Kindheit oft Freund und Freundin gespielt. Und gleich, ob es ein nur ein Spiel gewesen war, sie hatte es genossen und erinnerte sich gern daran zurück. Das jetzt einfach als Ausprobieren abzustempeln, empfand sie als ungerechte Herabwürdigung.
Mark las in Jessicas Blick und fügte schnell hinzu »Keine Sorge, das mit uns war etwas anderes. Das gehört nur uns.«
»Das will ich hoffen« entgegnete Jessica neckisch und fuhr fort. »Also, wie soll ich dir helfen?«
»Du sollst dabei sein.«
»Oh« machte Jessica. »Du meinst, wenn sie hier ist?«
»Ja.«
»Soll ich den Protokollführer machen? Den Anstands-Wauwau?« scherzte sie.
»Nee. Keins von beiden. Aber du könntest ja... also während ihres Besuchs mit ihr eine rauchen gehen und...«
»Ich soll ihr erzählen, dass du dich – na sagen wir mal – von ihr angezogen fühlst?«
»Ja.« Mark lehnte seinen Kopf nach hinten an die Wand und sah zu Jess hinüber, die ihn mit einem undeutbaren Blick ansah.
»Sie raucht nicht« sagte sie tonlos.
»Naja, aber wenn du sagst, du würdest gerne eine rauchen gehen und ob sie nicht mitkommen würde...«
»Hmm« machte Jess, »wie wäre es, wenn wir uns bei mir treffen. Und wenn du es für passend hältst, gehst du einfach hierher, um nach deiner Mum zu sehen und ich gebe dir dann ein Zeichen, wenn ich es ihr gesagt habe und du wieder rüberkommen kannst.«
Mark überlegte. Ihr Vorschlag klang ebenso simpel wie einleuchtend.
»Und was für ein Zeichen?«
»Ich knipse die Schreibtischlampe an.«
Sie stand direkt unter dem Fenster. Wenn sie anging, würde Mark es auf jeden Fall mitbekommen.
»Ok, so machen wir es« sagte Mark und fügte ehrlich hinzu »Du bist ein Schatz.«
»Ich weiß« erwiderte Jess mit einem Lächeln.
Das Spiel begann.

Schritte.
Schritte im Dunkel.
Mark konnte nichts sehen. Schweißgebadet schritt er die Treppe Stufe um Stufe hinunter. Sie schien kein Ende zu haben und alle paar Schritte ertönte ein Bumm! – Bumm! Bumm!
»Sie sind tot. Sie sind tot!« schrie er plötzlich und rannte die Treppe hinunter. Er stolperte schließlich und kam unter Schmerzen auf dem Boden zum Liegen.
Das Licht ging in dem Moment an, als er die Augen öffnete.
Vor ihm auf dem Boden lagen die beiden Körper seiner Eltern, blutüberströmt, die Augen leer und ausdruckslos. Dahinter stand eine reglose Gestalt, hielt die schwarze Waffe auf ihn gerichtet und zog den Bügel durch bis zum Anschlag. Der Arm drehte sich ein wenig und dann ging die Waffe los.
Mark hörte nichts als ein mehrfaches Klicken, doch er sah wie die Projektile in die beiden toten Körper einschlugen und große, klaffende Wunden rissen.
»Nein!« schrie er heiser. »Sie sind nicht tot! Sie sind nicht-«
»Mark!«
Blitze zuckten durch Marks Augen in seinen Kopf.
Das grelle Licht brannte in seinen Augen und er hielt sich den Arm vors Gesicht.
»Mark, alles ok?«
Seine Mutter stand im Schlafanzug in der Tür seines Zimmers, hinter ihr kamen seine Großeltern gerade aus dem Gästezimmer.
Mark wusste wo er war. Doch er wunderte sich, wieso sein Vater nicht kam.
Einen Moment später sah er ihn – in seiner Erinnerung auf dem Boden liegend, tot. Es half nichts, die Tränen, die folgten, ließen sich nicht unterdrücken.
»Ist schon in Ordnung, Schatz« redete seine Mutter beruhigend auf ihn ein. »Ein böser Traum. Mehr nicht.«
»Er wird nicht wiederkommen« schluchzte Mark. Seit der schrecklichen Nacht hatte ihn kein Albtraum geplagt. Sein Kopf und seine Gedanken schienen das Erlebte so gut verarbeitet zu haben, als läge es schon Jahre zurück. Doch so schnell sich für ihn alles gebessert zu haben schien, um so härter traf es ihm im Augenblick.
Die Tränen wollten einfach nicht versiegen und die Kälte, die ihn gefangen hielt, wurde mit noch vielen Decken nicht weniger.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Das Leben geht weiter, hatte er sich eingeredet. Nicht noch so große Trauer würde die beiden Menschen zurückbringen. Nun, da er zusammengekauert auf seinem Bett hockte, im Arm seiner Mutter, begriff er endlich, dass die Trauer der Schlüssel zum Vergessen war. Zur Überwindung eines Ereignisses, wie es nur wenig Schlimmere gab.
»Dr. Kenora hat mir Beruhigungsmittel mitgegeben« sagte seine Mutter mit gedämpfter Stimme. »Willst du eine?«
Mark nickte.
Wenig später lag er wieder allein in seinem Zimmer, blickte in die Dunkelheit zur Decke empor und wartete darauf, dass die Tablette anfing zu wirken.
Allmählich glitten seine sich beruhigenden Gedanken hinüber zu Jessica. Er stellte sich vor, wie er sie beim Schlafen beobachtete, die Decke sanft beiseite zog und plötzlich Isabelle vorfand, die zusammengekauert dalag und ihn ansah.
»Ja« war ihre Antwort, obwohl keine Frage gestellt war.
Er trieb weiter und weiter von ihr weg, eingehüllt von warmer Zuneigung, und schlief ein.
Bruchstücke


Die Beerdigung war für den vierten Novembersamstag angesetzt.
Während seine Mutter nüchtern und wortkarg gemeinsam mit seinen beiden Großelternpaaren die Vorbereitungen trafen, nutzte Mark die Zeit, um Abstand zu gewinnen. Der Albtraum vor zwei Nächten hatte ihm gezeigt, wie sehr er sich getäuscht hatte. Hatte er doch geglaubt, dass er stark genug sei, um zu vergessen und verdrängen, sein Leben fortzusetzen lediglich mit anderen Variablen.
Das geplante Treffen mit Isabelle kam nicht zustande, tatsächlich hatte er sich den ganzen gestrigen Tag nicht einmal bei Jessica gemeldet. Lediglich über seine Mutter hatte er ihr ausrichten lassen, dass er eine Auszeit brauchte und sie hielt sich daran.
Mark dachte wieder an Isabelle, nicht so häufig wie seit ihrem letzten Besuch, doch er wusste keine Antwort auf die Frage, ob er sich nur in sie geflüchtet hatte – geflüchtet, um nicht daran denken zu müssen, was geschehen war. War da Liebe?
Einerseits spürte er den Wunsch, mit ihr zusammen zu sein, andererseits war die Erinnerung an sie so blass und unwirklich, als handele es sich um eine andere Person.
Gegen zehn Uhr dreißig an diesem Tag, der mit heftigen Stürmen und dunklen Wolken begonnen hatte, sollte er sich allmählich anziehen. Um ehrlich zu sein, wäre er der Veranstaltung heute am liebsten fern geblieben. So viele Leute, die er vielleicht ein, zwei Mal in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte, würden ihm sein Beileid ausdrücken, Geschichten erzählen, die sie mit seinem Vater erlebt hatten und die so alt waren wie er selbst, und schließlich würden sie wieder so plötzlich verschwunden sein wie sie aufgetaucht waren. Bis zum nächsten Todesfall.
Anschließend würden sich alle zum Kaffeetrinken in einem nahe gelegenen Restaurant einfinden – zum Leichenschmaus. Mark hasste dieses Wort. Es klang, als würde man sich auf Kosten des Verstorbenen noch einmal so richtig den Bauch voll schlagen, bevor man ihn vergaß.
Zur Beisetzung waren auch Jessica und ihre Eltern gekommen. Jessica trug ein langes schwarzes Kleid, eine schwarze Handtasche und hatte ihr Haar mit einer schwarzen Spange gebändigt. Trotz ihrer schwarzen Turnschuhe sah sie auch unter den gegebenen Umständen umwerfend aus.
Viele der Leute auf der Beerdigung, die sie nicht kannten, meinten, sie wäre Marks Freundin und nach einer Weile war es ihm leid, immer wieder die gleichen albernen und privaten Fragen erdulden und beantworten zu müssen.
Am Ende der Zeremonie, als eine Frau mittleren Alters mit, wie Mark fand, übertriebener Betonung in der Stimme das Leben seines Vaters mit ehrenvollen Worten gehuldigt hatte, führten seine Mutter, Jessicas Eltern, und er den Zug der Trauernden an. Jess' hielt die ganze zeit über seine Hand.
Seine Mutter konnte ihre Tränen bereits seit Beginn der Zeremonie nicht unter Kontrolle halten. Ihm ging es genauso schlimm, obwohl er sich zwang, sich keine Blöße zu geben. Doch schließlich, als der Sarg in das Grab des farblosen Novemberbodens hinab gelassen wurde, brach der Damm.
Lautlos flossen ihm Tränen die Wangen hinab, als er allein vor dem Grab stand und eine Rose in das eckige Loch warf. Jetzt war der Zeitpunkt bekommen, dem Toten die letzte Ehre zu entbieten. Doch woran sollte er denken? So sehr er sich auch zwang, es wollte ihm kein Ereignis seines Lebens einfallen, in dem sein Vater eine Rolle gespielt hatte. Er wollte sich ein Bild von ihm ins Gedächtnis rufen, eine einzige Eigenschaft oder nur ein paar Worte, doch da war nichts. Nur Leere.
Schweigend trat er beiseite zu Jessica. Neben ihr weinte seine Mutter still, während seine beiden Großmütter und Jessicas Eltern versuchten, ihr Beistand zu geben.
Unaufgefordert und unauffällig reichte Jess ihm ein Taschentuch, das er dankbar annahm und sie schnäuzte – wohl darauf bedacht, es nach einem gewöhnlichen Schnupfen aussehen zu lassen.

Goldene Rose nannte sich das Restaurant, in dem sich gleich darauf alles versammelte. Anscheinend entstand ein Großteil seiner Einnahmen durch Trauergäste. Das Ambiente hatte etwas leicht Bedrückendes Die Einrichtung setzte sich hauptsächlich aus schwarzen Möbeln, weißen Tapeten und Tischdecken, und mit spärlichen Goldornamenten verzierten Kerzenständern zusammen.
Anfangs wurde leise gesprochen, doch je mehr Speisen aufgetischt wurden desto mehr wurde geredet, später laut gelacht. Es fiel Mark schwer zu glauben, dass sie über alte Geschichten seines Vaters lachten.
Irgendwann flüsterten Jessicas Eltern ihr und Mark zu, dass sie schon aufbrechen könnten, wenn sie wollten. Das Schlimmste hätten sie hinter sich gebracht und sie sollten sich hier nicht noch unnötig quälen.
Auf dem Heimweg hakte sich Jessica beim Mark ein und gemeinsam gingen sie den Weg über die Aschenbahn und zwischen den Studentenheimen in Richtung Straßenbahnhaltestelle.
»Er hat einen schönen Platz bekommen« sagte Jessica.
»Ja« erwiderte Mark und Jessica spürte, dass sie ein anderen Thema anschlagen sollte.
»Und, hast du dich mit Isabelle getroffen« fragte Jessica stattdessen.
»Nein. Ich hatte gestern keine Nerven dafür« antwortete er. »Vielleicht nächste Woche irgendwann.«
Jessica lachte kurz. »So schnell willst du aufgeben?« Plötzlich war sie sicher, dass Isabelle nur ein Vorwand war, um über die Ereignisse der letzten Tage hinwegzukommen. Dennoch schien das Thema noch nicht vollends für ihn erledigt zu sein.
»Ich weiß im Moment gar nicht, was ich will. Alles, was ich tue, läuft irgendwie darauf hinaus, dass ich bald keinen Sinn mehr sehe, es weiterzumachen.«
»Und du meinst, das ist etwas Besonderes?«
Mark blieb stehen sah Jess in die tiefblauen Augen. »Was meinst du?«
»Dass es völlig normal ist, was du durchmachst. Für mich ist es fast genauso als hätte ich ein Familienmitglied verloren. Es ist mit Sicherheit nicht so schlimm wie für dich, aber dich quält dasselbe, was Tausende vor dir gequält hat und auch Tausende nach dir quälen wird.«
Vorsichtig nahm sie seine Hand in ihre. »Es geht vorbei.«
Mark nickte stumm. »Ich bin froh, dass es dich gibt.«
»Ich weiß« sagte sie schelmisch grinsend. »Ich bin ein Schatz. Und du wirst mich nicht mehr los.«
»Das will ich hoffen« erwiderte er lachend.
Gemeinsam gingen beide zur Haltestelle und warteten, während der Schnee von mittleren Windböen aufgepeitscht wurde. Die nächste Bahn würde laut Plan erst in zwölf Minuten kommen und sie entschlossen sich kurzfristig, den Weg bis zur Zentralhaltestelle zu Fuß anzutreten.
Auf halbem Weg schließlich klingelte Jessicas Handy und Mark dachte daran, dass seines noch ausgeschaltet war. Während er es aus der Tasche zog und seinen PIN eingab reichte ihm Jess ihr Telefon.
»Mark?«
»Ja Mom.«
»Ich wollten nur Bescheid sagen, dass Jessicas Eltern und ich nachher noch in den Ratskeller gehen. Ein bisschen in Ruhe über alte Zeiten reden.«
»Geht klar.«
»Gut. Ihr macht euch noch einen schönen Tag, ja?«
»Jaja« machte Mark.
»Ach, und deine Omi möchte wissen, ob du sie nachher noch mal sehen willst. Bevor sie wieder abfahren, meine ich.«
»Nein. Ich seh' sie ja bald zu meinem Geburtstag.«
»Ok, ich sag' Bescheid. Also bis heute Abend irgendwann.«
»Ja, mach's gut.«
Mark gab Jessica ihr Handy zurück.
»Sturmfreie Bude« grinste er.
»Juhuuu!« rief Jessica fröhlich und sprang mit einem Satz in die Luft. Mark wusste zwar, dass sie wieder nur Spaß machte, doch gerade weil er sie nicht völlig nachvollziehen konnte, war er jedes Mal auf Neue begeistert von ihrer unbefangenen Art, alles auf die leichte Schulter und mit Humor zu nehmen. Sollte es ihr unangenehm sein, dass sie manchmal etwas übertrieb, so verbarg sie das gekonnt und charmant.
Bei ihrer Landung auf dem lockeren, gefrorenen Untergrund rutschte sie plötzlich aus und wäre beinahe in den Schnee gefallen, doch Marks streckte schnell genug beide Arme aus und packte sie an den Schultern.
Leider war sein Stand durch die ruckartige Bewegung auch nicht mehr der Sicherste und er während er sich nun seinerseits an Jessica klammerte, beförderte die Schwerkraft und der Umstand, dass ein zweiter fallender Körper dem ersten keine Chance lies, sich abzufangen Jessica und ihn zu Boden. Ungewollt, doch mit vollem Körpereinsatz, spielte er seine Rolle als Polster zwischen dem Schnee und ihr.
Lauthals lachend wölbte sich Jess über ihm und fragte ihm, ob er ok sei.
»Hätte schlimmer kommen können« erwiderte er und fügte lachend hinzu »Hast du zugenommen?«
»Du spinnst wohl« gab sie zurück und stemmte sich zum Aufstehen auf seinen Brustkorb, wobei sie sich extra schwer machte. »Als Strafe trägst du mich huckepack nach Hause.«
»Haha« lachte Mark. »Hättest du wohl gern. Wer von uns hat sich denn mit dreckigem Schnee vollgesuppt?«
Sie schaute ihn, noch immer auf ihm sitzend, erstaunt an und ließ sich dann plötzlich nach hinten fallen. Er hätte es ahnen können.
Nachdem sie sich kurz hin und her gewälzt hatte stemmte sie sich wieder hoch und sah ihn zufrieden grinsend an. »Na ich.«
 
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Durch Zufall gefunden und ...tolle Story! Eine großartige Freundschaft hilft Mark über die schrecklichen Erlebnisse hinweg.
Spannend und ergreifend bis zur letzten Zeile.


Dieter Halle (13.12.2011)

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