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12 Seiten

Schattenmacht - Das letzte Licht -6-

Romane/Serien · Fantastisches
Südwestküste Irlands- Die Cliffs of Moher


Wir befinden uns in Irland, genau gesagt an der Südwesküste auf den Cliffs of Moher.
Langsam trete ich an den Rand und genieße den Wind, der mir ins Gesicht bläst. Tief unten bricht sich der atlantische Ozean in wilden, Gischtsprühenden Wogen und das krachende Geräusch, dass sie dabei erzeugen trägt bis hier oben herauf. Der schroffe, schattenumspielte Fels reicht hier beinnahe Zweihundert Meter in die Tiefe.
Als ich Zwölf Jahre alt war und mein Vater noch lebte, hatten wir hier her eine Reise unternommen und ich stand auf den Klippen und blickte wie jetzt in die Tiefe. Die Sonne glitzerte auf dem bewegten Ozean und die Seevögel kreischten und der Wind blies, genauso wie jetzt. Es war der letzte Sommer, in dem mein Vater bei uns war. Danach zog er in den Krieg und kehrte nicht mehr wieder zurück.
Eine stille, sanfte Traurigkeit zieht durch mein Herz und bricht sich an den Klippen meines Wesens, wie die Wogen des Ozeans vor mir an den Cliffs of Moher zerschellen. Dreihundert Jahre sind eine lange Zeit für einen Menschen, aber manchmal reicht nicht mal diese Zeitspanne um eine Seelenwunde ganz verheilen zu lassen. Der Tot meines Vaters, meines guten, lieben Vaters hatte eine solche in mir hinterlassen und sie ist noch immer nicht gänzlich verheilt.

Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter, dann tritt Uriel neben mich und legt sachte seinen großen, Graubefiederten Flügel um mich.
"Was quält dich?" Seine Stimme ist leise.
"Erinnerungen, Uriel," antworte ich, "uralte Erinnerungen und eine Verletzung, die nie richtig heilen durfte."
Ein schräges Lächeln zuckt über meine Lippen, als ich mich einen Moment lang frage, was wohl mein Vater davon halten würde, dass sich ausgerechnet der Todesengel mein Freund nennt. Langsam drehe ich mich zu Uriel um und schenke ihm ein sanftes Lächeln.
"Keine Angst, mein Freund, irgendwann wird sie heilen, diese Wunde."
Er nickt leicht, lässt mich aber noch nicht los. Erneut wende ich meinen Blick dem Ozean zu.
Ich war ein zweites Mal hier gewesen, damals zwei Jahre nach meiner Hochzeit und verzweifelt. Damals hatte ich mit dem Gedanken gespielt zu springen, es dann aber doch nicht getan.
Das Schweigen um mich herum ist beinnahe greifbar. Ein Seufzen schleicht sich über meine Lippen und ich wende mich nun gänzlich von der Klippenkante ab, um Shanael anzusehen. Der Engel ist etwas zerzaust, aber ansonsten heil aus dem wilden Luftkampf hervorgegangen. Dann bedenke ich Uriel mit einem scharfen Blick und breche endlich das Schweigen um uns herum.
"Dir geht es wirklich wieder gut?" Er nickt langsam.
"Ich bin noch nicht wieder ganz so stark, wie ich es vorher war, aber ja, mir geht es wieder gut."
Sein Blick irrt kurz über die Landschaft und legt sich dann wieder auf mich.
"Ich weiß nicht mehr viel von dem, was passiert ist, aber das wenige, das ich noch weiß, finde ich beunruhigend."
Shanael legt den Kopf schräg und mischt sich nun ein.
"Wie bist du eigentlich darauf gekommen, dass wir in Bonn sind?"
Uriel nickt und fährt fort.
"Ich wollte mit Hoffnung darüber sprechen, also darüber was mit mir geschehen ist, aber ich fand sie nicht auf ihrem Friedhof. Schließlich bin ich einem interessanten jungen Mann begegnet, der mich ganz offensichtlich erkannte." Ein Lächeln huscht über seine Lippen. "Er stellte sich mir als Andreas aus Bonn vor, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich ihn je getroffen hätte. Nun auf jeden Fall hat er mir erzählt was in Bonn auf dem alten Friedhof passiert ist und dass ihr beide dorthin gegangen seit. Also bin ich gleich los geflogen und habe euch ja auch gefunden."
Fragend blickt er zwischen mir und Shanael hin und her.
"Was ist da eigentlich jetzt wirklich geschehen?"
Ich blicke mich kurz um.
"Wir sollten uns irgendwo hinsetzen, damit wir dir alles in Ruhe erzählen können."
Shanael nickt.
"Ja, das dauert ein wenig." Ihre Stimme klingt ernst. "Außerdem , müssen wir uns überlegen, wie wir die Sache in Bonn in den Griff bekommen. Wenn diese Wesen erst einmal den Friedhof verlassen, dann wird es wirklich schlimm."
Dieses Mal nicke ich.
"Da hast du recht." Meine Stimme klingt nun auch bitter ernst. "Unter den Kreaturen, die mich angegriffen haben waren zwei Menschen."
Shanaels Augen weiten sich kurz erschrocken.
"Du liebe Zeit," murmelt sie, "jetzt gibt es also auch schon verwandelte Menschen."
Sie sieht ausgesprochen besorgt aus. Uriel, der immer noch zwischen uns hin und her blickt, verengt nun die Augen.
"Ich sehe schon, es gibt vermutlich viel, das ihr mir erzählen solltet."
Nun nicken wir beide. Ich sehe mich erneut um und entdecke nicht weit entfernt eine etwa brusthohe, neuere Mauer und zeige darauf. "Lasst uns dort Platz nehmen."
Nachdem wir auf der Mauer nebeneinander sitzen, sieht mich Uriel, der zwischen mir und Shanael sitzt, geduldig abwartend an, während ich nach einem Anfang suche. Schließlich beschließe ich, einfach da anzufangen, was auch den Engel am meisten beschäftigt.
"Du erinnerst dich noch, als ich nach Bonn aufgebrochen bin um Shanael dort zu treffen, oder?"
Als Uriel nickt fahre ich fort. Erzähle im langsam was in Bonn vorgefallen war, von dem ersten Angriff dort, wie wir zurückkamen, ich ihn in so einem schrecklichen Zustand fand und ihm half. Das wir, ich und Shanael darüber übereinstimmten, dass wir zurück nach Bonn mussten und dort tatsächlich eine ähnliche Kreatur wie in New York fanden und zerstörten. Ich erzählte auch dem Engel von unserem Verdacht, der sich wohl bewahrheitete und dass es mir nicht gelungen war, eines der verwandelten Tiere zu heilen.
Wir hatten es an einem sehr kleinem Wesen, das Shanael fangen konnte ausprobiert. Und auch, das der Tod der Quallenartigen Kreatur im Brunnen keine Auswirkungen auf die anderen Wesen hatte und wir von daher begannen sie zu vernichten.
"Nun ja," beende ich meine Ausführungen, "und dann bin ich in diese Falle gegangen und du hast mich gerettet."
Ich wende Shanael den Blick zu.
Die Frau versteht den Wink und beginnt nun ihrerseits zu erzählen.
"Nun, ich bin dieser fliegenden Kreatur hinterher und habe dabei nicht bemerkt, wie sie mich immer weiter von Dir weggelockt hat. Bei einer Gruft ist sie dann im Nebel verschwunden und nur kurz darauf war ich, genau so wie du, umzingelt und nach meinem ersten Feuerball an einem magietoten Fleck. Ich bin so schnell es ging in die Luft gestiegen und hatte es dann mit einem ganzen Schwarm dieser fliegenden Wesen zu tun. Ich wollte zu dir zurück, aber wann immer ich das versuchte wurden ihre Angriffe noch aggressiver, von daher war mir klar, das ich diese Dinger erst einmal vernichten muss. Und dann landete schon Uriel mit dir auf der Grabkapelle. Nun den Rest kennt ihr ja.”
Uriel, der die ganze Zeit schweigend zugehört hat, wirkt nachdenklich.
Schließlich blickt er wieder auf.
“Ich denke ihr habt recht, diese Wesen sind tatsächlich so etwas wie Lichtvampire. Was mir Sorgen bereitet ist, dass sie scheinbar sehr hinter Hoffnung her sind. Gerade so als wüssten sie etwas über dich,” er sieht mich ernst an, “dass wir nicht wissen. Was ich zudem noch sehr beunruhigend finde ist die Tatsache, dass sie scheinbar kaum an Intelligenz einbüßen und zur Zusammenarbeit fähig sind. Die Fallen, die sie euch beiden gestellt haben zeigen das sehr deutlich.”
Der Blick des Engels schweift kurz umher und heftet sich dann nachdenklich auf Shanael. Misstrauisch beugt sie ihren Oberkörper zurück und legt den Kopf schräg.
“Was geht in dir vor?”
Ihr Frage hört sich ein wenig entnervt an und Uriel kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
“Ich überlege gerade, wie wir drei es fertig bringen könnten, den alten Friedhof in Bonn von diesen Kreaturen zu säubern.“
Er wirft mir wieder einen kurzen Blick zu, dann wieder Shanael, deren Augen sich mittlerweile verengt haben. Sie sagt aber nichts, sondern wartet erst einmal ab. Auch ich warte, während Uriel weiter nachdenkt. Wieder bedenkt er Shanael mit diesem Blick und schließlich schüttelt sie den Kopf.
"Oh nein, Uriel, ich weiß genau was du denkst. Ich kann keinen ganzen Friedhof einschmelzen! Ganz abgesehen von dem Ärger denn ich bekommen würde, habe ich ganz einfach nicht die Macht so etwas zu tun!"
Sie klingt aufgebracht und ich kann auch verstehen weshalb. Aber mir kommt eine Idee, während ich mir das durch den Kopf gehen lasse. Bevor Uriel etwas erwidern kann, mische ich mich ein.
"Nun, du musst ja nicht den ganzen Friedhof dem Erdboden gleich machen."
Ich sehe die beiden an und fahre langsam fort.
"Ihr beide könnt ja fliegen und das nicht schlecht. Ich nehme diese Kreaturen eher wahr, als ihr und wenn wir den Nebel über dem Friedhof in Bonn loswerden, dann....."
"Dann," unterbricht mich Shanael," kann ich sie aus der Luft verbrennen und du kannst uns warnen, sollten sich uns welche aus der Luft nähern, während Uriel dich trägt. Oder?"
Ich nicke lächelnd und über Uriels Gesicht zieht ein anerkennender Ausdruck.
"Da gibt es nur ein Problem," meint er leise, "wie bekommen wir den Nebel von diesem Friedhof weg."
Nun verwandelt sich mein Lächeln in ein verhaltenes Grinsen.
"Wir fragen einfach die Nebelfrau, die hier bei Hag´s Head zu Hause ist."
Uriels Augen weiten sich erstaunt.
"Du kennst eine Nebelfrau? Wie das denn? Diese Wesen sind doch so unendlich scheu, oder?"
Erneut nicke ich.
"Ja sind sie. Diese hier habe ich sogar kennen gelernt, als ich noch ein ganz normaler Mensch war. Sie hat mir damals sehr geholfen, aber warum sie das getan hat, dass weiß ich nicht. Sie wollte es mir nicht sagen."
Tatsächlich hatte mich die Nebelfrau damals abgehalten von den Klippen zu springen, aber das will ich den beiden Engeln nicht erzählen. Jedenfalls jetzt noch nicht.
Auch Shanael starrt mich überrascht an.
"Du konntest sie sehen, als du noch ein normaler Mensch warst?"
Sie klingt so überrascht, wie sie aussieht.
"Ja natürlich," antworte ich ganz unbedarft und bin überrascht von ihrem staunenden Gesichtsausdruck, "ich sah schon als Kind Dinge, die andere nicht sehen konnten. Wie sonst hätte ich damals die Engel am Himmel kämpfen und Ihn fallen sehen können? Wusstest du das nicht?"
Sie schüttelt langsam den Kopf.
"Nein. Die Geschichten über dich sind sehr bruchstückhaft. Eigentlich wusste ich nur, das es dich gibt. Dass du ihn berühren konntest und in den Arm genommen hast, wofür du dann zu einem Dasein zwischen allen Welten verdammt wurdest. Mehr nicht."
Verblüfft sehe ich nun Uriel fragend an. Dieser hebt die Schultern.
"Ich war dabei und ich habe auch später mit dir gesprochen, von daher weiß ich das. Aber ich nehme an, das nicht einmal Michael wirklich weiß, wie und warum du damals aufgetaucht bist. Shanael hat recht, die meisten übernatürlichen Wesen wissen eigentlich nur, dass es dich gibt, dass man dich Hoffnung, oder letztes Licht nennt und dass du Lucifer berühren kannst."
Jetzt bin ich wirklich verblüfft.
Einen Moment später hat sich Shanael wieder gefangen und erglüht beinnahe vor Tatendrang. Etwas das mich zum lächeln veranlasst.
"Und wann wirst du sie fragen können, diese Nebelfrau?"
Der Engel klingt fast so aufgeregt wie ein kleines Kind und ich muss erneut lächeln.
"Wenn sie da ist," antworte ich unverzüglich, "und im Moment nicht gerade irgendwo ihre Schleier webt, dann sofort."
Shanael lächelt, doch dann wird sie plötzlich wieder ernst und ihr Blick schweift in die Ferne. Trauer blitzt tief in ihren Augen auf , während sie von der Mauer springt.
"Nun gut," meint sie, "es ist mittlerweile weit nach Mitternacht und wir sollten das heute nicht mehr wagen. Ich bin auch ein wenig erschöpft und ich habe jetzt noch etwas zu tun. Treffen wir uns morgen erneut hier?"
Ich nicke und weiß, dass sie soeben eine Resonanz gespürt hat. Eine der verdorbenen Seelen, die sie in die Hölle zu tragen hat ist am Ende ihres Lebens angekommen.
"Ja," meine ich leise," am besten treffen wir uns hier. Pass auf dich auf, ja!"
Das entlockt dem Engel nun doch noch ein Lächeln. Mit einem kleinem Winken geht sie den Schritt und ist verschwunden.
Ich drehe den Kopf um Uriel anzusehen und bemerke sein irritiertes Stirnrunzeln.
"Das war nun aber etwas abrupt.”
Er sieht mich verwirrt an, als ich leise und traurig auflache.
“Oh Uriel, sie hat eine Resonanz bekommen. Wie du hat auch sie eine Aufgabe, genauso wie ich übrigens auch.”
Nun sieht der Engel reichlich verlegen aus.
“Das,” meint er trocken, “habe ich glatt vergessen.”
Ich kichere ein wenig, aber dann werde auch ich ernst. Die Resonanz einer traurigen Seele hallt durch die Nacht. Sie ist ganz nahe, bemerke ich. Nun springe auch ich von der Mauer und blicke dann zu Uriel hoch.
“Wenn man davon spricht, oder?”
Die Stimme des Engels hat nun einen amüsierten Unterton und ich nicke.
“Wenn du nichts dagegen hast,” fragt er leise , “kann ich dich dann begleiten?”
“Natürlich,” antworte ich, “es ist ganz in der Nähe.”
Zusammen laufen wir an den Klippen entlang nach Norden, wo der steil abfallende Felsen noch höher wird. Bald können wird den alten O´Brians Tower sehen. Dort fallen die Klippen wohl so um die Zweihundert Meter in die Tiefe. Schon von weiten kann ich die schmale Gestalt sehen, die dort verloren nahe des felsigen Randes steht und traurig in die Ferne blickt. Die Resonanz kommt von ihr. Als wir nahe genug sind, um zu erkennen, dass es eine junge Frau ist, nehme ich eine Besonderheit an ihr wahr. Verwirrt bleibe ich stehen.
“Genau so,” murmle ich, “ganz genauso wie bei Andreas.”
Uriel sieht mich fragend an.
“Sie,” meine ich leise, ”gehört noch zu den Lebenden!”

Vorsichtig nähere ich mich der jungen Frau.
Ob sie mich überhaupt wahrnehmen oder gar sehen wird?
Diese Frage beantwortet sich von selbst, als sich die Frau umdreht und einen Moment regelrecht erstarrt. Ihre Augen weiten sich, während sie mich mit einem kurzen Blick streift, diesen dann über Uriel schweifen lässt und schließlich ihre Augen auf mich heftet.
"Er ist ein Engel, " stellt sie leise fest, "aber was bist du?"
Sie wirkt zwar überrascht, reagiert aber wesentlich gelassener als Andreas.
"Ich, " antworte ebenso leise, "bin das letzte Licht."
Sie wendet sich wieder ab, lässt ihren Blick erneut über den Ozean schweifen.
"Ich kenne die Geschichte des letzten Lichtes," meint sie immer noch leise, "meine Großmutter hat sie mir erzählt. Mein Name ist Megan."
Ich trete langsam neben sie.
"Hallo Megan," meine ich leise und entlocke ihr ein Lächeln, "es ist nicht das erste Mal, dass du ungewöhnliches siehst, oder?"
Sie sieht mich wieder an und nickt.
"Jede Frau, die meiner Familie geboren wird und wurde hat das zweite Gesicht. Alle drei oder vier Generationen kommt es vor, dass diese Gabe besonders stark ausgeprägt ist."
Ihre Stimme ist traurig und ich nicke verständig.
"Wie bei dir?"
Meine Stimme ist sehr sanft geworden und Megan bejaht diese Feststellung still. Langsam tritt nun auch Uriel zu uns an den Klippenrand.
"Ich bin Uriel," stellt er sich sanft vor, "und es freut mich deine Bekanntschaft zu machen."
Megan nickt ihm freundlich zu und dann stehen wir minutenlang einfach nur schweigend da und blicken über das wilde Meer. Schließlich rührt sich Uriel, legt mir seine warme Hand auf die Schulter.
"Ich muss jetzt weg," meint er leise, als ich ihn ansehe, "kann ich euch wirklich alleine lassen?"
"Mach dir keine Sorgen, Uriel." ich lächle ihn aufmunternd an. "und pass gut auf dich auf."
"Du auch." Mit diesen Worten stürzt sich der Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln über den Klippenrand, segelt noch einige Augenblicke über das Wasser und verschwindet dann.
“Wie hat er das gemacht?”
Megans Frage klingt schüchtern.
“Er ist,” antworte ich, “den Schritt zwischen Hier und Dort gegangen.”
Ich mustere sie aufmerksam und da sie scheinbar damit nichts anfangen kann setze ich zu einer Erklärung an.
“Übernatürliche Wesen, wie Engel und Dämonen, oder auch ich, können innerhalb eines Augenblicks den Ort wechseln. Das in etwa so, als würde man von einen Raum in den anderen treten. Ich weiß nicht wie das bei Engeln oder anderen übernatürlichen Wesen ist, aber ich muss wissen wohin ich gehe, muss den Ort wo ich hin möchte kennen oder etwas dort muss stark nach mir rufen. Verstehst du?”
Sie nickt langsam.
” Dann bist du auch etwas übernatürliches?”
Jetzt wirkt sie neugierig und ich muss lächeln. Lange sehe ich sie an und bemerke erst jetzt wie jung sie noch ist, vermutlich noch nicht einmal achtzehn Jahre alt. Die Traurigkeit in ihren blassgrünen Augen will so gar nicht zu ihrem jungen Äußeren passen. Der Wind hat ihr die Rotblonden, dichten Locken völlig zerzaust und einer Eingebung folgend hebe ich eine Hand und streiche ihr sanft einige Haarsträhnen hinter das Ohr.
“Ja,” antworte ich, “jetzt schon, aber ich war einmal ein ganz normaler Mensch. Nun so normal nun auch wieder nicht, denn wie du, sah auch ich Dinge, die andere nicht sehen konnten.”
Langsam trete ich einen Schritt zurück und setze mich dann an den Rand der Klippe, wobei ich die Beine ins Nichts baumeln lasse. Sie versteht den Wink und setzt sich neben mich. Einige Zeit schweigen wir wieder, schließlich breche ich die Stille.
“Du wolltest springen, nicht wahr Megan?”
Wieder nickt sie nur, dann sieht sie mich an und ich sehe die Tränen, die der jungen Frau nun über das Gesicht laufen. Endlich sprudelt alles aus ihr hervor. Dass sie vor drei Jahren ihre Eltern verloren und dann bei ihrer geliebten Großmutter gelebt hat, die vor drei Tagen gestorben sei. Dass ihr Freund sie einfach so verlassen hat und ihr Bruder nichts mehr von ihr wissen will, weil er ihr den Schuld am Tod der Eltern gibt und dass sie nun völlig mittellos ist und das Haus der Großmutter verkaufen muss. Ich lasse Megan einfach reden und nehme sie, als sie fertig ist und nur noch schluchzt fest in die Arme. Während ich das tue muss ich an Andreas denken, dem es ganz ähnlich erging. Der junge Mann hatte am Abend bevor wir ihn fanden seine Mutter und seine kleine Schwester, die bei einem Unfall zu Tode kamen, begraben. Seine Arbeit, seine Wohnung und all seine Freunde hatte er ebenso verloren. Wie seltsam denke ich, erst dieser junge Mann in Bonn und nun hier das junge Mädchen, deren Leben völlig in Scherben steht und die mich als die ersten lebenden Menschen seit beinnahe dreihundert Jahren sehen können. Schließlich beruhigt sich die junge Frau in meinen Armen und löst sich dann auch aus meiner Umarmung. Etwas fahrig wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
“Und ich dachte,” flüstert sie, “du tröstest nur die Toten.”
Ein leises Lachen dringt mir über die Lippen. “Ich tröste die, die sonst keiner mehr trösten kann. Für gewöhnlich sind das die Toten, aber das ist keine zwingende Voraussetzung.”
Jetzt sieht mich Megan wieder an und lächelt mir unter den Tränen zittrig zu.
“Na wenn das nicht auf mich passt.”
Froh sehe ich, das sich ihre tiefe Traurigkeit ein wenig verflüchtig hat und neuem Lebensmut Platz macht. Vorsichtig erhebe ich mich und helfe dann ihr hoch. Der Morgen kündigt sich in zartem Grau am Himmel an und Megan sieht durchgefroren aus. Vermutlich war sie die ganze Nacht hier oben auf den Klippen.
“Ich gehe nu besser nach Hause,” meint sie leise,” kannst... willst du nicht mit mir kommen? Ich würde so gerne noch ein wenig mit dir reden.”
Ich bringe es nicht übers Herz ihre neu entflammte Hoffnung gleich wieder zu dämpfen und willige ein. Warum auch nicht? Ich kann keine weiteren Resonanzen trauriger Seelen im Moment wahrnehmen. Shanael würde mit Sicherheit nicht vor dem Sonnenuntergang wieder hier sein und Uriel konnte mich auch bei Megan finden, die nachdem sie den Engel schon kennen gelernt hat auch wohl kaum über sein plötzliches Erscheinen erschrecken würde. Über das letzte bin ich mir nicht sicher, daher warne ich nun die junge Frau vor, dass womöglich Uriel plötzlich auftauchen könnte.

Einige Stunden später sehe ich der jungen Frau beim schlafen zu. Wirklich viel gesprochen hatten wir nicht mehr, dennoch schien meine Anwesenheit ihr gut zu tun.
Nun aber ist sie auf ihrem Sofa eingeschlafen und ich habe Zeit über diese neue Entwicklung nachzudenken. Was mag es bedeuten, dass nun Menschen auftauchen, die mich sehen können? Warum war das schon nicht vorher geschehen? Weshalb tauchen sie erst jetzt auf, wo eine unbekannte macht die Welt zu bedrohen scheint? Verwirrt frage ich mich, wie ich in all das hineingeraten bin. Noch während ich so nachdenke nehme ich die Resonanz einer traurigen Seele, gar nicht weit weg, wahr und erhebe mich seufzend. Mit meiner eleganten Handschrift hinterlasse ich der schlafenden Megan eine Nachricht, dass ich weiter musste und sie sobald wie möglich besuchen werde. Dann folge ich meiner Aufgabe und gehe den Schritt um die nächste traurige Seele zu trösten.

Ich stehe erneut auf den Cliffs und blicke über den Ozean. Die traurige Seele, die mich von Megan wegrief, war wirklich nicht weit gewesen und diesmal tatsächlich auch ein Toter. Noch immer beschäftigt mich die Tatsache, dass es nun ganz offensichtlich Menschen gibt, die mich sehen können. Ich frage mich noch immer, was dies wohl zu bedeuten hat.
Nachdem ich also die Seele getröstet habe und sie mit einem Raben ging, bin ich wieder auf die Cliffs gestiegen um die Nebelfrau hier zu treffen. Nebelfrauen sind interessante Wesen, finde ich. Sie werden als ganz normale Menschen geboren und nach ihrem Tot verlassen sie die Welt nicht, sondern werden entweder zu einer der Nebelfrauen oder auch zu einer Sturmfee. Was genau sie werden hängt von ihrem Temperament ab. Nebelfrauen waren in ihrem Leben meist ruhige, stille Frauen, Sturmfeen hingegen das genaue Gegenteil. Die hier an den Cliffs ist ein freundliches Geschöpf, mit dem Gesicht einer älteren Dame, hellen Augen und knielangen, hellgrauem, sehr weichem Haar. Nachdem ich ihr erzählt habe was sich in der Welt zuträgt, ist sie nur zu gerne bereit uns zu helfen.
Doch nun, nun stehe ich hier oben auf den Cliffs und sehe zu, wie die untergehende Sonne den Ozean unter mir so rot wie Blut färbt. Ich warte auf die beiden Engel, aber nicht um mit ihnen heute Nacht auf die Jagd zu gehen, sondern um ihnen zu sagen, dass wir unserer Pläne verschieben müssen. Aber eigentlich muss ich es nur Shanael sagen, denn Uriel weiß bereits, was heute Nacht geschieht.
Es ist soweit, dass weiß ich nun.
Eine ganz bestimmte Resonanz nähert sich dieser Welt und wird in der kommenden Nacht durch die Welt hallen. Was auch immer sonst geschieht, diese Resonanz, diesen Ruf einer ganz bestimmten Seele werde ich niemals ignorieren.
Hinter mir landet mit raschelnden Federn ein Engel, der niemand anderes ist als Uriel.
"Du spürst IHN schon, bevor er die Welt wirklich betreten hat, nicht wahr?"
Uriels Stimme ist leise und ich nicke nur stumm. Er seufzt leise, setzt dazu an etwas zu sagen und lässt es doch bleiben. Es gibt nichts was er sagen könnte um es besser zu machen oder sich für die Tatsache zu entschuldigen, dass er heute Nacht an einer anderen Jagd teilnehmen muss und wird. Es muss es auch nicht, denn ich verstehe es sowieso.
Auch Uriel hat seine Aufgaben und diese gehört dazu.
Als die Sonne gänzlich versunken ist kann ich spüren, dass Shanael hinter uns auftaucht. Doch bevor sie sich mir nähern kann fängt Uriel sie ab.
"Nein," seine Stimme klingt bestimmt, "bleib bitte hier. Stör sie nicht."
Shanael gibt ein schnaubendes Geräusch von sich.
"Was ist denn in dich gefahren?" Sie hört sich ärgerlich an.
"Wir jagen morgen,” meint Uriel,” denn heute muss ich woanders sein und sie auch."
Die Stimme des Todesengel hat noch immer diesen bestimmten Unterton, der keinen Widerspruch duldet und bevor Shanael, die sich darum nicht kümmert, widersprechen kann spricht er weiter.
"Hundert Jahre sind um, Shanael. Heute Nacht gehen wir getrennte Wege und sie muss den ihren alleine gehen, keiner darf sie dabei begleiten."
Die rothaarige Frau gibt einen erstickten Laut von sich, als sie endlich begreift und ein scharfer Stich von Trauer durchzuckt ihre Schwingungen. Das bringt mich nun doch dazu mich zu den beiden umzudrehen, obwohl die Resonanz aus der Ferne nun immer stärker wird. Mit einigen schnellen Schritten bin ich an Uriel vorbei und schließe Shanael fest in die Arme.
"Scht...," flüstere ich, "ich weiß was du möchtest, Liebes, aber es geht nicht. Du kannst uns nicht begleiten. Dein Bruder würde dich auch aus der Ferne spüren und die Trauer, der Schmerz in dir würde ihn nur quälen."
Ich löse mich von ihr und wische sanft eine einzelne Träne, die ihr über die Wange läuft, fort. Mit fällt etwas ein, dass sie vielleicht ablenken kann.
"Es gibt eine Lebende hier, die genauso ist wie Andreas. Ihr Name ist Megan, sie hat rotblonde Locken, blassgrüne Augen und taucht eventuell heute Nacht hier auf. Vielleicht täte es euch beiden gut, wenn ihr miteinander sprecht, außerdem konnte ich ihr noch nicht alles erzählen."
Shanael reißt sich zusammen und nickt stumm.
Die Resonanz wird immer stärker und ich weiß, dass die Schwingungen in wenigen Augenblicken stark genug sein werden, um ihnen zu folgen. Uriel wird nun nervös. Er wirft mir noch einen traurigen Blick zu und schwingt sich dann wortlos auf, um sogleich zu verschwinden.

Ich weiß, dass der Engel noch gerne etwas gesagt hätte, aber heute Nacht dürfen wir nicht mehr miteinander sprechen, bis die Sonne wieder am Himmel steht. Ich trete wieder an den Rand der Klippe und warte geduldig die wenigen Momente, bis ich die Resonanz stark genug fühlen kann.
Noch einmal drehe ich mich zu Shanael um. Sie steht alleine und wirkt im Moment sehr verloren auf mich.
"Ich sage Ihm, dass es dir gut geht."
Meine leise Stimme trägt weit und entlockt dem gefallenen Engel ein schmales Lächeln, das die scharfen Kanten ihrer Traurigkeit ein wenig mindert. Ich wende mich wieder dem Ozean zu. Mit geschlossenen Augen konzentriere ich mich auf den Ruf Seiner verwundeten, sich nach Trost sehnenden Seele, erfühle die Schwingungen ganz und gar und gehe den Schritt.
 
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Kommentare  

Lieber Jochen,

das hast du sehr gut erfasst.
Erst später spielen sie eine bedeutendere Rolle. Dennoch ist es wichtig,dass sie jetzt schon auftauchen.
Freut mich, dass es wohl noch immer spannend für dich ist....


Tis-Anariel (19.04.2010)

Also gibt es jetzt zwei Menschen die Engel sehen können: Andreas und Megan. Ich denke mal, dass sie später vielleicht noch in diesem Roman eine Bedeutung haben werden und wende mich nun dem nächsten Kapitel zu.

Jochen (18.04.2010)

Huhu Doska,

freut mich, dass dir auch dieser Teil gefällt.
Hmmm...ich bin ja immer für ne kleine Überraschung gut.

Liebe Grüße


Tis-Anariel (13.04.2010)

Ein sehr spannendes Ende dieses Kapitels, obwohl man ja eigentlich weiß, was kommen wird. Naja, so richtig weiß man es wohl doch nicht, denn die dunklen Wesen könnten ja das Ganze stören. Bin sehr gespannt auf das nächste Kapitel.

doska (12.04.2010)

Huhu Jingizu,
freut mich, dass es dir immer noch so gut gefällt.
Hmmm....mit Megan ist es so ähnlich, wie mit Andreas....im Moment ist sie noch ein interssanter Nebendarasteller, erst viel später in der Geschichte spielen sie eine wirkliche Rolle.
Da kommen jetzt übrigens noch mehr Charaktere auf euch zu.

Hallo Pia Dublin,
nun diese Betonwälle sind ja eine Entwicklung der letzten Jahre. Ich persönlich finde solche Eingriffe in die Natur nicht so toll.


Tis-Anariel (11.04.2010)

Höhö, ich war letztes Jahr auf den Cliffs of Moher. Man sagt, dass sich in den alten Zeiten die jungen Frauen die Klippe heruntergestürzt haben, wenn sie mit fünfundzwanzig noch nicht verheiratet waren.
Mittlerweile sind dort breite Betonwälle gezogen und es hängen überall Schilder mit einer Seelsorge-Telefonnummer (als Alternative...)
Liebe Grüße Dubliner Tinte


Pia Dublin (11.04.2010)

Huiuiui es tauchen ja immer neue Charaktere auf, das kann ja was werden. Auf diese nächste Nacht bin ich ja mal gespannt wie ein Flitzebogen!

Jingizu (11.04.2010)

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