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5 Seiten

Teestubengeschichten Kapitel 4

Romane/Serien · Nachdenkliches
Teestubengeschichten


Kapitel 4

Wolkenspringer


Die Wohnung war nackt, kalt, die Schritte und mein Husten hallten an den abgelebten Wänden wider, der ausgestoßene Rauch der Zigarette lagerte sich an den dreckigen Kacheln von Küche und Bad.
Ich hatte die ganze vergangene Woche gewerkelt, Möbel zerlegt und die Löcher gestopft die beim Abbau der Regale und Wandschränke entstanden. Gestern Mittag kam der Entrümpelungsdienst und nahm bis auf eine Glühbirne alles mit. Was mit dem Zeug passiert weiß ich nicht, ist mir aber auch wurscht ob` s in einer Gebrauchtwarenkaufhalle landet oder auf der Müllkippe endet. Die Nacht im Schlafsack auf`m harten Steinboden nahm mir mein Rücken übel, sehr übel. Bis 11 Uhr gab ´s ein Frühstücksbuffet. Ich zog das einzige Paar Schuhe an das noch im Gang lag, meine alten Wanderstiefel, nahm die Windjacke und saß zwanzig Minuten später im „Wintergarten“der „Teestube“ Ob es mich störe, wenn sie um mich herum die Pflanzenkübel bearbeiteten oder ich nicht doch lieber in einen anderen Raum wechseln wollte, fragte einer der Mitarbeiter vom „Pflanzendietrich“. Die kümmerten sich seit der Wiedereröffnung des Restaurants um die Gestaltung dieses Raumes. Nein, es störte mich nicht, ich wäre auch nicht gewichen; war das doch der letzte Tag für mich in der „Teestube“.
Hierher in den „Wintergarten“ brachte ich Großmutter vor etwa zwölf Jahren. Sie kam aus Halifax / England, wohin sie mit dreiundsiebzig Jahren spontan gezogen war. Der Grund warum sie nochmal zurückkam; sie musste ihre Wohnung auflösen. Geplant hatte sie damals eine Reise durch den Norden Englands, entlang des Hadrian Wall sowie einen Besuch bei einer deutschen Freundin, welche eben in Halifax wohnte. Vater tobte, drohte und wetterte: „Die lass ich einweisen“ und zu Mutter gewandt: „Deine Familie war gestört, ist´s und bleibt ´s auch. Werd du im Alter bloß nicht auch so!“, und schwang dabei drohend den Zeigefinger. Mutter seufzte, winkte ab und bereitete sich auf ihren Nachtdienst im städtischen Klinikum vor. Vater hatte bei der Post gearbeitet, bis dieser fürchterliche Unfall geschah. Irgendein Besoffener ignorierte die rote Ampel während Vater bei Grün gerade die Straße überquerte. Das rechte Bein blieb gelähmt, womit Vater umgehen konnte und auch bei der Post bot man ihm einen Arbeitsplatz im Büro an. Psychisch war jedoch etwas geschehen. Er bekam ständig Panikattacken und hatte Gedächtnisstörungen. Letztlich blieb nur noch die Frühpensionierung. Klaus war sein ganzer Stolz. Wenn er mal ´ne Drei in Mathe oder beim Aufsatz bekam, was selten passierte - meistens waren´s Zweier oder Einser - tobte mein älterer Bruder wie verrückt und verfluchte sich selbst. Von Anfang an gab ´s für ihn nur ein Ziel. Er wollte Arzt werden. Darunter, etwa Kranken - oder Altenpfleger, ging nix.
„Nimm dir an deinem Bruder ein Beispiel“, sagte Vater, wenn die immer drängende Frage nach der Zukunft gestellt wurde und mir keine Antwort einfiel, weder ihm gegenüber, noch bei der Berufsberatung, noch unter uns Schulkameraden, Kumpels, Freunden oder der Freundin gegenüber.
„Junge“, mahnte Großvater, „du musst doch wissen was du im Leben mal machen willst.“ Ich zuckte ratlos mit den Schultern und schwieg. Wie beneidete ich Leute die, wie Klaus, von Anfang ihre Ziele ins Auge fassen und dann zielstrebig darauf hin arbeiteten. Ich war eher die „dahin treibende Wolke die weder Regen noch Segen auf die Erde bringt.“ Der Spruch stammte von Herrn Dr. Traunstein, unserem Physiklehrer, einem widerlichen, selbstherrlichen Typ Mensch der aus dem Schuldienst entlassen wurde weil er Schüler an den Ohren und Haaren zog und das nicht nur einmal.
Eines Tages kam Klaus nicht nach Hause. Er studierte damals bereits an der Uni. Nach einer durchwachten Nacht meldeten ihn meine Eltern als vermisst. Vier Tage später fand man seine Leiche im Keller des städtischen Klinikums. Wie er dort hin gelangte, sich Zutritt verschaffte, konnte Mutter auch nach der x-ten Befragung durch die Polizei nicht beantworten. Dafür fanden sie seinen Abschiedsbrief und wäre Großvater nicht schon ein wenig vergesslich gewesen - er vergaß die strikte Abmachung, niemals irgend jemandem den Inhalt des Briefes zu erzählen, würde ich noch heutigen Tages darüber rätseln. Es war gegen Ende der 80er Jahre. Kurz bevor Klaus verschwand, hatte er einen Termin in dem Klinikum in dem er hoffte, zukünftig arbeiten zu können.
Nach Großvaters unbeabsichtigter Indiskretion erfuhr ich, dass Klaus nicht nur nicht die angestrebte Stelle erhielt, sondern auch sein gesamter beruflicher Lebensplan wegen einer AIDS Diagnose komplett zerstört war. Wir schwiegen uns gegenseitig an, niemand wagte darüber reden. Die Diagnose schien für Vater und Mutter schlimmer als der Selbstmord an sich. Darüber konnten sie mit Bekannten und Freunden reden. Hätten sie die Diagnose thematisiert, wären unweigerlich Fragen hochgekommen: Wie hat er sich das geholt, war da mal was an der Uni während des Unterrichts mit verdreckten Nadeln oder so ... um Himmels willen, er wird doch nicht etwa einer von „denen“ gewesen sein?
Opas Demenz verschlimmerte sich. Er erkannte Großmutter nicht mehr und wurde ihr gegenüber aggressiv und eine Gefahr für beide.
„Opa starb drei mal“, seufzte sie, als wir bei ihrem Besuch in der „Teestube“ über ihn sprachen , „zum ersten mal an dem Tag als er mich nicht mehr kannte, zum zweiten mal als ich ihn ins Heim gab und unser gemeinsames Versprechen brach. Du weißt ja, daß Opa und ich einander versprachen, einer würde den anderen nie in eines dieser Heime geben, komme was da wolle und zum dritten mal, aber das weißt du selbst … .“
„Hast du dir das vorgeworfen?“, fragte ich, „ich mein, ihn ins Heim gegeben zu haben?“ „Damals ja“, erwiderte sie, „glaub mir, ich sah mich als die schlimmste Verräterin, die größte Heuchlerin vor Gott und der Menschheit,
unverzeihlich, unser gemeinsames Versprechen zu brechen. Im Nachhinein betrachtet war´s natürlich das richtige“, sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, „ auch wenn es sich alles andere als richtig anfühlte.
Aber jetzt du dir Junge, wie geht’ s dir? Du siehst so müde aus. Immer noch auf der Suche nach dem perfekten Job, deiner Bestimmung, wie du´s immer nennst?“
„Ich hab letzten Monat angefangen bei Malcron im Lager zu arbeiten.“ „Ja, das hast du mir geschrieben. Gefällt´s dir dort, was machst du?“ „Aufträge bearbeiten und die bestellten Teile, z b. Schrauben, Muttern, Zeiger usw. zusammenstellen und zu den Fließbandarbeitern bringen.“ „Das ist interessant“, erwiderte Großmutter, „diese Fabrik stellt doch Tachometer für Autos her, nicht wahr? Also Millionen Autofahrer schauen jeden Tag auf deiner Hände Arbeit.“
Ich blickte aus dem Fenster. „Du bist die einzige die daran was positives sieht. Wenn du Vaters Meinung gehört hättest ... .“ Oma winkte ab: „ Bei Familie Stein wundert mich nichts.“
„Wer ist Familie Stein?“ „Na, dein Vater und mittlerweile deine Mutter auch.“ „Wie meinst du das? Du weißt doch wie wir heißen.“
Fing Oma jetzt auch an? Lag Vater etwa richtig?“
Sie lachte schelmisch. „Nein, Junge, da mach dir keine Sorgen. Oben ist noch niemand ausgezogen“, und tippte sich an die Stirn.
„Ich habe nie mit euch "Wolkenspringer" gespielt? Es war ein Spiel das Doris und ich oft miteinander spielten. Du erinnerst dich, ich hab dir oft von ihr erzählt."
Ich erinnerte mich. Oma sprach oft von ihrer Schulfreundin. Sie kam bei einem der letzten Bombenangriffe in unserer Gegend ums Leben. „Wir hatten damals ja nicht das Geld“, sagte sie“, „geschweige denn die Möglichkeit einfach zu verreisen und zu erleben, uns auf Festen zu vergnügen, im Internet mit Computern und Handys mit Leuten aus Australien oder sonst woher Kontakt zu haben . Es blieb uns, gerade auch während des Krieges, halt nur unsere Phantasie. Doris hatte eines Tages den Einfall „Wolkenspringer“ zu spielen. Keine Ahnung was das sein sollte, dachte ich und ließ es mir erklären. Wir lagen beide draußen auf einer Wiese neben den Feldern. Sie legte zwanzig kleine Kieselsteine zwischen uns und nahm die Stoppuhr ihres Vaters aus der Tasche. Das Spiel ging so: Wer anfing, dachte sich eine Figur aus und setzte sie – bildlich gesprochen – auf eine Wolke, bekam zwei Minuten Zeit sich eine Geschichte auszudenken und nochmal zwei Minuten um sie zu erzählen, dann kam die andere an die Reihe und musste die Geschichte fortführen, die Figur auf eine andere Wolke "setzen" und bekam ebenfalls zwei Minuten. Wem es nicht innerhalb der Zeit gelang eine sinnvolle Fortsetzung zu finden, musste sich einen Stein nehmen. Damit galt die Figur als tot und man konnte eine neue Figur erfinden mit einer neuen Geschichte, allerdings, wer zuerst zehn Steine zusammen hatte, war der Verlierer und musste eine Geschichte für die Gewinnerin schreiben. Ich habe noch heute drei Geschichten von Doris. Das hat Spaß gemacht, war ´n schöner Zeitvertreib ließ uns manch böse Momente vergessen und förderte unsere Beweglichkeit unsere Kreativität im Denken , im Leben."
Daher kam dieses Talent.
Großmutter war eine Meisterin im Geschichten Erfinden. Aus dem Stehgreif erzählte sie Klaus und mir kleine Geschichten, Märchen, Fabeln, beschrieb Figuren oder dichtete lustige oder auch mal nachdenklich stimmende Reime, die ich nie in Büchern fand.
„Manchmal“, lächelte sie verschmitzt, „ spielen Martha und ich das Spiel. Da wo ich jetzt wohne, gibt ´s ja fast immer Wolken.“
„Großmutter, darüber wollte ich mit dir reden. Deine Wohnung und alles hier aufzugeben mit deinen dreiundsiebzig Jahren ...“ „Kein Wort will ich hören, sonst ...“,drohte sie mit humorvollem Unterton.

An diese Unterhaltung erinnere ich mich, als hätte sie gestern stattgefunden und nicht vor zwölf Jahren. Oma starb vor sechs Monaten. Martha schrieb und fragte im Brief, ob ich etwas von Großmutters Möbeln haben wolle. Sie würde die Wohnung auflösen, da von der Familie offensichtlich niemand Interesse an dem Appartement hätte.

Um 18.10 fährt der Nachtzug nach Hamburg. Ich entschloss mich, auf die alte Art nach England zu reisen, mit dem Schiff. Wenn ich in Halifax ankomme, muss ich zuerst bei Martha den Schlüssel holen und mir während des Wochenendes die nächsten Schritte überlegen. Allzu lange reicht mein Erspartes nicht, aber irgend etwas wird sich finden.
 
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Kommentare  

Hallo Gerald
Danke für den netten Kommentar, schön, dass dir
die Geschichte gefallen hat.


Thomas Schwarz (20.08.2020)

Wieder eine bezaubernde Geschichte, mit zarten Untertönen, von dir. Hat mir sehr gut gefallen.

Gerald W. (20.08.2020)

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