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5 Seiten

Geschenke

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Es hörte auf zu schneien. Vom getauten Schnee auf meinem Körper völlig durchnässt ging ich durch die Straßen. Entlang an den entlosen Geschäftsreihen , die die Sucht der Kaufsüchtigen immer wieder mit neuer Ware stillte. Es war die Hölle los. Natürlich, wie jedes Jahr zu Weihnachten. Die Schlangen der Läden führten manchmal bis auf die Straßen. Hin und wieder sah man ein paar Diebe weglaufen, gehetzt von Kaufhausdetektiven. Ich finde die Vorstellung, dass die Kriminalität zu Weihnachten immer größer wird wirklich zum lachen, wobei sie doch eigentlich geringer werden müsste. Ist es nicht das Fest der Liebe? Ist das nicht die Ironie des Schicksals ?
Der Himmel bedeckte sich immer mehr mit Wolken und der Wind wurde stärker. Doch mindestens in einer Stunde würde von der grauen Wand nichts mehr zusehen sein. Bald würde es dämmern und das Graue verwandelt sich in hell erleuchtete Dunkelheit.
Die Nacht hatte für mich schon immer mehr Bedeutung als der Tag. Sie verbirgt das Hässliche, doch wenn sich der Himmel auftut erscheint sie in voller Wonne und Blüte ihrer Jugend. Ihre Diamanten lassen Millionen von Menschen träumen und erfreuen. Unerreichbare Götter werden sie genannt.

Früher hat mir immer gesagt, dass jeder Mensch seinem persönlichen Stern folgt und dass man in Zeiten von Trauer und Hass an ihn glauben soll um neue Kraft zu schöpfen.
Ich hoffe immer, dass mein Stern mir auch einmal helfen wird, mich leiten wird. Doch bisher habe ich davon noch nichts gemerkt und zweifele an diesem Glauben. Außerdem sind die Sterne nicht mehr so unerreichbar, wie sie es einst waren.
Jetzt fing es auch noch an zu regnen. Die schweren Einkaufstüten zerrten an meinen Fingern, die vor Kälte taub wurden. Meine Haare wirbelten nass hin und her, wurden zum Windspiel des Winters.
„Jetzt reichts“ dachte ich mir. Ich stellte meine Taschen ab und hielt Ausschau nach einem kleinen schwarzen Auto mit einem blinkenden Schildchen auf dem Dach - einem Taxi. Ich holte mein Portemonnaie aus der Tasche und überprüfte, ob ich noch genug Geld hätte um den Fahrer zu bezahlen. „Es müsste reichen“ dachte ich mir. Hauptsache, ich komme nach hause, raus aus diesem Trubel, aus dieser Kälte. Ich sehnte mich nach einem heißen Tee, nach meinem gemütlichen Sofa, einem heißen Bad.
Es wurde dunkel, die Straßen spiegelten bunte Lichter der Geschäfte wieder. Oh Gott, diese Geschäfte! Vollgestopft waren sie, mit Geschenken über die sich sowieso niemand freuen würde, fantasielose Gegenstände, kitschiges Spielzeug. Wenn Weihnachten schon das Fest der Liebe ist, warum schenkt man dann nicht etwas, was vom Herzen kommt? Die Menschen heutzutage sehen das Schenken als ihre Pflicht an, egal was es ist, man belädt es einfach mit den „besten Wünschen“ und pausenlosen Rechtfertigungen. Freut man sich dann darüber? Ich würde es nicht.
Da, ein Taxi, endlich! Ich streckte den Arm aus, winkte und rief. Zum Glück, es hielt an. Ungewohnlich, überlegte ich, sonst bekam ich nie auf Anhieb ein Taxi. Sah ich heute Abend vielleicht so bemitleidenswert aus? Ich, mit meinen nassen Haaren, in denen sich von Zeit zu Zeit kleine Schneeflocken verfingen, mit meiner roten Nase, dreckigen, schlammbespritzten Schuhen?
Wahrscheinlich war es so. Das Gefährt hielt neben mir. Ich öffnete die hintere Tür, verstaute meine Tüten und Taschen auf dem Rücksitz. Warme Luft strömte mir entgegen, als ich einstieg. Sie war stickig, roch nach Zigerrettenqualm aber warm. Ich war überrascht, ich habe noch nie einem altmodischem Londoner Taxi mit Heizung gesessen. Wie auch immer, ich nahm Platz, schloss die Tür, die einen Teil des Straßenlärms abschirmte.
„Marylebone Street, bitte“ sagte ich tief duratmend, erleichtert, müde von dem langen Tag.
„Wie sie wünschen, Miss“ bekam ich als Antwort.
Meine Hände tauten langsam auf, genau wie meine Nase und Ohren. Ich legte den Sicherheitsgurt an, lehnte mich im Sitz zurück und schloss die Augen. Still war es im Taxi, das gleichmäßige Motorgeräusch, das leise Getöse von draußen ließen mich schläfrig werden. Wahrscheinlich wäre ich eingeschlafen, wenn mich der Taxifahrer nicht wieder erweckt hätte.
„War wohl ein anstrengender Tag, oder?“ Ich öffnete die Augen, schämte mich ein wenig für mein langweiliges Dasein, blieb aber entspannt sitzen, mit sturem Blick auf die Straße.
„Ja ziemlich, und bei diesem Wetter verliert man generell jede Motivation.“ antwortete ich.
„Da haben Sie Recht ,Miss. Geschenke suchen und kaufen erfordert heutzutage auch schon sehr viel Energie.“ entgegnete er mit einer kleinen Kopfbewegung, die auf meine diversen Tüten auf dem Rücksitz hinweisen sollte.
„Oh, ach das meinen Sie. Nein, das sind keine Weihnachtsgeschenke, bloß ein paar Besorgungen.“
„Ein paar?“ fragte er amüsiert.
„Das meiste sind Bücher für mein Studium, wenn sie es genau wissen wollen.“ bemerkte ich etwas gereizt.
„Dann haben Sie wohl schon alle gekauft, was?“
„Nein, das brauche ich nicht.“
„Sie schenken ihren Freunden und Verwandten nichts? Das ist doch das Fest der Liebe.“
Ich schwieg und hob skeptisch eine Augenbaue. Mit Taxifahrern Small-talk zu führen, mich mit ihnen über das Wetter und über sonstige unwichtige Dinge zu unterhalten war ich gewöhnt. Wohin sollte aber dises Gespräch führen? Wollte er mich ausfragen? Er hatte kein Recht dazu. Ich kannte ihn ja nicht. Wir fuhren auf eine Kreuzung. Die Ampel wechselte von gelb auf rot. Er verlangsamte das Tempo und hielt an. Ich wandte meinen Blick aus dem Fenster. Immer noch Hektik. Leute rannten über die Straße, Mütter mit ihren Kindern an der Hand, alte Leute suchten ängstlich ihren Weg. Ich hatte eigentlich nicht vor auf sein Kommentar zu reagieren, dennoch tat ich es. Fast automatisch brach es aus mir heraus:
„Ich habe niemanden zum Beschenken.“
Er drehte sich zu mir „Sie haben doch aber einen Freund?“
„Warum sollte ich?“
„Weil es normal ist.“ sagte er.
„Was ist schon normal? Haben Sie schon alle Geschenke?“
„Nein, das brauche ich nicht.“ sagte er, den Blick immer noch zu mir gewandt.
Ich lächelte, starrte immer noch aus dem Fenster. Schneeflocken versanken in den Pfützen am Bordstein, Menschen liefen mit Regenschirmen und dicken Wintermänteln über die Kreuzung. Alle flüchteten sie vor dem Wetter.
„Haben Sie einmal Geschenke gekauft?“ fragte er unschuldig wie ein Kind.
„Ja, früher habe ich einmal ein Geschenk gebastelt. Für meine Mutter. Es war ein kleines Fensterbild, ein Schneemann.“ Ich stockte, hielt inne. Tränen traten mir in die Augen. Schreckliche Bilder nahmen Besitz von mir.
Schreckliche Bilder. Ich sah meine Mutter über die Schwelle unserer Haustür gehen. Sie lachte, es war Winter, ein kalter Winter mit richtigem Schnee. Sie ging in den Vorgarten, formte einen Schneeball und warf ihn mir zu. Ich stand in der Tür. Es war morgen. Meine nackten Füße guckten unter meinem Nachthemd hervor. Es war kalt, doch ich fror nicht. Ich lachte auch, freute mich über den ersten Schnee. Doch meine Mutter, sie freute sich so sehr. Sie lachte und sie weinte. Ich bekam Angst, sie lachte so laut, als würde sie schreien. Ich rief ihr zu, sie sollte aufhören, aber sie beachtete mich nicht.
Hinter uns hupte ein anderer Wagen. Die Ampel hatte auf grün gewechselt und wir fuhren scharf an. Die Erinnerungen verblassten.
„Wo ist ihre Mutter jetzt?“
„Nicht mehr da. Sie hat sich erschossen. Ich war 10 Jahre alt. “
Wieder kehrten sich meine Blicke nach innen.
Sie hörte nicht auf zu lachen. Ich dachte sie wäre wahnsinnig und sie war es auch. Und dann.... und dann, dann nahm sie einen Revolver aus ihrer Manteltasche, es krachte , ein Schuss. Ich hielt mir die Ohren, meine Mutter sank zu Boden. Blut färbte den Schnee. Ich rannte zu ihr, wollte sie festhalten. Ihre letzten Worte werde ich nie vergessen:
„Meine kleine süße Sarah. Dein Daddy sagte immer „Das Leben ist so oder so, man muss damit auskommen, ob man will oder nicht. Ich liebe Dich.“ Sie starb in meinen Armen.
„Haben Sie denn keinen Vater?“ fragte die unbekannte Stimme.
Ich erwachte aus meinem Alptraum, wischte mir Tränen aus dem Gesicht, atmete tief durch und versuchte ohne Schluchzen zu antworten: „Ich habe ihn nie kannengelernt, nein. Ich kenne kein Foto, keinen Brief, nichts. Und ich will es auch nicht. Sie hat ihn geliebt, er hat sie damals allein gelassen, verstoßen, wegen mir, weil ich unterwegs war. An gebrochenem Herzen ist sie gestorben, kam mit ihrem Leben nicht mehr zurecht, nicht ohne ihn. Warum sollte ich ihn kennen lernen wollen?“
Warum sollte ich länger mit diesem Menschen neben mir reden? Ich wollte lediglich von ihm heim gefahren werden, nicht meine Lebensgeschichte erzählen. Und doch vertraute ich diesem Fremden mehr an als mir lieb war. Vielleicht war es dieses Anonyme, das Wissen, dass ich ihn vielleicht nie wieder sehen werde, er mich nicht kannte.
Wir bogen in die Marylebone-Street ein. Ich dirigierte ihn zu dem Wohnhaus indem sich mein Zuhause befand.
„Wie viel?“ fragte ich.
„Nichts. Es ist Weihnachten. Das ist mein Geschenk.“
Ich wollte ihn ansehen, aber ich konnte es nicht. „Danke“ war das Einzige, was ich herausbrachte. Ich öffnete meine Tür, ging ums Auto herum und holte meine Taschen und Tüten. Es war kalt hier draußen, doch ich fror nicht. Ich sah mich noch einmal um. Der Taxifahrer kurbelte ein Fenster herunter: „Sarah“, sprach er, „denk dran’ das Leben ist so oder so, wir müssen damit auskommen, ob wir wollen oder nicht.“

 
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Kommentare  

gerade dieses offene ende finde ich genial - diese geschichte kommt mir gar nicht so
unrealistisch vor - ich glaube an solche wundersame begegnungen! 5 points


sibylle (04.06.2003)

gerade dieses offene ende finde ich genial - diese geschichte kommt mir gar nicht so
unrealistisch vor - ich glaube an solche wundersame begegnungen! 5 points


sibylle (04.06.2003)

hm.. also ich weiß nicht... wenns wirklich der vater sein sollte, dann wärs doch schon n ziemlich krasser typ... ist schuld an dem tod der mutter seines kindes, und dann lässt er seine tochter lakonisch mit dem kommentar gehen, den ihre mutter ihr in ihrer verzweiflung noch als letzten trost geben konnte? ok bissy krass gesagt.

ich finde die darstellung dieser weihnachtsatmosphäre total schön, so richtig realistisch... es ist eben oft genau da nicht liebe drin wo auch liebe draufsteht, man findet sie eher da wo man sie nicht vermutet...


[once was sam] (02.12.2002)

~wunderschön~

Macht mich nachdenklich... war der Taxifahrer der Vater? Und wenn ja, mhh... woran erkannte er seine Tochter? Oder gehört das offene ende einfach dazu...... auf jedenfalls einfach schööön... (vielleicht war's ja auch ein weihnachtsengel... zu dieser zeit passiert ja so manches ;-))
Lieben Gruß und *****


*Becci* (27.08.2002)

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