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11 Seiten

Norchas Mühlenkinder (Kapitel 60 und 61)

Romane/Serien · Spannendes
- LX -
Verhalten und in Gedanken versunken ritt Doggâr zurück in das Lager am Fyldân. War ein solch brutales Verhalten gegenüber der Auxell notwendig gewesen?
Er hatte gewusst, dass die Rebellen in den Reldoc gestiegen waren. Ihrer Bestätigung hätte er nicht bedurft, seine folgenden Schritte zu planen. Nein, Scham, von ihr auf dem Sonnenfest vorgeführt worden zu sein und die daraus resultierende Wut, hatten ihn mit sich gerissen bereits in dem Moment, als er sie an der Felswand hatte sitzen sehen. Einem wilden Wesen gleich hatte er sich nur noch rächen wollen, hatte er ihr nur Schmerzen und ebenfalls Erniedrigung zukommen lassen wollen. Als Nebeneffekt hatte er von der verschüchterten Dwelg die Auskunft erhalten, die er hatte haben wollen. Diese würde sicherlich seine harte Art in Gnarphat weiter verbreiten, so dass ihm von Seiten der Kleinwüchsigen Respekt und Ehrerbietung, geboren aus Furcht, sicher sein sollte.
Aber war es dies, was er wollte?
Seine Ziele sahen ganz anders aus. Aber die Tatsache beruhigte den Soldaten in ihm, von der Front der Dwelg kein Aufbegehren, keinen Angriff erwarten zu müssen. Morgen würden er sich mit seinen Männer bei Tagesanbruch ebenfalls in die Felswelt des Reldoc begeben, würden sie den Rebellen direkt auf den Fersen sein und er würde zu verhindern, zu lenken wissen.

Am Abend hatten die Freunde noch lange zusammen gesessen, die Behaglichkeit der Hütte wertzuschätzen gewusst. Wer wusste schon zu sagen, wie lange sie folgend auf eine solche Möglichkeit verzichten mussten. Innig beschäftigten sich die Männer mit den Fragen der bevorstehenden Auseinandersetzungen. Wie sollten, wie konnten sie dem Gegner entgegentreten? Welche Möglichkeiten hatten die Männer um ihn, gegen die Schwarzen Reiter vorzugehen und die Mühlenanlage zu belagern?
Im Geheimen dachte Radh mit Schrecken an sein Zaudern, die Felsenstadt Gnarphat zu betreten. Es war ihm nicht möglich gewesen, den Fuß über die Schwelle zu setzen und die erste Höhle zu betreten. Wie mochte sich diese Situation darstellen, wenn sie erst einmal die Mühlenanlage erreicht hätten?
Noch konnte er sich umentscheiden, konnte sich der Gruppe anschließen, die Xabêr zum Ziel hatte. Doch dies stand für ihn nicht zur Wahl.
Er wollte zurück in die Mühle.
Er wusste, er musste sich der Angst und dem Auflehnen dieser längst vergangenen Zeiten stellen, mit ihnen kämpfen und entweder bezwingen oder im Kampf untergehen, um endlich von den schwarzen Schrecken der Erinnerungen befreit zu werden. Immer wieder waren am Abend seine Gedanken diesen Pfad gewandert, immer wieder hatte er sie zurück an den Tisch, in die Hütte im Reldoc gerufen. Er wollte den Überlegungen der Freunde folgen, sich mit ihnen austauschen.
Wie begeistert war er über eine Idee Callas gewesen, den Sporensäckchen der Ferrud, die gleich dem Feuerwerk zum Sonnenfest, ein solches auch in der Mühlen- und Tempelanlage zünden konnten, Samenkapseln des Salkurs beizugeben. Sie hatte die Freunde darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Samen einen noch wesentlich widerwärtigeren Geruch abgaben als die fein zerstoßenen Blüten, die bereits die Moormücken vertrieben hatten. Kelrik malte daraufhin in den farbenprächtigsten Bildern die Flucht aller Lebewesen aus Mühle und Tempel, blind vor Tränen, hechelnd nach frischer Luft.
Lachend teilte Calla die damals wie selbstvergessen gepflückten Sporenkapseln an Baldur und Kelrik aus, die sie unter ihre Farnsporen geben wollten. Die damals in Silfân so sorgsam gesammelten Feuerpilze, unter ihren Kochutensilien gut getragen von dem Packpferd, das den Überfall der Schwarzen Reiter überstanden hatte, hatte Calla allerdings am letzten Abend in Gnarphat in eine kleine Bodengrube gegeben. Den langen Weg schlecht überstanden, hatten die Pilze einen seltsamen Geruch angenommen, was allen zu heikel in der Anwendung wurde. Grinsend tröstete Kelrik die Freunde.
„Wer weiß, wofür das gut war. Ihr seid lange noch nicht sicher in der Verwendung von Pfeil und Bogen. Eine Eigenverletzung durch die Pfeilspitze sollte ausreichen, diese muss nicht noch wie die Esse eines Dwelgs brennen.“

Wie jeden Morgen schaute Garte gleich mit Betreten der Küche in der Festungsanlage zu Fellsane aus dem Fenster auf den gepflasterten Innenhof hinaus. Gerade löste sich die Torwache ab. Meldung gaben die Soldaten nun seit zwei Tagen, seitdem Doggâr in Begleitung von Uwlad und zwei weiteren Gardisten die Festung verlassen hatten, an einen Kameraden, den der Hauptmann auf die Schnelle zum Verantwortlichen erklärt hatte für die Zeit seiner Abwesenheit.
'Wie mochte es Uwlad an der Seite seines Hauptmannes ergehen?'
Die letzten Tage seit der Rückkehr von jenem erfolglosen Suchtrupp, der sie bis nach Elsor geführt hatte, hatte Garte in ihrem Geliebten nicht mehr den Mann erkannt, den sie gewohnt war. Immer wieder hatte Uwlad sich umgeschaut, niemals konnte er sich auf eine Unterhaltung, auf ein Tun einlassen, ohne nicht ein Auge, ein Ohr in sein Umfeld gerichtet zu haben. Die Angst vor einem Hinterhalt durch seinen Hauptmann hatte ihm schier den Verstand geraubt. Einerseits empfand Garte nun, da die beiden Gardisten die Festung verlassen hatten, eine Form von Erleichterung. Die Anspannung war mit den beiden davon geritten.
Auf der anderen Seite bangte sie innigst um das Wohl des Geliebten. Was mochte in den kommenden Tagen geschehen? Würde Doggâr die Bedrohung, die er ausstrahlte, in Form eines Dolches im Leib Uwlads versenken? Würde Uwlad seinem Hass erliegen und sich wegen all der Gräueltaten des Hauptmannes an ihm rächen und seinerseits eine Attacke fahren?
Mit einem schweren Seufzen wandte Garte sich um. Die kommenden Tage trugen massive Veränderungen, dies spürte sie deutlich.

Der erste Tag in den Höhen des Reldoc begann mit einem sonnenstrahlenden aber sehr kalten Morgen. Nach einem Abschiedsfrühmahl traten die Freunde vor die Hütte und ließen sich von Hodur die Richtungen angeben.
„Ihr müsst euch immer nach Süden halten, immer dem höchsten Gipfel zu.“
An seinem ausgestreckten Arm entlang fand Calla die bezeichnete Bergspitze im Sonnenglanz eisbedeckt glänzen.
„Kredân dürftet ihr in zwei Tagen erreicht haben. Die Bewohner sind uns Dwelg gegenüber immer zurückhaltend aber freundlich entgegen getreten. Ich habe keine Vorstellung, wie sie auf Fremde aus den Westlanden, aus Auxell oder dem Ferrudwald reagieren werden.“
Seine Überlegungen pflanzten sich in Callas Geist fort.
„Allein aus den männlichen Bewohnern Kredâns wählen die Grauen Priester die Novizen aus, sie zu schulen für den Tempeldienst in Xabêr.“
Seine Pause erlaubte ihr und den beiden Männern in ihrem Rücken, das Wissen aus den Worten zu nehmen.
„Können die Grauen Priester von eurer Anwesenheit im Reldoc wissen? Können sie von euren Zielen wissen?“
Calla zuckte unweigerlich mit den Schultern, konnte sie dem Dwelg doch keine Antwort liefern.
„Die Grauen Priester wissen fast alles. Ich rechne damit, dass sie auch über euch Bescheid wissen. Seid auf der Hut. Sie sind gewarnte Hofhunde und ihr wollt diesen Hof betreten und dort Unfassbares, nie Gewesenes bewirken.“
Nachdenklich lauschte sie den Worten Hodurs nach. Die schwere Bürde legte sich wie Gewichte auf ihre Schultern, wie ein Schatten auf ihr Gemüt, der das einladende Sonnenlicht des Morgens verschluckte. Warm spürte sie Andras’ Hand auf ihrem Rücken, fühlte seinen Beistand, seine Nähe. Mit seiner und Baldurs Hilfe sollten sie es schaffen, Kredân zu erreichen und zu umgehen. Sie würde sich später mit den Begleitern besprechen, doch erschien es ihr vernünftiger, das Felsendorf, aus dem Ewelk stammte, nicht zu betreten. Sicherlich gab die Gegend die Möglichkeit her, einen Bogen um die Siedlung zu schlagen, sodass sie nicht zusätzlich auf sich aufmerksam machten.
Irgendwann war alles, was es zu sagen gab, gesagt. Mit aufmunternden Worten nahmen die Freunde voneinander Abschied. Innig fühlte sie sich von den Weggenossen in die Arme genommen.
„Wir werden mindestens morgens und abends miteinander in Kontakt treten und uns austauschen.“
Gerührt betrachtete sie den Abschied von Vater und Sohn.
„Passt auf euch auf!“
Verstohlen wischte sie ein paar Tränen von den Wangen, als sie sich mit einem gewunkenen Gruß umwandte.

Nachdem sie an diesem Morgen dem Grafen aufgewartet hatte, zog sich Kanda entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit in ihr Zimmer zurück. Sie benötigte dringend Abgeschiedenheit, in Ruhe über die letzten Ereignisse nachdenken zu können. Die auffällige Unruhe des Grafen spielte dabei eine untergeordnete Rolle.
Die Küchenmatrone kannte ihren Vorgesetzten nicht anders, als dass er immer viel zu heftig auf jede Kleinigkeit reagierte. Sie vermutete seine Dummheit als Ursache und an der konnte und wollte sie nichts verändern. Nein, was sie viel mehr beschäftigte und selbst leicht beunruhigte war das seltsame Verhalten Doggârs.
Als sie beide vor einigen Jahren die Order der Grauen Priester erhielten, in der Festung zu Fellsane eine Anstellung zu finden und Graf Marret unter Kontrolle zu halten, ihn im Interesse der Tempelwächter zu beeinflussen, erschien ihr die Aufgabe ersichtlich. Auch Doggâr hielt sich an jene Vorgaben, beeindruckte mit seinen Leistungen als Hauptmann und stieg sehr schnell in der Achtung des Grafen und seiner Soldaten. Sie sollten Marret lenken, und damit auch das Volk Lâmechas von eigenen, aufrührerischen Gedankengängen abhalten. Müssten sie dazu Gewalt und Diktat säen, so sollte dies geschehen.
Zum Wohle Lâmechas, zum Wohle ganz Norchas!
Allerdings uferten die Aktionen Doggârs nach ihrem Befinden seit dem Sonnenfest aus, galten nicht mehr dem gewählten Ziel, sondern allein ihm. Er unterdrückte, er spielte mit der Macht, die er seiner Position verdankte. Er genoss die Angst in den Augen der Bevölkerung, berauschte sich an dessen Furcht, an dessen Schmerzen. Er ließ arrestieren, ließ foltern. Bis in den Tod hinein.
Wie widerwärtig hatte er seine Macht genossen, ihr vor ein paar Tagen sagen zu können, dass ihr Bruder unter der Folter ums Leben gekommen war!
In ihrem Inneren brandete Wut und Verzweiflung auf, legten sich schwer auf ihren Magen. Übelkeit ließ den Speichel sich in ihrem Mund sammeln.
Was war auf dem Sonnenfest geschehen, was das Verhalten des Hauptmanns so sehr veränderte?
Kanda sammelte in Gedanken die Ereignisse der vergangenen Tage.
Nein, schon zuvor, schon vor dem Sonnenfest hatte sie Veränderungen am Verhalten des anderen erkannt. Plötzlich sah sie eine Begebenheit ganz deutlich vor ihrem inneren Auge.
Calla hatte damals ihren Dienst in der Küche begonnen und sie hatte das junge Mädchen im Rahmen der allgemeinen Vorstellung auch dem Hauptmann zugeführt. Er hatte sie mit seinen strengen Augen von oben bis unten betrachtet und sie mit einem kühlen Gruß Willkommen geheißen.
Seit jenem Tag hatte sich das Verhalten des Hauptmanns Doggâr verändert. Seit jenem Tag hatte sich das Verhalten des Grauen Priesters Ragon in der Uniform des Hauptmanns Doggâr verändert!

Unwirsch lief der Älteste von Gnarphat mit kleinen, schnellen Schritten durch das Audienzzimmer.
'Wo bleibt dieses dumme Weibstück?'
Wieder stoppte er seinen unruhigen Lauf, holte einmal tief Luft, hob dabei seine kurzen Arme, als benötigte seine Brust jene Unterstützung.
'Verlass dich auf Frauen und du bist verlassen!'
Grollend erreichte er die Wand, trat dagegen und wandte sich in einer harschen Bewegung um. Am Abend hatte er von dieser unwürdigen Dwelg erfahren, dass die Besucher von Hodur in den Reldoc geführt worden waren.
'Gut so, so schnell wie möglich weg mit diesem Unrat!'
Sein Kichern begleitete weitere Bilder, die er sich nicht in Gedanken zu bringen getraute. Mit einem hämischen Grinsen sah er den Bewohner seiner Stadt die ungebetenen Langleute in eine Falle führen. Eine gewagte Passage vielleicht, die – huch! – einen Absturz bewirken würde. Rasch, bevor er sich zu sehr an dieser Möglichkeit ergötzen konnte, wischte er die Bilder beiseite.
'Aber diese eine Person verweilt noch am Fuße des Reldoc. Was ist mit dieser?'
Wieder erreichte er eine Wand, schlug diesmal mit der Faust dagegen, wandte sich erneut mit einer schnellen Bewegung, die die Schöße seines Rockes fliegen ließ, um.
'Wenn dieses dumme Weibstück nicht augenblicklich …'

- LXI -
Kaum hatte Graf Marret an diesem Morgen das Frühmahl beendet, als er schon mit kleinen, schnellen Schritten seinen Räumlichkeiten entgegen hastete. Er kannte seine Unruhe. Sie war ihm seit seiner Ernennung zum Grafen über Lâmecha zu einer zweiten Haut geworden. Doch seit ein paar Tagen, seitdem sein Hauptmann der Garde mit drei weiteren Soldaten die Festung in Richtung Reldocgebirge verlassen hatte, nahm diese Unruhe ihm den Schlaf, raubte ihm die Atemluft von den Lippen und ließ ihn kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Unablässig verfolgte ihn die Furcht, den Grauen Priestern von Xabêr unzureichend Auskunft über die Begebenheiten in den Niederungen zukommen zu lassen.
Stieg er ansonsten nur hin und wieder auf den Stuhl, in die hochgelegene Nische greifen und die metallene Schale zu entnehmen, so tat er dies seit zwei Tagen nahezu ununterbrochen. Kaum wagte er seine Zimmerflucht zu verlassen, könnte doch just in diesem Moment eine Frage aus Xabêr an ihn gerichtet werden. Irgendetwas ging vor in Lâmecha. Etwas, das er nicht greifen konnte, doch wusste er, dass Hauptmann Doggâr darin verwickelt war genauso wie die Küchenhilfe Calla.
Und beide hatten die Festung verlassen, beide stellten sich für ihn unerreichbar dar.
Dabei erwarteten die Grauen Priester, dass er souverän die Geschicke der ihm überantworteten Provinz leitete. Wie konnte er dies, wenn sein Hauptmann, auf den er zählte, dem er bis in die letzte Faser seines Selbst vertraute, für ihn nicht erreichbar war?
Als Marret auf den Stuhl kletterte, mit fahrigen Händen nach der Metallschale griff und sie an seine Leib zog, ahnte er, dass ein neuerlicher Kontakt zu den Priestern ihren Unwillen schüren würde. Doch schlimmer als deren Unwillen würde es sicherlich ihm ergehen, sollten sie ihm unterstellen können, er habe sie nicht informiert. Hastig glitten seine Finger über die Runen im Rand der Schale. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu fallen, so begierig wartete er starrend auf die ersten Lichtbögen. Ein Sausen und Zischen in den Ohren verdeutlichte ihm, dass er stärker lauschte als jemals in seinem Leben zuvor.
„Graf Marret, einen guten Morgen zum dritten Male an diesem Tag.“
Die Stimme des Priesters klang fürwahr ein wenig ungehalten.
„Auch Euch einen guten Morgen, ehrwürdiger Priester zu Xabêr.“
Träge nur quollen die Worte über seine unruhig zitternden Lippen, trugen deutlich das Flattern seiner überreizten Nerven.
„Ich vermeinte, Euch davon in Kenntnis setzen zu müssen, dass seit zwei Tagen, seitdem Hauptmann Doggâr die Festung gen Süden verlassen hat, alles seine gewohnten Gänge geht.“
Mit dem tiefen Atemzug der Erleichterung beendete Marret seinen Satz.
„Seid gedankt, Graf Marret. Dieses Wissen erreicht uns seit zwei Tagen aus Fellsane. Wartet beim nächsten Kontakt mit einer Neuigkeit auf, sonst werden wir dies tun.“
Marret benötigte einige Atemzüge, die Tragweite des Gehörten zu erfassen. Schreckensbleich beugte er sich über die Schale, raunte ihr ein „Gewiss, gewiss!“ in die Tiefe. Erst als er sich wieder aufrichtete, erkannte er, dass die Lichtbögen verglommen, die Verbindung nicht mehr bestand.

Keuchend und mit schmerzenden Gliedern erreichten die Gardisten um Doggâr gegen die Mittagstunde die Schutzhütte der Dwelg im Reldocgebirge. Auch wenn sie im Kampf erprobt waren, als Reiter viele Stunden im Sattel sitzen konnten, verlangte der Aufstieg von den Männern eine körperliche Strapaze, der sie Tribut zu zollen hatten. Doch Doggâr gestattete nur eine kurze Rast. Heftig trieb er seine Männer weiter, nachdem er selbst sich anhand der hinterlassenen Spuren vergewissert hatte, dass die Gruppe der Rebellen sich geteilt haben musste.
Deutlich erkannte er an geknickten Grashalmen, die sich seit dem Morgen nicht wieder zur normalen Länge aufgerichtet hatten, die eingeschlagenen Richtungen. Sandverschiebungen dort, wo ein ausgleitender Fuß an einer Steinseite abgerutscht war, bestätigten seine Beobachtungen. Eine Gruppe hatte sich gen Süden bewegt, weiter auf Kredân und Xabêr zu. Die andere war nach Westen gegangen, wohl in der Hoffnung, die geheime Brücke zu erreichen, zu benutzen und im Sêma einfallen zu können.
„Auch wir werden uns aufteilen.“
Sein Blick nagelte die Männer an die Wand der Hütte, wo sie sich, ein wenig Ruhe erhoffend, in der Mittagsonne angelehnt hatten.
„Ich werde der Spur den Berg hinauf verfolgen. Ihr folgt der Spur nach Westen. Ihr werdet fortan unter der Weisung Uwlads stehen und ich erwarte einen Rapport mit Erfolgsmeldung spätestens in sieben Tagen im Lager am Fyldân.“
Er rückte seinen ledernen Ranzen zurecht, der, wie die der anderen Gardisten, Proviant und wärmere Kleidung neben einer Decke enthielt.
„Erfolgsmeldung bedeutet …,“, damit sah er Uwlad hart an, „die Meldung, dass alle Rebellen dem Höchsten die Füße waschen. Verstanden?!“
„Aye!“
Salutierend knallten Uwlads Hacken zusammen, entließen ein leichtes Grollen in die klare Luft der Bergwelt.
„In sieben Tagen!“
Damit wandte der Hauptmann sich um, ging mit großen Schritten über die Wiese des Plateaus und erreichte schnell die ersten Felsspitzen.

Kaum war die mächtige Gestalt des Hauptmannes zwischen den Felsen nicht mehr auszumachen, als Uwlad einem anderen Gardisten schweigend zunickte. Froh erkannte er in dem Blick des anderen dessen Zugeständnis. Sein antwortendes Nicken löste Dankbarkeit aus.
„Lasst euch nicht von den Felsläusen beißen!“
Lachend glitt Uwlads Blick über die Gesichter der Kameraden.
„In sieben Tagen.“
Damit hob er grüßend die Hand, wandte sich auf dem Absatz um und folgte der Spur seines Hauptmanns. Hinter dem ersten Felsen verharrte er kurz, schaute aus der Deckung heraus in die ansteigende Welt des Reldocs. Zwischen den Felsen erschien immer wieder der schwarze Rücken seines Vorgesetzten. Diesen in den kommenden Tagen zu verfolgen, ohne dass er es bemerkte, diesen in einem günstigen Moment zu überfallen und ihm die scharfe Klinge seines Dolches in den Leib zu drücken, stellte sich als Uwlads Ziel dar.

Seit sich die Gruppen am Morgen voneinander verabschiedet hatten, glitten Phroners Gedanken und seine geistige Suche immer wieder an den Höhenzügen des Reldocs entlang, versuchte er Andras und seine Begleiter zu finden. Die Schatten hatten die Gruppe um Radh bereits früh erreicht. Kaum hatten sie zur Mittagstunde gerastet, als in der Schlucht, der sie folgten, bereits die Abenddämmerung Einzug gehalten hatte. Ein wenig wehmütig gedachte der Steppenreiter den anderen, die sicherlich noch für eine lange Zeit des Tages die wärmenden Sonnenstrahlen genießen konnten. Bedachte er allerdings die warnenden Worte des Dwelg, die Natur würde sich nach dem Sonnenfest in den Höhen des Gebirgszuges neu ordnen müssen, erwartete Phroner eher wilde Stürme und Eiseskälte in den Höhen. Ein Schütteln rann über seinen Leib, ohne dass er sich dessen erwehren konnte. Dann ertrug er doch lieber schattige Kühle. Von der Düsternis der Schlucht erfuhr er ohnehin nur durch die Äußerungen der ansonsten gut Sehenden.
Als Radh jetzt die Freunde zur Rast anhielt, gewahr der Blinde bald wieder die Nähe des jungen Barden.
„Wir haben die Brücke erreicht.“
Phroner lauschte der Stimmung hinter den Worten nach. Er hätte Erleichterung bei dem Freund vermutet, spürte allerdings eher die Schwere von Wehmut. Leise, mehr zu sich selber, mehr, seine eigenen Gedanken und Gefühle zu bestätigen, nickte Phroner langsam.
'Die meisten Erinnerungen gleichen Gewitterwolken. Sie verdunkeln den Himmel, bringen Trübsal, Unruhe und Schrecken.'
Schon einige Tage befanden sie sich auf dem Weg. Immer wieder hatte Radh die Nähe zu ihm gesucht, hatte der junge Mann sich mit ihm besprochen. Immer wieder tauchte die Frage auf, das Rechte zu tun. Radh hatte diese eigene Frage immer wieder mit einem „Ja“ beantwortet. Sollten seine Zweifel zu groß geworden sein, hatte er die Möglichkeit gehabt, sich zu besinnen, die Welle der Rebellion abebben zu lassen und sich wieder seiner Bardentätigkeit zuwenden zu können. Doch jetzt, im Angesicht dieses hölzernen Steges, schien die Ernsthaftigkeit seines Tuns dem Barden unausweichlich vor Augen geführt zu werden.
'Überqueren wir jene Brücke, wird es kein Zurück mehr geben.'
Die seit Beginn der Reise gefühlte Verbindung zwischen ihm und Radh wurde durch das vorsichtige Nähern des Ferrud unterbrochen. Kelrik meldete sein Annähern mit einem vernehmlichen Räuspern, das von den Wänden der Schlucht tausendfach weitergereicht wurde.
„Verzeiht die Störung. Ich habe mir die Schlucht genauer angesehen. Der sandige Boden weist dieselben Verwirbelungen auf wie wir sie im Moor entdeckt haben, nachdem die Schwarzen Reiter uns aufgesucht hatten. Auch hier zeigen die Ränder die Aufhäufungen von Sand und Gestrüpp. Dies ist zweifelsfrei die von den Schwarzen verwendete Passage.“
Phroner hätte der Bestätigung durch den Ferrud nicht bedurft. Er hegte keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Dwelg, auch wenn der Aufenthalt in Gnarphat eine seltsame Stimmung hinterlassen hatte. Doch dafür zeichnete sich offensichtlich Hodur weniger verantwortlich als der Älteste der Dwelgstadt.
„Seltsam allerdings“, nachdenklich fuhr Kelrik in seinen Ausführungen fort, “dass zum Ende der Schlucht massives Gestein den Zugang verwehrt.“
„Wir Dwelg haben eine Erklärung dafür gefunden.“
Hodur hatte sich der nachdenklichen Versammlung genähert und die letzten Worte Kelriks gehört.
„Wir müssen als Felsbewohner seit Urzeiten große Massen von einem Ort zum anderen bewegen und haben verschiedene Techniken entwickelt. Obschon …“
Phroner spürte, dass sich seine Mundwinkel zu einem Grinsen verschoben. Wie es die Gewohnheit dieses älteren Dwelg zu sein schien, unterbrach er sich immer wieder gern selbst in seinen Ausführungen, fuhr sich nachdenklich mit einer Hand über Kinn und Wangen, was erneut ein schabendes Geräusch verursachte, das gleich ihren Stimmen durch die Schlucht echote.
„Obschon ich immer den Eindruck hatte, die neuen Errungenschaften fielen uns zu wie Einflüsterungen des Höchsten. Als zu Zeiten der Altvordern häufiger Höhlen zusammen brachen, mussten Gesteinsmassen entfernt werden und der Älteste erklärte das Prinzip eines Flaschenzuges. Ihr habt unser Stadttor gesehen.“
„Nur die Öffnung in einem Felswall.“
Phroner hörte den Wunsch, etwas schier Unfassbares durch den Dwelg zu erfahren, in den Worten Radhs mitschwingen.
„Die Tore befinden sich an der Innenseite des Walls. Sie werden kaum wahrgenommen, da sie ebenfalls aus Fels geschlagen sind.“
„Und wie wollt ihr diese Tore verschließen, sollte euch Gefahr drohen?“
Ungläubigkeit trug Kelriks Worte. Beinahe konnte Phroner sehen, dass der Ferrud sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte.
„Wenn Gestein mit höchster Genauigkeit bearbeitet wurde ist es möglich, ein sehr hohes Gewicht mit wenig Muskelkraft über einen geringen Wasserfilm gleiten zu lassen.“
Das raue Brummen ferrud’scher Ungläubigkeit unterbrach Hodur.
„An der Innenseite des Felsenwalls verläuft eine schmale, seichte Wasserrinne, nach oben hin abgedeckt um Verschmutzungen zu verhindern. Sollten wir angegriffen werden, könnten zwei Dwelg alleine die Abdeckung abnehmen und die Tore leicht mit einer Hand vor die Öffnung schieben.“
Ein zischender Laut ließ Phroner leicht zusammenfahren. Die Zweifel des Ferrud entwichen seinem Inneren durch zusammengepresste Lippen.
„Und du meinst, dasselbe Verfahren verwenden die Schwarzen Reiter den Zugang zur Brücke hinter einer beweglichen Felswand geheim zu halten?“
Die Frage Radhs, die Möglichkeit nicht nur in Betracht zu ziehen, sondern sogar als anwendbar anzusehen, freute nicht nur Phroner, wie er augenblicklich am Klang der Stimme des Dwelg erkennen sollte.
„Ganz genau.“
'Und wieder verliert ein Mysterium seinen atemraubenden Zauber!'
Phroner suchte in seinem Inneren eine Frage, zu der diese neu gewonnene Erkenntnis eine Antwort liefern konnte. Da er keine fand, zuckte er unbewusst mit den Schultern.
'Und wenn diese Neuigkeiten lediglich einem Dwelg dienen, das Gefühl von Wichtigkeit zu erhalten, können sie nicht unnütz sein.'
Das warme Gefühl von Zufriedenheit dehnte sich in seinem Innern aus, ließ ihn sich gegen die kalte Felswand lehnen und tief durchatmen.
„Wir werden hier rasten und die Nacht abwarten. Ich weiß nicht, ob die Querung der Brücke des Nachts unbeobachteter erfolgen kann als über Tag. Ich weiß nicht, wie weit sich die Brücke über die Schlucht zieht, wie viel Zeit wir für die Querung benötigen werden.“
Wie in tiefer Erschöpfung vernahm Phroner ein schweres Ausatmen an seiner Seite. Einen kleinen Trost zu vermitteln legte er seine Hand auf den Arm des nachdenklichen Barden.
„Ich weiß so wenig!“
 
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Kommentare  

Schön, dass du dich aus der Versenkung getraut hast ;)
Ich danke für deine lieben Worte und hoffe sehr, dass mein "Grand Finale" dich nicht enttäuschen wird :)


Shannon O'Hara (05.12.2012)

Nun muss ich dir endlich auch mal einen Kommentar zukommen lassen. Ich schäme mich schon richtig, denn dauernd lese ich Kapitel für Kapitel deines tollen Romans und muckse mich nicht. Sehr gelungene interessante Charaktere, eine schöne fantastische Welt und eine völlig neuartige Idee. Von Anfang an spannend und rätselhaft. Jetzt wird allmählich der Schleier der Geheimnisse gelüftet. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht, denn ich glaube, du hast noch einige Überraschungen parat.

Marco Polo (04.12.2012)

Vielen Dank

Shannon O'Hara (03.12.2012)

Endlich weiß ich, wer Doggar in Wahrheit ist, aber ich weiß noch immer nicht, welche Rolle er wirklich in deiner Story spielt. Interessant auch, dass er sich, seit die Burg auch Callas zuhause geworden war, erheblich verändert haben soll. Das Mädchen wird immer misteriöser. Toll auch die Brücke, die hinter einer Felswand verschwinden kann. Rundum wieder sehr spannend!

Else08 (02.12.2012)

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