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Besuch des Märchenlandes

Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester · Für Kinder
Ein vorwitziger Sonnenstrahl hatte sich, durch einen Spalt der Vorhänge, in das Zimmer der vierjährigen Gina geschlichen und kitzelte ihre Nase. Ganz langsam öffnete Gina ihre Augen, es war schon Morgen. Ein seltsames Licht erhellte ihr Zimmer, sie sprang aus dem Bett, neugierig lief sie zum Fenster, schob die Vorhänge zur Seite und blickte staunend in eine Glitzerwelt. Ihr Atem ließ die Scheiben beschlagen, so dass die Welt draußen wie hinter einem Nebel verschwand.
„Mama“, rief sie und stürmte in Richtung Kinderzimmertür, doch noch bevor sie diese erreichte, fiel ihr Blick auf die Hausschuhe, die vor ihrem Bett standen, „Gina, wo sind deine Puschen?“, hörte sie in Gedanken die mahnende Stimme ihrer Mutter, schnell lief sie zurück um in ihre Hausschuh zu schlüpfen. Ihr kleines Herz klopfte aufgeregt und sie atmete schwer.
„Mama, schnell...“, Gina stockte, das Elternschlafzimmer war leer. Dann zur Oma, sie rannte die Treppe hinunter, durch den kleinen Flur zu Omas Zimmer, öffnet leise die Tür.
„Oma, wach auf!“
Kleine warme Hände rüttelten die Oma, die noch traumversunken in ihrem Bett lag, wach.
„Oma, schnell, schau!“
Gina hüpfte vor Aufregung zwischen Bett und Fenster, dessen Vorhänge noch zugezogen waren, hin und her.
„Ja, was um alles in der Welt ist denn los?“, knurrte die Oma.
„Da hat einer die Tür aufgelassen“, wisperte Gina geheimnisvoll während sie zum Fenster zeigte.
„Das ist ein Fenster“, stelle die Oma miesmutig klar, und „das hat keiner aufgelassen, denn hier kommt ja gar keiner rein.“
Doch Gina ließ sich nicht abwimmeln. Sie krabbelte auf Opas Betthälfte, die die Oma immer noch bezog, obwohl der Opa schon vor einiger Zeit <>, wie Oma es nannte. Aber Niemand konnte Gina sagen, wo genau er hin gegangen war, und warum er die Oma oder Gina nicht mitgenommen hatte. Irgendwann werde ich zu ihm gehen, hatte die Oma gemeint und als Gina wissen wollte, woher sie denn dann den Weg wüsste, erklärte sie ihr, dass der Wind ihn ihr zuflüstern würde, wenn es so weit wäre. Gerne hätte Gina gewusst, woher man denn weiß, wann es so weit ist, aber ihre Mutter hatte dieses Gespräch damals unterbrochen.
Nun saß sie also auf Opas Bett, noch immer lag sein Geruch in diesem Zimmer, der ihr ein Gefühl von Geborgenheit gab. Lächelnd sah sie die Oma an und bat: „Komm doch, steh auf.“
Noch müde drehte diese sich um.
„Ach, warum denn?“
„Ja, weil...jemand die Tür aufgelassen hat.“ Kam es fast weinerlich über Ginas Lippen.
Sie hüpfte vom Bett schob die Vorhänge ein Stück beiseite und blickte noch mal staunend in die weiße Welt.
„Der Opa hat gesagt, manchmal, nur manchmal vergisst jemand am Abend die Tür zuzumachen und dann kommt das Märchenland zu uns. Weißt du das nicht mehr?“
Nun war die Oma wach und lächelte in sich hinein, natürlich wusste sie das noch. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er damals mit Gina auf dem Schoß im Schaukelstuhl saß und ihr aus dem Märchenbuch vorlas. Wie immer hatte die Lütte sich an ihn gekuschelt und seiner Stimme gelauscht. Vor Müdigkeit fielen ihr die Augen zu, obwohl sie sich sehr anstrengte nicht einzuschlafen, denn sie liebte die Geschichte von der Eisprinzessin und den geschenkten Wünschen.
„Wir lesen morgen weiter“, hatte der Opa gemeint und als Gina das Buch aufgeschlagen liegen lassen wollte erklärte er: „Das geht nicht, schau die Märchenbücher sind wie eine Tür zum Märchenland und wenn wir sie offen lassen, dann kann es passieren, dass die Märchenwelt zu uns kommt, und sich keiner mehr auskennt. Dann muss man ganz schnell die Eisprinzessin um Verzeihung bitten, und so die Tür wieder schließen, damit die Märchen nicht verloren gehen.“ Gina hatte das Märchenbuch ganz fest zu geklappt und ihn mit großen Augen angesehen, genauso wie sie nun die Oma ansah.
„Ich komm schon“, sagte diese, zog sich ihre Hausschuhe an während ein Erinnerungslächeln über ihr Gesicht huschte. Ihr war beinah, als würde sie den zärtlichen Atem ihres Mannes spüren, als sie, nun gemeinsam mit Gina, die Vorhänge zur Seite zogen.
Die Welt draußen glitzerte wie ein geschliffener Diamant. Über Nacht war die Temperatur gefallen, die Feuchtigkeit der vergangenen Tage hatte sich in Eis gewandelt. Eine dünne Eisschicht überzog die blattlosen Zweige der Bäume, jeden Grashalm, deren Grün nun merkwürdig fern wirkte, ja sogar den Terrassenboden; malte fantasievolle Gebilde auf die umher liegenden Blätter. Das Sonnenlicht ergoss sich von einem strahlendblauen Himmel, der schien als hätte ihn jemand über Nacht rein gewaschen, in dem Garten hinter dem Haus. Ihre Strahlen brachen sich in der Eisschicht und ließen so kleine Glitzerregenbögen entstehen. Ein wahrhaft märchenhafter Anblick.
„Das war Gevatter Frost mit seinem Gefolge“, stelle die Oma trocken fest, so als ob es das Normalste der Welt wäre. Gina nickte, nichts anderes hatte sie erwartet.
„Wir müssen die Eisprinzessin um Verzeihung bitten, sofort... sonst gehen alle Märchen verloren.“
Die Kleine klang verzweifelt.
„Gehen wir sie suchen“, meinte die Oma, nahm entschlossen ihre Hand, und so marschierten sie hinaus. Kalte trockene Luft, die sie bis in die Spitzen ihrer Lungen sogen, empfing sie. Gina rutschte auf der Eisschicht ein wenig aus und kichert: “Oma, pass auf... du musst so machen“, krähte sie vergnügt, während sie erklärend ihre Arme zum Balancieren von sich streckte. Die Oma machte es ihr gleich, streckte die Arme von sich und schlurfte ganz vorsichtig über den Terrassenboden. Gina hatte bereits den Rasen erreicht und hüpfte nun zu den Sträuchern.
„Eisprinzessin? Bist du hier? Bitte verzeih, da hat jemand nicht aufgepasst“, flüsterte sie. Nichts tat sich.
„Wo ist sie?“, wollte sie von der Oma wissen, doch die zuckte nur die Schultern.
„Vielleicht bei den Bäumen.“
Gina lief zu den Apfelbäumen, die das Grundstück einsäumten. Als die Oma sie erreichte, stieß sie gegen einen herunterhängenden Zweig, durch die Berührung zersprang die Eisschicht und kleine Eiskristalle, rieselten auf Ginas Haar.
„Wie ein Sternenregen“, staunte sie. Nun schüttelte die Oma absichtlich noch mal an den Zweigen, und beide beobachteten lächelnd die herabfallenden Flöckchen, die sich auf den ausgestreckten Händen von Gina in Wasser verwandelten.
„Ob sie das war?“
Gina sah gespannt in Omas Gesicht deren Wangen, die in der letzten Zeit so blass, wie weiße Wattewölkchen an einem Frühlingshimmel waren, nun rot glühten.
„Ich weiß nicht, versuchen wir es da vorne noch mal“, schlug die Oma vor.

Ginas Mutter Sofia stand währenddessen in der Küche und bereitete das Frühstück vor.
Das helle Sonnenlicht hatte den dunklen Schatten, der sich seit dem Tod ihres Vaters, auch auf ihre Seele gelegt hatte, für den Moment verscheucht. Ein leises Lied summend deckte sie den Tisch und schaute aus dem Fenster. Dort sah sie die Beiden, wie sie sich an den Händen festhaltend nun über den Rasen liefen. In ihren hellen Nachthemden, und den offenen langen Haaren, die in den Sonnenstrahlen wie silber- und goldenfarbenen Wellen über ihre Schultern fluteten, sahen sie aus, wie zwei Engel, die aus dem Himmel gefallen waren. Sofie stand für einen Moment still und nahm dies Märchenbild in sich auf. Dann lief sie in das Schlafzimmer ihrer Eltern, hier schien die Zeit sich langsamer zu drehen, jedes Mal wenn sie über die Schwelle trat fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen, das Schutz und Trost in den Armen der Mutter fand.

„Mama?“
Die Stimme klang staunend und so liebevoll, dass die Oma sich beinah erschrocken umsah. Es war schon so lange her, dass man sie so nannte, meistens sagten alle „Oma“, und stets war ein leicht vorwurfsvoller Ton in der Stimme. Doch diesmal war es „Mama“, wie früher. In Sekundenschnelle entführte dies Wort sie in eine längst vergangen Zeit, als sie noch jung war und für ihre Kinder die Tür zum Märchenland öffnet. Sie sah zur Terrassentür, da stand ihr kleines Mädchen, das nun erwachsen war. Doch für einen Moment erschloss sich auch ihr wieder diese Welt voller Wunder, dass konnte sie ganz deutlich am Leuchten ihrer Augen sehen.
„Frühstück ist fertig“, verkündete sie fröhlich.
Kein, was machst du da? oder komm rein, du wirst dich noch erkälten, einfach nur Frühstück ist fertig. Lächelnd ging sie ihr entgegen, öffnete die Arme und schlüpfte in den gehaltenen Morgenmantel, der sich kuschelig warm anfühlte, genau so wie die Umarmung und der zarte Kuss auf die Wange, „Mama, ich hab dich lieb.“
Freudig hüpfte ihr Herz hin und her, sie wollte diesen Moment festhalten und öffnete mit ihrem Lächeln noch einmal, die unbedacht zugeschlagene Tür zu ihren Seelenräumen, damit er seinen Platz finden konnte.
Die nun immer mehr an Kraft gewinnende Sonne taute die dünne Eisschicht auf, so dass rundherum alles tropfte und ein kleines Tropfkonzert entstand, dem Mutter und Tochter eng aneinander gekuschelt lauschten.
„Gina, du hast sie gefunden“, rief Sofia ihrer Tochter zu, „komm frühstücken.“
Die Eiskristalle zerschmolzen, in den Pfützen spiegelte sich noch einmal das Märchenland, dann zog es sich zurück.

©Angela Redeker
 
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